Dialog mit Bibliotheken - nbn

DIALOG
MIT BIBLIOTHEKEN
2016/2
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28. Jahrgang
ISSN 0936-1138
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Wir freuen uns auf das persönliche Gespräch mit Ihnen und erwarten Sie am Stand mit
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Für Fragen
| zur Gemeinsamen Normdatei (GND),
| zur Ablieferung von Netzpublikationen,
| zu den bibliografischen Angeboten und Diensten,
| zum Lizenzierungsservice Vergriffene Werke und
| zu Resource Description and Access (RDA)
stehen Ihnen von Mittwoch bis Sonntag weitere Fachkolleginnen und Fachkollegen zur
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Impressum
Dialog mit Bibliotheken
ISSN 0936-1138
Herausgeberin: Deutsche Nationalbibliothek, vertreten durch die Generaldirektorin Dr. Elisabeth Niggemann
Redaktion/Anzeigen: Esther Frey (verantwortlich), Telefon +49-69-1525-1006, [email protected]
Anschrift der Herausgeberin, der verantwortlichen Redakteurin und der für den Anzeigenteil Verantwortlichen:
Deutsche Nationalbibliothek, Adickesallee 1, 60322 Frankfurt am Main
Erscheinungsweise: Zweimal jährlich. Jahresabonnement: EUR 15,00. Einzelexemplar: EUR 7,50
Satz und Druck: Druckmedienzentrum Gotha GmbH, 99867 Gotha
Diese Publikation wurde auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier im Sinne ISO 9706 gedruckt.
Inhalt
Dr. Elisabeth Niggemann
3
EDITORIAL
FORUM
Renate Behrens
4
»Was mache ich mit der Haarlocke?« – RDA und
Spezialbestände
Mathias Manecke
8
Museum im Netz
Christian Schütz
16
Projekt »ISSN-Integration«
Jessica Hubrich, Hans-Jörg Lieder
22
Die Zeitschriftendatenbank und die Digitalisierung historischer Zeitungen in Deutschland
Dr. Dirk Weisbrod
29
Forschungsdaten in Dissertationen
Dr. Eric W. Steinhauer
31
10 Jahre Pflichtablieferung von Netzpublikationen – Eine Baustelle wird besichtigt
Dr. Sören Flachowsky
37
Der gelbe Stern in der Wissenschaft
Dr. Christian Rau
45
Die Deutsche Bücherei und der Fall Carl Diesch
Dr. Stephanie Jacobs
50
Fellowship Internationales Museum
Ida Kandler
54
Schmonzetten, Schmäh und Parodie
ZEITPUNKTE
Susanne Oehlschläger
57
Digitales Gedächtnis
Annett Koschnick
60
Das Leipziger Bibliotheksgebäude wird 100
Julia Rinck
61
Leibnix – Das Universalgenie im Mosaik
Jesko Bender
64
Was ist eigentlich Heimat?
Annett Koschnick
66
Veranstaltungsvorschau
Barbara Fischer
69
Nachgelesen – Ein Veranstaltungsrückblick
NOTIZEN
72
Personelles
74
Neue Veröffentlichungen
76
Fachveranstaltung
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
1
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Ziel des Freundes- und Förderkreises ist es, die Deutsche
Nationalbibliothek in ihren vielfältigen Aufgaben und ihrem Kulturprogramm finanziell und ideell zu fördern. Mit Ihrem Engagement
unterstützen Sie die Bibliothek dabei, Ausstellungen, Lesungen,
Tagungen, Publikationen und pädagogische Angebote zu
realisieren. Weitere wichtige Aufgaben sind die Bewahrung der
Bestände und die Erweiterung von besonderen Sammlungen.
Wir freuen uns auf Sie und informieren Sie gerne über mögliche
Formen der Mitgliedschaft.
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Editorial
Im Herbst 2016 schaut der Dialog auf mehrere Facetten unserer Vergangenheit: Von den Medien intensiv wahrgenommen, jährte sich die Einweihung
unseres Leipziger Gründungsgebäudes am 2. September zum 100sten Mal.
In nur vier Jahren nach Gründung der Bibliothek wurde es am Deutschen
Platz in Leipzig errichtet.
Einen anderen Blick in die Vergangenheit werfen die beiden Historiker,
die sich mit der Geschichte der Deutschen Nationalbibliothek befassen. In
Foto: Deutsche Nationalbibliothek,
einem Beitrag erlaubt ein Einzelschicksal einen Einblick in die Praxis der
Stephan Jockel
Bibliothekspolitik der Sowjetischen Besatzungszone. Im Beitrag über das
»Erkundungsreferat« des Propagandaministeriums dagegen wird deutlich,
wie sehr die bibliografische Zuarbeit der Bibliothekarinnen und Bibliothekare der Deutschen Nationalbibliothek zur Ausgrenzung der Juden aus dem Kulturleben und der Vernichtung ihrer kulturellen Leistungen
beitrug. Ein Kapitel, dessen Aufarbeitung uns ganz besonders wichtig ist.
Zehn Jahre sind vergangen, seit der Bundestag das Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek (DNBG)
beschlossen und damit den Sammelauftrag auf Netzpublikationen ausgeweitet hat. Regelungen zum
Pflichtexemplarrecht auf Länderebene folgten in unterschiedlichen Ausprägungen – und gingen zum Teil
weiter als das DNBG. Der auf Bibliotheksrecht spezialisierte Jurist und Bibliothekar Eric W. Steinhauer
besichtigt für uns die »Baustelle« der Pflichtablieferung von Netzpublikationen. In einem Workshopbericht
lesen Sie außerdem, was mit Repräsentanten aus Bibliotheken, Archiven und Museen, aus Verlagen und der
Musikindustrie sowie mit Vertreterinnen der Beauftragten für Kultur und Medien zum Thema Sammelkriterien erarbeitet wurde.
Im Bestand des Deutschen Musikarchivs finden sich eine ganze Reihe historischer Tonträger mit Kabarett- und Satireaufnahmen aus den 1900er- bis 1930er-Jahren. Sketche, Couplets, aber auch humoristische
Mundartdichtung und Parodien zogen damals von den Varietébühnen in die guten Stuben einer breiten
Bevölkerungsschicht ein. Mit der Online-Kollektion »Schmonzetten, Schmäh und Parodie« bringen wir
diese Bestände des Deutschen Musikarchivs wieder zu Gehör.
Ein wesentlicher Aspekt unserer täglichen Arbeit sind Daten. Seien es Spezialbestände und ihre Beschreibung in RDA, oder Forschungsdaten in Dissertationen, sei es die Arbeit der nationalen ISSN-Agentur, oder
der Zeitschriftendatenbank. Zu diesen Themen berichten wir in der vorliegenden Ausgabe ebenso, wie über
Leibniz im Comicmagazin Mosaik – und im Herbst im Deutschen Buch- und Schriftmuseum –, über das
Fellowship Internationales Museum und einen Workshop des Deutschen Exilarchivs 1933 – 1945 mit Schülerinnen und Schülern einer 10. Klasse über die Frage »Was ist eigentlich Heimat?«.
Zu Führungen und literarischen Veranstaltungen, auch im Rahmen der Frankfurter Buchmesse, laden wir Sie
herzlich in unsere Häuser in Leipzig und Frankfurt am Main ein. Am Messestand (Halle 4.2 | Stand K83)
bieten wir Informationen zu unseren Dienstleistungen und Projekten ebenso wie Beratungen für Ablieferungspflichtige an. Wir freuen uns auf das persönliche Gespräch mit Ihnen!
Elisabeth Niggemann
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
3
Forum
Renate Behrens
»Was mache ich mit der Haarlocke?« –
RDA und Spezialbestände
RDA ist im deutschsprachigen
Raum eingeführt
Nach der erfolgreichen Einführung des Standards Resource Description and Access (RDA)
im deutschsprachigen Raum Ende 2015 kann die
Bibliotheksgemeinschaft in einen produktiven Arbeitsalltag zurückfinden. Die Ausarbeitung zahlreicher Anwendungsrichtlinien und Arbeitsanweisungen, die Durchführung umfangreicher Schulungen
und weiterer Unterstützungsangebote sollten hierfür ausreichend gewesen sein.
Allerdings konnten mit dem ersten Umstieg auf
RDA nur die zu den Partnern des RDA-Projekts
gehörenden Bibliotheken versorgt werden. Das
sind in der Regel die in Bibliotheksverbünden organisierten Bibliotheken und die Nationalbibliotheken im D-A-CH-Raum. Dem gegenüber stehen
Bereiche wie der der öffentlichen Bibliotheken, die
erst mit der Umstellung begonnen haben sowie
Institutionen und Materialarten, die beim ersten
Implementierungsschritt gar nicht berücksichtigt
werden konnten. Dies geschah aus praktischen Erwägungen: Die Beschäftigung mit Sondermaterialien hätte den gesetzten Zeitrahmen gesprengt und
die Implementierung der RDA deutlich verzögert.
Erschließung von Sondermaterialien
Mit dieser pragmatischen Lösung steht der deutschsprachige Raum nicht alleine da. Alle Implementierenden sind bislang so verfahren und haben die
Behandlung von Sondermaterialien hinten angestellt. Das führt zu dem berechtigten Vorwurf an
die RDA Community, dass sich bislang überwiegend Bibliotheken damit beschäftigen, obwohl der
Standard für Gedächtnisinstitutionen aller Varianten gedacht ist. Dies wird bei näherer Betrachtung
jedoch verständlich.
4
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Eines der wichtigsten Ziele bei der Entwicklung der
RDA war es, einen Standard zu schaffen, der für
Bibliotheken ebenso geeignet sein sollte, wie für
Museen und Archive. Noch sind die RDA stark
bibliothekslastig und kommen bislang fast nur in
Bibliotheken zum Einsatz. Ein weiterer grundlegender Ansatz der RDA ist es, für alle Materialarten
geeignet zu sein. Auch dieser Ansatz hält in der
praktischen Anwendung nicht stand, wurde aber
wesentlich stringenter umgesetzt. Durch das konsequente Vermeiden von Regelwerken neben dem
Regelwerk, wie es beispielsweise die Regeln für
die alphabetische Katalogisierung (RAK) kannten
(RAK-Musik, RAK-NBM), konnte bislang eine Aufsplitterung des Standards vermieden werden. Im
deutschsprachigen Raum fand dies nicht immer
Anklang, wurde doch mit einer Tradition gebrochen.
Wie dieser Ansatz durchsetzbar ist, werden die
praktischen Erfahrungen zeigen.1
Neuorientierung der RDA-Gremien
Die oben aufgezeigten Schwächen sind den die
RDA betreuenden Gremien (RDA Board und RDA
Steering Committee, RSC) nur allzu bekannt und
wurden vor rund zwei Jahren erstmals auch deutlich
benannt. So betonte Simon Edwards, der Vorsitzende des RDA Board bereits in seinem Aufruf zur
Neuorientierung der RDA-Gremien »Reflect different communities in line with the strategic plan
(e.g. cultural/heritage sector)« verbunden mit der
Forderung nach »Expanding use [of RDA] by the
wider cultural sector«. Dieser Aufruf wurde in den
folgenden Monaten konkretisiert und hat seinen
Niederschlag auch in der Organisationsstruktur
der RDA-Gremien gefunden. In beiden Gremien
werden in der nahen Zukunft Sitze für Mitglieder
aus Kultureinrichtungen außerhalb der Bibliotheken vergeben werden. Im Gegenzug wurden die
RDA sind bibliothekslastig
Forum
Mitgliedschaften der Bibliotheken reduziert und es
gibt nur noch eine Vertretung pro Kontinent, beispielsweise die European Regional Representation.
Öffnung der RDA-Gemeinschaft
im deutschsprachigen Raum
Ausweitung auf
weitere Kultureinrichtungen
Suchbarkeit der
Bestände
Analog zu dieser Entwicklung hat sich auch der
Standardisierungsausschuss, bislang das Entscheidungsgremium für Bibliotheken im deutschsprachigen Raum, dazu entschieden, künftig Mitglieder
aus weiteren Kultureinrichtungen aufzunehmen.
Diese Entwicklung soll noch in diesem Jahr beschlossen und voraussichtlich im Laufe des nächsten Jahres umgesetzt werden.
Es mag verwundern, dass auch in diesem Zusammenhang die Bibliotheken und ihre Gremien den Anstoß
geben. Dies ist dem praktischen Bedarf innerhalb vieler Bibliotheken geschuldet. In fast jeder Bibliothek
gibt es Sondermaterialien. Dies mögen Fotos sein,
Briefsammlungen oder auch Objekte aller Art.
Mit der Umstellung auf RDA müssen auch diese
Bestände regelgerecht erschlossen werden. Leider ist
dies oft nicht möglich. Ist eine Haarlocke ein Werk
und wer ist der geistige Schöpfer dieses Werks? Fragen, die sich alle, die mit Sondermaterialen und besonders mit den nichtpublizierten Ressourcen beschäftigen, früher oder später stellen müssen. In der
Vergangenheit haben sich die Bibliotheken weltweit
überwiegend dafür entschieden, solche Bestände
nicht nach RDA zu erschließen. Wenn man nun
aber einen weiteren sehr wichtigen Ansatz der RDA
betrachtet, nämlich die Priorisierung der Suchbarkeit der Bestände, dann wird hier der Mangel sofort
deutlich. Wer sich mit der Dichterin Annette von
Droste-Hülshoff beschäftige, will selbstverständlich
ihre Werke und deren Manifestationen finden, aber
vielleicht auch die im Fürstenhäusle in Meersburg
aufbewahrte Haarlocke.
Was möchten Archive und
Museen?
Der Handlungsbedarf von Seiten der Bibliotheken ist also klar. Wie aber sieht es mit den Archiven, Museen und weiteren Kultureinrichtungen
aus? Hier stellt sich die Sachlage grundsätzlich
anders dar. Ein dem Standardisierungsausschuss
vergleichbares Gremium gibt es nicht. Manche Institutionen handeln zudem mehr individuell und
ganz auf ihren konkreten Bedarf bezogen. Für die
Erschließung und Erfassung von Metadaten gibt
es gut ausgearbeitete Standards, die in der Praxis
erfolgreich angewendet werden und die genau auf
die Ressourcen in diesen Bereichen zugeschnitten
sind. Darüber hinaus dient die Erschließung beispielsweise im Bereich der Unikate hauptsächlich
der Inventarisierung und ein Datentausch über die
eigene Institution hinaus findet in der Regel gar
nicht statt.
Warum nun also einen Standard wie RDA anwenden, der zu dem auf den ersten Blick ungenügend
für die eigenen Bedürfnisse ist? Eine sehr berechtigte Frage. Dementsprechend war das Interesse der
Archiv- und Museumsgemeinschaft zu Beginn der
Implementierungsphase der RDA im deutschsprachigen Raum eher zurückhaltend. Hinzu kommt,
dass auch in diesen Bereichen die Ressourcen
knapp sind und auf das Wesentliche konzentriert
werden müssen.
Folglich war der erste Ansatz aus dem RDA-Projekt
im D-A-CH-Raum nicht besonders erfolgreich. Der
Versuch, Vertreterinnen und Vertreter verschiedener
Kultureinrichtungen an einen Tisch zu bringen
und eine gemeinsame Arbeit am Standard RDA zu
initiieren wurde höflich verfolgt, führte jedoch zunächst nicht zu einem Ergebnis. Das Interesse war
jedoch geweckt, und im Bereich der Archive und
Museen gibt es genügend Kolleginnen und Kollegen, die dem Ansatz von Sichtbarkeit und Austauschbarkeit von Metadaten der eigenen Bestände
auf der internationalen Ebene sehr nahe stehen und
eine Zusammenarbeit mit den Bibliotheken in diesem Bereich anstreben.
Die Reduzierung auf ein konkretes Projekt brachte
hier den Durchbruch. Im Bereich der Literaturarchive im deutschsprachigen Raum werden seit vielen
Jahren die Regeln für Nachlässe und Autographen
(RNA) als ein sehr praktikables und überschaubares Regelwerk für die Erschließung eingesetzt, welche allerdings einer Aktualisierung bedürfen und
gleichzeitig mit dem Standard RDA kompatibel
sein sollen. Verantwortlich für dieses Regelwerk
ist die Koop Litera, ein Kompetenz-Netzwerk für
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Erste Erfolge
bei der Zusammenarbeit
5
Forum
Arbeitsgruppe
RNA/RDA
Weitere
Sonderarbeitsgruppen
6
Nachlässe in Deutschland, Österreich, der Schweiz
und Luxemburg.
Gemeinsam mit der Arbeitsstelle für Standardisierung in der Deutschen Nationalbibliothek wurde
von Vertreterinnen und Vertretern der Koop Litera
im Jahr 2014 eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die
diesen Ansatz umsetzt und dem Standardisierungsausschuss zuarbeitet. Geleitet wird die Gruppe von
Kolleginnen und Kollegen der Staatsbibliothek zu
Berlin und des österreichischen und des schweizerischen Literaturarchivs. Kern der Arbeitsgruppe sind
Expertinnen und Experten aus ganz unterschiedlichen Bereichen.
Neben der Aktualisierung der RNA wird in dieser
Arbeitsgruppe erstmals ein neuer Ansatz verfolgt.
Bislang war es angedacht, Regelungen, die für bislang in den RDA noch nicht berücksichtigte Ressourcen benötigt werden, direkt in den Standard
einzubringen. Dies erschien zunächst richtig und
konsequent, sollten die RDA doch ein Regelwerk
für alle Kultureinrichtungen und alle Materialien
sein. In der Praxis hat sich dies allerdings als nicht
zielführend erwiesen. Zum einen würde der Standard RDA aufgeschwemmt und das bereits schon
jetzt sehr umfangreiche Regelwerk sehr unübersichtlich werden. Zum anderen sind viele Kultureinrichtungen nur dann bereit sich in die RDA-Anwendergemeinschaft zu begeben, wenn ihre eigenen
Standards mit den RDA kompatibel gemacht werden, das heißt Regelungen, die in ihren Bereichen
passen, werden aus den RDA übernommen; für Regelungen die darüber hinaus benötigt werden, bleiben ihre eigenen Standards erhalten. Im konkreten
Beispiel der RNA wird dies so aussehen, dass alle
bereits in den RDA geregelten Sachverhalte aus den
RNA gestrichen und in die RDA Verweise auf RNA
eingebracht werden für die Regelungen, die darüber
hinaus benötigt werden.
Mit genau diesem Ansatz hat sich auch bereits
die Expertengruppe Sacherschließung, eine Arbeitsgruppe des Standardisierungsausschusses, beschäftigt. Sie wird bis Ende 2016 eine an den RDA
überarbeitete Fassung der Regeln für den Schlagwortkatalog (RSWK) vorlegen.
Nach dem erfolgreichen Start der Arbeitsgruppe
RNA/RDA wurden weitere Sonderarbeitsgruppen,
die dem Standardisierungsausschuss zuarbeiten,
eingerichtet. Dies sind die AG Alte Drucke, die be-
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
reits Arbeitsergebnisse in Form von Anwendungsrichtlinien und Schulungsunterlagen vorgelegt
hat, sowie die neue AG Bild, die erst im Herbst
dieses Jahres ihre Arbeit aufnimmt und sich mit
der Erschließung von Bildmaterial (vom Foto bis
zum Ölgemälde) beschäftigen wird. Eine weitere
Arbeitsgruppe zu mittelalterlichen Handschriften
ist geplant.
All diese Gruppen sind mit Fachkolleginnen und
Fachkollegen aus Institutionen besetzt, die über
den Kreis der Bibliotheken hinausgehen.
Weiterentwicklung der RDA
Ein Anfang im deutschsprachigen Raum ist gemacht
und die begonnenen Arbeiten werden die Expertinnen und Experten in den nächsten Jahren beschäftigen. Ziel der Arbeitsgruppen für Sondermaterialien ist es aber nicht nur, Lösungen für die konkrete
Arbeit in den Institutionen zu finden. Diese kurzfristigen Lösungen werden für die praktische Arbeit
gebraucht, gerade für Institutionen, die Ressourcen
sowohl aus dem Bibliotheks- als auch aus dem Archivbereich sowie Objekte und nichtpublizierte Ressourcen in ihren Beständen halten und erschließen
möchten. Darüber hinaus ist es den Kolleginnen
und Kollegen aber ein großes Anliegen, an der Weiterentwicklung der RDA selbst mitzuarbeiten und
verstärkt die Bedürfnisse der europäischen Community einzubringen. Die strategische Neuausrichtung, die das RDA Board zurzeit umsetzt, fordert
auch genau dies, indem es die wirkliche Internationalisierung des Standards als eine der Prioritäten für
die nächsten Jahre formuliert hat.
Was aber bedeutet dieser bislang nur theoretische
Ansatz in der Praxis? Eine Öffnung des Standards
RDA für weitere Kultureinrichtungen kann keine
Einbahnstraße sein. Die Vorreiterrolle der Bibliotheken muss in eine wirkliche Partnerschaft münden. Das bedeutet, die RDA selbst müssen flexibler
werden. Es ist bereits jetzt klar, dass eine Einszu-eins-Adaption für Archive und Museen nicht
infrage kommt. Die im deutschsprachigen Raum
begonnene Anpassung und Verlinkung bestehender Standards aus diesen Bereichen mit dem RDA
Toolkit ist beispielsweise ein Ansatz in diese Richtung. Auch die geplante Neustrukturierung des
Forum
Prinzipienbasierter Grundlagenstandard
RDA Toolkit lässt hier auf Veränderungen hoffen
und könnte eine große Chance für die Einbindung
weiterer Kultureinrichtungen sein.
Grundvoraussetzung ist hierfür Offenheit und
ein Blick auf das Wesentliche mit gleichzeitiger
Akzeptanz für Veränderungen, auch wenn diese
Veränderungen mit dem Verlust von Traditionen
einhergehen. Auch wird das bereits in den RDA
festgelegte Prinzip des »Cataloguers Judgement«
weiter ausgebaut werden müssen, und der Standard
RDA muss sich noch mehr zu einem Prinzipienbasierten Grundlagenstandard entwickeln, der die
Basis für Spezialregelwerke darstellt.
Ein überaus wichtiger Ansatz bei der Einbeziehung
von Kultureinrichtungen über den Kreis der Bibliotheken hinaus ist die Verwendung von Normdaten
bei der Erschließung. Hier besteht ein allgemeiner
Konsens und es gibt bereits einige Beispiele im
deutschsprachigen Raum für die praktische Verwendung von Normdaten aus der Gemeinsamen
Normdatei (GND). So werden beispielsweise in der
Wikipedia, in der Datenbank des Bildarchiv Foto
Marburg und in metagrid.ch, einer Online-Vernetzung von Materialien zur Schweizer Geschichte,
Daten mittels Normdatenverlinkungen verbunden.
Da der Bereich der Normdaten in den RDA gut
ausgearbeitet ist und bereits über die GND in
praktische Anwendungen eingeflossen ist, besteht
Grund zu Optimismus für eine weitere Zusammenarbeit der Kultureinrichtungen auch im Hinblick
auf die bibliografischen Daten. Die Bereitschaft zu
Flexibilität und gegenseitiger Offenheit für Veränderungen bei allen Beteiligten ist hierfür jedoch die
Grundvoraussetzung.
Die Nutzerinnen und Nutzer unserer Kultureinrichtungen sind hier sicherlich schon einen Schritt
weiter. Für sie ist es bei der Recherche zu einem
Thema wichtig, dass auch eine Haarlocke, ein
Briefwechsel, ein Buch oder ein Hörspiel gefunden
werden. Dies sollte uns zu denken geben und uns
Ansporn sein.
Weitere Zusammenarbeit bei
Normdaten
Anmerkungen
1 Siehe auch Manecke, Mathias: Museum im Netz, Seiten 8 bis 15
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
7
Forum
Mathias Manecke
Museum im Netz
Integration musealer Daten ins
Portal der Deutschen Nationalbibliothek und erste Erfahrungen mit
der RDA-nahen Erschließung im
Deutschen Buch- und Schriftmuseum
Einleitung
Die Bestände des Deutschen Buch- und Schriftmuseums (DBSM) speisen sich aus dem Erbe verschiedener Vorgängerinstitutionen, dem Erwerb
geschlossener Sammlungen und der laufenden
Ergänzung der großen, das Gesicht des DBSM
prägenden Sammlungen. Schon bei den wichtigsten Vorgängerinstitutionen1 wurde Wert auf ein
möglichst breites Sammelspektrum gelegt, um die
Buch-, Schrift- und Papiergeschichte in all ihren
Facetten anhand von archivalischen Quellen dokumentieren, durch museale Sachzeugen veranschaulichen und durch geeignete Fachliteratur erschließen
zu können. Neben den großen Buchsammlungen
finden sich in den Sammlungen die verschiedensten Materialien: Archivalien, Buntpapiere, Exlibris,
Grafiken, Maschinen, Plakate, Schreibgeräte, Wasserzeichen-Belege, Werkzeuge usw.2
Erschließungsregeln
Vier Sparten mit
ihren Erschließungstraditionen
8
Mit dieser heterogenen Gemengelage kann und
muss sich das DBSM bei seiner Erschließung gleich
an vier Sparten orientieren:
– den Bibliotheken als Verwalter von publiziertem
Wissen,
– den Museen, Denkmalämtern etc. als Verwalter
von musealem Kulturgut,
– den Verwaltern von kommunalem, staatlichem
und kirchlichem Archivgut,
– den Verwaltern von Nachlässen und Autografen.
Alle vier Bereiche folgen unterschiedlichen Erschließungsregeln. Wenn auch immer wieder betont und
auch von den anderen Bereichen weitgehend anerkannt wird, dass das Bibliothekswesen in Hinsicht
auf Erschließungsregelwerke die längsten Traditio-
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
nen aufzuweisen hat, haben auch die anderen Bereiche eigene, mehr oder weniger stark ausgeprägte
Systeme von Regeln, die jeweils die Vergleichbarkeit
der Erschließungsleistungen und letztlich unter anderem den Austausch von Erschließungsergebnissen zum Ziel haben. Bei genauerer Betrachtung
stellt sich aber heraus, dass jeder Bereich andere
Sachverhalte für regelungswürdig hält.
Viele Museen folgen dem SPECTRUM UK Museum Documentation Standard3. Dieser regelt allerdings weniger, welche einzelnen Attribute bei der
Erschließung wie erfasst werden sollen, sondern
vielmehr, welche Arbeitsschritte bei der Museumsdokumentation durchlaufen und welche Standards
dabei eingehalten werden sollen. Es ist also eher ein
Regelwerk für den Prozess der Inventarisierung, Erschließung, Verwendung und Verwaltung von Kulturgut. Dabei wird jedem Prozess-Schritt eine »Liste der Informationseinheiten« zugeordnet, die am
ehesten mit den Attributen zu vergleichen sind, die
wir in Bibliotheksdatenbanken kennen. Auch die
Definition von Entitäten und Relationen zwischen
diesen Entitäten ist dem Standard nicht fremd.
Der Standard ist relativ neu4. Eine alte Tradition
der musealen Erschließungspraxis ist hingegen die
Forderung, alle museale Erschließung an den fünf
W-Fragen (wer, wann, wo, was, wie) auszurichten.
So entstand bereits in den 1970er-Jahren unter der
Federführung von Dr. Christof Wolters das prototypische Dokumentationssystem »Musdok«. Das
zugrunde liegende Datenmodell orientierte sich
bereits an den W-Fragen. »Dieses Konzept findet
sich im CIDOC CRM (ISO 21127:2006)5 wieder
und hat mit der Verabschiedung von Lido als internationalem Publikationsformat für Museumsdaten
Einzug in die Museumspraxis gefunden.«6
Archive haben einen völlig anderen Ansatz. Aus
deren Sicht sind Regelungen zu den zu erfassenden
Attributen eher Nebensache. Das zentrale Erschließungsinstrument ist das Findbuch. Im Wesentlichen kennt dieses nur ganz wenige Attribute (Signatur, Betreff [Inhaltsangabe], Laufzeit, Umfang und
Benutzungsbedingungen). Hauptaugenmerk der
Internationale
museale Erschließungsstandards
Archivarische
Erschließung
Forum
Erschließung in
Literatur- und
Kunstarchiven
Bibliothekarische
Erschließung
archivarischen Erschließungsregeln ist, einheitliche
Verfahren bei der Abbildung von Verwaltungsstrukturen zu schaffen. Denn Ziel jeder archivarischen
Erschließung ist es, anhand der vorliegenden Dokumente einen Verwaltungsvorgang nachvollziehbar zu dokumentieren. Das Dokument an sich ist
mit den wenigen genannten Attributen hinreichend
erschlossen, allerdings nur, wenn es sinnvoll einer
Verwaltungsstruktur zugeordnet wurde. Dabei geht
das Archivwesen davon aus, dass solche Strukturen immer ähnlich aufgebaut, aber dennoch von
Archiv zu Archiv verschieden sind. Die Archive
haben sich deshalb mit den Encoded Archival Description (EAD)7 einen Standard zur Kodierung
von Online-Findbüchern geschaffen, mit dessen
Hilfe es möglich ist, beliebige Findbuch- und damit Verwaltungsstrukturen auf immer gleiche Art
und Weise abzubilden. Aus Sicht des Bibliothekswesens wird hier also vor allem geregelt, wie die
Teil-Ganzes-Beziehungen von Bestandsstrukturen
abzubilden sind.
Die Literatur- und Kunstarchive haben ein ähnliches Anliegen. Auch diese versuchen, ihre Bestände
(in der Regel Nachlässe) so zu erschließen, dass deren Tektonik nachvollziehbar wird. Als eigenständige Gruppe wird sie hier lediglich deshalb erwähnt,
weil sie im Gegensatz zu den Verwaltungs-Archiven
davon ausgeht, dass Gliederungen von Nachlässen eben doch meist dem gleichen Schema folgen
können. Dieses Schema gibt das dafür geschaffene
Regelwerk, die Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen (RNA)8 vor.
In den Erschließungsregeln der Bibliothekswelt
spielen Anforderung zur Gliederung von Beständen und deren Abbildung in Katalogen so gut
wie keine Rolle. Weder die RAK (Regeln für die
alphabetische Katalogisierung) noch die RDA (Resource Description and Access) kennen Regeln,
wie ein Bestand gegliedert und wie eine Signatur
aufgebaut werden sollte. Die Zuordnung zu einem Bestand wird durch die Signatur ausgedrückt.
Mehr ist nicht zu regeln. Zwar gibt es in bibliotheksorientierten Datenbanken diverse Felder zur
Erschließung derartiger Sachverhalte (Signatur, Altsignatur, Standort, Inventarnummer etc.), aber eine
Abbildung von Teil-Ganzes-Beziehungen im Sinne
der EAD oder der RNA findet nicht statt. Vielmehr
stehen bibliografische Hierarchien im Vordergrund:
Ist eine Publikation selbstständig oder innerhalb einer anderen erschienen? Besteht sie nur aus einem
oder aus mehreren Teilen? Wenn es mehrere Teile
sind, haben diese einen geplanten Abschluss oder
erscheinen sie fortlaufend? Mit den Functional Requirements for Bibliographic Records (FRBR)9 ist
eine weitere Art von bibliografischen Beziehungen
im Fokus der bibliothekarischen Regelwerke: In
welchen Manifestationen ist das vorliegende Werk
materialisiert worden und welche Exemplare davon
stehen der Bibliothek zur Verfügung?
Bisherige Erschließung im DBSM
Jede, der seit der Gründung des Museums 1884
zusammengetragenen Sammlungen, betont einen
Aspekt der jeweils enthaltenen Ressourcen. So
dokumentiert die Sammlung der Stiftung Buchkunst Jahr für Jahr, welche der für den Wettbewerb
»Schönste Bücher« eingereichten Druckwerke aus
welchem Grund ausgezeichnet wurden. Aspekte wie
Buch- oder Einbandgestaltung oder die Auswahl
der verwendeten Schriften spielen hier die entscheidende Rolle und müssen entsprechend erschlossen
werden. Auch bei der Einband- oder den Wasserzeichensammlungen stehen herstellungstechnische
Fragestellungen und nicht der Inhalt der Ressource
im Vordergrund. Von großem Interesse ist für
das medienhistorisch und gattungsübergreifend
arbeitende Museum die Verzahnung zwischen den
Sammlungen. Welches Objekt hängt mit welchem
wie und warum zusammen?
Um den unterschiedlichsten Zugriffsanforderungen gerecht werden zu können, entwickelte sich im
DBSM im Laufe der Zeit ein sehr komplexes, kaum
noch zu überschauendes System von Katalogen,
Findbüchern und diversen Registern.
Diese Vielfalt konnte bei der Umstellung auf die datenbankgestützte Erschließung endlich zugunsten
einer Standardisierung aufgegeben werden. Deshalb
wurde Anfang der 1990er-Jahre ein Integriertes Erschließungssystem für das DBSM geschaffen, dessen Kern zwei allegro-Datenbanken (für die Buchbestände einerseits und für die nichtpublizierten
Ressourcen andererseits) darstellten.
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Integriertes
Erschließungssystem im DBSM
9
Forum
Integrierte Erschließung
»Hybrid-System«
Zwar wurden seitdem alle Sammlungen weitgehend einheitlich erschlossen, allerdings blieb die
Erschließung publizierter und nichtpublizierter
Ressourcen weiterhin getrennt und die oben skizzierten Querbezüge konnten nur verbal zum Ausdruck gebracht, nicht aber durch Links navigierbar
gemacht werden. Seit Jahren wird die Integration
der gesamten Erschließungsprozesse in das Erschließungssystem (PICA ILTIS) der Deutschen
Nationalbibliothek (DNB) betrieben.
Aber archivalische, museologische und bibliothekarische Erschließung so unterschiedlicher Materialarten in einem einzigen System – geht das überhaupt?
Das Schlüsselwort lautet »Hybrid-System«. Zunächst werden für die Erschließung eines Objektes
alle Datenfelder nach den Regeln zur bibliografischen Beschreibung erfasst. Darüber hinaus werden
für die museologische Erschließung notwendige
Datenelemente im gleichen Metadatensatz in zusätzlichen Feldern ergänzt. Ferner wird der Exemplarsatz des Objekts in die Bestandsstruktur navigierbar eingeordnet. Dazu waren einige strukturelle
Erweiterungen in PICA ILTIS notwendig.
Neue Satzarten
Im PICA-System sind die Satzarten an der Publikationsart orientiert (A = Printpublikationen,
B = A/V-Medien, E = Elektronische Ressourcen auf
Datenträgern usw.). Als für das Deutsche Exilarchiv
1933 – 1945 (DEA) ein eigener Datenbestand eingerichtet wurde, wurde dort dieses Prinzip zugunsten
einer RNA-kompatiblen Datenstruktur verlassen.
Die Satzarten orientieren sich im DEA-Bestand an
den RNA-Bestandsgliederungsgruppen. Auf den
ersten Blick erscheint das unproblematisch, da ja
auch die RNA im Wesentlichen nach Materialarten
gliedert. Aber schon bei der ersten Gruppe wird
ein gravierendes Problem sichtbar: Eine Printpublikation im Bestand des DEA wird derzeit, wenn sie
als Belegexemplar in einem Nachlass enthalten ist,
der Satzart H zugeordnet. Gibt es in einer anderen Sammlung ein weiteres Exemplar, so ist hier
natürlich Satzart A richtig. In einem Gesamtdaten-
10
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
bestand ist das ein unauflösbarer Konflikt. Da für
das DBSM einerseits kein eigener Datenbestand
eingerichtet werden sollte, andererseits für die Materialarten, die sowohl im DEA als auch im DBSM
vorhanden sind, die gleichen Satzarten verwendet
werden sollen, musste dieser Konflikt gelöst werden. Dies geschah zu Gunsten einer konsequenten Orientierung der Satzarten an den Publikations- beziehungsweise Materialarten. Unabhängig
davon, zu welchem Bestand ein Brief gehört: Der
diesen beschreibende Metadatensatz bekommt im
Hauptbestand die Satzart D usw. Damit war auch
die Aufteilung von mehrere Objekte umfassenden
Bestandseinheiten in Nachlässe (Satzart Q) und
Sammlungen (Satzart V) obsolet. Im Hauptbestand
gibt es nur noch die Satzart Q. Diese ist für jede
Form nichtpublizierter Zusammenstellungen (also
Bestand, Nachlass, Archiv, Bestandsgruppe, Konvolut, Faszikel etc.) gleichermaßen zu verwenden.
Für Materialarten, die bisher weder im Hauptnoch im DEA-Datenbestand Berücksichtigung
fanden (Maschinen, Werkzeuge, Originalgrafiken,
Wasserzeichenbelege, Buntpapiermuster usw.) wurden zwei neue Satzarten geschaffen:
– P = Bildliche Darstellungen, Text- und Bildträger
– X = Sonstige Sachzeugen
Damit können alle Metadaten des DBSM eindeutig einer Satzart zugeordnet werden. Bei Konflikten
(Wasserzeichenbeleg ist gleichzeitig ein Brief usw.)
wird nach dem Sammlungszweck entschieden.
Eine weitere Satzart wurde geschaffen, um Nachlässe und Archivbestände in ihrer Bestandstektonik
abbilden und in der Bestandsstruktur navigierend
recherchieren zu können. Für jede Gliederungsstufe kann ein eigener Datensatz angelegt werden,
in dem die Notation und die Benennung dieses
Sammlungsteiles und die ihm jeweils über- und
direkt untergeordneten Sammlungsteile als Links
gespeichert sind. Strukturell war für diese Anforderung am besten die Normsatz-Struktur (Satzart T) geeignet. Deshalb wurde dafür die Satzart Tq
eingerichtet.
Eine Anforderung der musealen Erschließung besteht darin, die Metadaten sowohl nach formalen
als auch nach inhaltlichen Kriterien genormten
Fachsprachen zuordnen zu können. Über die GND
hinaus werden verschiedene Fachsystematiken angewendet, welche im Portal für die navigierende
Integration in den
Gesamtbestand
Zwei neue
Satzarten
Bestandstektonik
für Nachlässe und
Archivbestände
Forum
Suche angeboten werden. Zu diesem Zweck wurde
die Satzart Tk analog zur Tq-Struktur ausgebaut.
Neue Datenfelder
Strukturanpassungen
Neben einigen für die Dokumentation musealer
Nutzungsprozesse wichtigen Datenfeldern (RechteManagement und Dokumentation von Geschäftsgängen usw.) wurden neue Felder vor allem für folgende Inhalte benötigt:
– Über den Sachtitel hinausgehende Benennung
der Objekte (Felder 4019 und 6819)
Die Notwendigkeit sei am Beispiel des ersten gedruckten Buches erläutert: Sein Sachtitel heißt
formal »Biblia latina«. Jeder Laie kennt und sucht
es allerdings als »Gutenberg-Bibel«. In InkunabelKatalogen wird meist die Zeilenzahl 42 als Unterscheidungskriterium von anderen Inkunabel-Bibeln ergänzt.10 Die Erfassung solcher zusätzlichen
Benennungen ist für nichtpublizierte Ressourcen
mindestens ebenso wichtig.
– Bezüge zu Normdaten, die nicht durch die bibliothekarische Formal- beziehungsweise Inhaltserschließung abgedeckt werden (Felder 559X und
680X).
Dabei kann es sich um Beziehungen zu allen Entitäten handeln. Zu Personen und Körperschaften:
Buchbinder, (Einband-)Gestalter, (Exlibris-)Künstler, Provenienz, Hersteller, Drucker, Verleger etc.;
zu Orten: Herstellungsort, Fundort, Verwendungsort usw.; zu Sachschlagworten: Material, Technik,
Gestaltungsmerkmal, Objektgattung etc.; zu Werken: Sammlung, Provenienzmerkmal usw.
Die Beziehungen können auch lediglich für ein
einzelnes Exemplar gelten. Dann müssen sie auf
Exemplarebene erfasst werden – eine Anforderung,
die mit den derzeitigen Strukturen von PICA ILTIS
nur rudimentär umgesetzt werden kann. So können beispielsweise in den Feldern 680X Angaben
zu den Vorbesitzern erfasst und nach ihnen kann
auch gesucht werden, im Portal angezeigt werden
sie hingegen (noch) nicht.
– Über das Erscheinungsjahr hinausgehende zeitliche Einordnung (Feld 1110)
Nichtpublizierte Ressourcen haben kein Erscheinungsjahr. Für diese kann und muss aber der Zeitpunkt (Zeitraum) des Entstehens (der Herstellung)
erfasst werden. Darüber hinaus können weitere zeitliche Einordnungen wichtig sein. Für diese Zwecke
wurde das wiederholbare Feld 1110 geschaffen, in
dem auch exakte Datumsangaben maschinenlesbar
gespeichert werden können. Durch einen Code
kann der jeweilige Typ der zeitlichen Einordnung
(Erscheinen, Entstehung, Fund, Verwendung etc.)
festgelegt werden.
– Kodierung formaler und inhaltlicher Sachverhalte (Felder 1130, 1131, 1132)
Eine Reihe von Metadatensätzen könnte mit gleicher Berechtigung mehreren Satzarten zugeordnet
werden. Ein Brief, der als Wasserzeichen-Beleg die
Satzart P (Text-/Bild-Träger) und nicht die Satzart
D (Korrespondenz) erhält, soll aber dennoch als
Brief gefunden werden können usw. Für diesen
Zweck wurden die Felder 1131 (Kodierung von inhaltlichen Gattungen wie Brief, Fotografie, Lebensdokument usw.)11 und 1132 (formale Kodierungen
wie Aufzeichnungstechnik, äußere Form, Erscheinungsweise etc.) geschaffen.
Für diverse buchgeschichtliche Fragestellungen
ist es hilfreich, die Metadaten danach zu filtern,
welche Eigenschaften das Trägermaterial hat. Ist es
Papier, Pergament oder ein anderer Stoff? Wenn es
Papier ist, ist dieses handgeschöpft oder maschinell
hergestellt? Zur Kodierung dieser Sachverhalte wurde Feld 1130 eingerichtet.
All diese Strukturanpassungen können nicht nur
für einen speziellen Bestand, sondern institutionenübergreifend fruchtbar angewendet werden.
Institutionenübergreifende
Anwendung
Neue Sucheinstiege
Wichtigstes Ziel aller Strukturanpassungen ist es, die
Auffindbarkeit der Daten zu erhöhen. Zu diesem
Zweck wurden die Gestaltungsmerkmale (Felder
559X und 680X) als die buchgeschichtlich zentralen Merkmale in den Gesamtstichwort-Index aufgenommen und auch in der Expertensuche Sucheinstiege über diese Felder eingerichtet.
Das Feld 1110 (Zeitliche Einordnung) wird schon
jetzt für den Filter nach Erscheinungs-/Entstehungsjahren genutzt. Sein ganzes Potenzial wird es
erst entfalten können, wenn auch eine Bereichssuche über die zeitlichen Einordnungen (verwendet
zwischen 1830 und 1870) und die Suche nach ex-
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
11
Forum
Erstmals Suche
über Bestandsstrukturen
akten Daten (entstanden am 7. März 1768) möglich wird. Die Struktur des Feldes sieht das bereits
vor. Bisher fehlt es allerdings an einer geeigneten
Indexierung im Portal.
Den größten Gewinn dürften unsere Nutzerinnen
und Nutzer aus der jetzt möglichen navigierenden
Suche über unsere Bestandsstrukturen ziehen. Sind
sie einmal (durch Zufall oder durch gezielte Suche) auf eine unserer Bestandsgruppen gestoßen,
so können sie über die Unter- beziehungsweise
Überordnungen durch unsere Bestände virtuell
»spazieren gehen«. Dass sie dabei sehr viel Neues
entdecken, zeigen die in letzter Zeit vermehrten
Nutzeranfragen, die sich genau auf solche Recherchewege beziehen.
RDA-nahe Erschließung
Offene Fragen
12
Mit den FRBR stand spätestens seit Veröffentlichung
der deutschen Ausgabe im Jahr 2009 ein theoretisches Konzept zur Verfügung, welches zwar an der
Erschließung publizierter Ressourcen ausgerichtet
ist, von Anfang an aber umfassender angelegt war.
Folgerichtig war der Versuch einer Harmonisierung
zwischen bibliothekarischen und museologischen
Erschließungskonzepten, die in den FRBRoo (oo =
object oriented)12 mündete, einer Erweiterung der
FRBR auf der Basis des CIDOC CRM. Die FRBRoo
betonen vor allem die Prozesse, denen die Ressourcen unterworfen sind. Die RDA wurden
zwar auf Basis der FRBR entwickelt, blieben aber
von dieser Weiterentwicklung bedauerlicherweise
weitgehend unberührt. Dennoch erheben auch
sie den Anspruch, über publizierte Ressourcen
hinaus auch für Archiv- und Museumsgut anwendbar zu sein.
Somit schien mit dem Umstieg auf die Erschließung nach RDA zum 1. Oktober 2015 für das
DBSM endlich die einmalige Chance gekommen
zu sein, die Metadaten zu allen Ressourcen nicht
nur in einer einzigen Datenbank zu halten, sondern
diese auch nach einem einheitlichen Regelwerk zu
erschließen.
Für die folgenden Aspekte war Skepsis geboten:
– Ist das Konzept, Metadaten zu publizierten Ressourcen nach den Beschreibungsebenen Werk,
Expression, Manifestation und Exemplar zu glie-
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
dern, auf nichtpublizierte Ressourcen übertragbar?
– Die RDA regeln nicht, wie Bestandsstrukturen
navigierbar abgebildet werden sollen. Solche
Strukturen werden aber für die Darstellung beispielsweise von Nachlässen gebraucht.
– Der RDA-Umstieg erfolgt in einem weitgehend
unveränderten System, in welchem ein Teil der
funktionalen Anforderungen (noch) nicht umgesetzt werden kann. Insbesondere die für die
museale Erschließung wichtigen Beziehungen auf
Exemplarebene sind mit dem momentan eingesetzten System nicht abbildbar.
Im Zuge der RDA-Einführung in der DNB haben
sich die Sammlungsbetreuerinnen und Sammlungsbetreuer des DBSM im November 2015 nach der
obligatorischen RDA-Schulung in einem 14-tägigen
Workshop mit diesen Themen ausführlich beschäftigt. Ziel war es, die Möglichkeiten und Grenzen
der RDA-Anwendung auszuloten und ein Verfahren
zu entwickeln, wie die DBSM-Ressourcen zukünftig
in der für die RDA optimierten PICA-ILTIS-Umgebung erschlossen werden sollen. Das Ergebnis des
Workshops lässt sich unter dem Terminus »RDAnahe Erschließung« zusammenfassen: Alle Datenelemente, für die es RDA-Regelungen gibt, werden
nach diesen Regeln erfasst. Für die anderen Elemente gelten weiter die bewährten Erschließungsregeln. Bei Konflikten wird danach entschieden,
ob das jeweilige Element zugriffs- beziehungsweise
austauschrelevant ist (dann zieht RDA vor) oder
nicht (dann wird die bisherige Praxis beibehalten).
Ergebnisse des Workshops13
Die Zuordnung der Beschreibungselemente zu den
vier Ebenen der FRBR-Gruppe 1 kann auch für
nichtpublizierte Ressourcen hilfreich sein, bedarf
aber noch grundsätzlicher Überlegungen.14
Ein besonderes Problemfeld stellen die Zusammenstellungen dar. Erstaunlicherweise gibt es für
den zentralen Begriff »Zusammenstellung« keinen
Eintrag im RDA-Glossar. Aus den Regelwerkstexten
wird aber klar, dass unter einer Zusammenstellung
von Werken eine Manifestation15 zu verstehen ist,
in der mehr als ein Werk materialisiert wurde. Wenn
die RDA auch auf nichtpublizierte Ressourcen ange-
Workshop
»RDA-nahe
Erschließung«
Forum
Zuordnung von
»Zusammenstellungen«
Beziehungskennzeichen
wendet werden sollen, ist ein wichtiger Unterschied
zu publizierten Zusammenstellungen zu beachten:
Bei publizierten Zusammenstellungen sind mehrere
Werke in einer Manifestation vereint worden. Bei
nichtpublizierten Zusammenstellungen wurden
hingegen jeweils einzelne Exemplare verschiedener
Werke zu einer Sammlung zusammengetragen. Für
die Erschließung hat diese Unterscheidung eine
zentrale Bedeutung: Bei der Erschließung von geschlossenen Sammlungen (wie Nachlässen oder Firmen- beziehungsweise Vereinsarchiven oder auch
thematischen Konvoluten) wird es niemals gelingen, jeweils die einzelne Ressource (den einzelnen
Brief, die einzelne Akte, das einzelne Sammelstück
etc.) zu erschließen. Die Erschließung ganzer Konvolute durch einen einzigen Datensatz ist die Regel.
Bedeutende Einzelstücke werden hingegen je nach
Personalressource durch eine eigene Aufnahme herausgehoben und dann mit der Beschreibung der
Zusammenstellung verknüpft. Dies kann nur auf
Exemplar-Ebene erfolgen. Zwar kennen die RDA
solche Beziehungen auf Exemplar-Ebene, diese
können aber durch die gegenwärtige Datenstruktur
nicht sauber abgebildet werden.
Eine Reihe von für das DBSM wichtigen Beziehungen sind nach RDA nicht geregelt: Briefe, die in
einer gedruckten Zusammenstellung editiert sind,
Illustrationen zu denen künstlerische Originale
vorliegen etc. Wollte man solche Beziehungen den
FRBR-Entitäten entsprechend strukturieren, wäre
das nicht alltagstauglich. Beziehungen wie »abgebildet in«, »editiert in« oder »nachgewiesen in«
müssen einfach abgebildet werden können.
Betrachtet man hingegen eines der bedeutendsten Denkmale der deutschen Schriftkultur, die
Manessische Liederhandschrift, so wird deutlich,
dass auch komplexe Strukturen abgebildet werden
müssen. Die Handschrift vereint 1.340 Texte von
140 Autoren und 138 Miniaturen von insgesamt
vier Künstlern. Sowohl die Texte als auch die Bilder
sind in verschiedenen Expressionen und Manifestationen immer wieder neu publiziert worden.16 Bei
einer solch bedeutenden Zusammenstellung lohnt
sich die hierarchische Beschreibung nach RDA, die
es ermöglicht, sowohl die Texte als auch die Miniaturen in einzelnen Datensätzen zu erfassen, diese
jeweils mit einzelnen Normsätzen für die Werkebene zu verknüpfen und so letztere auch für die Ver-
knüpfung mit den diversen Reproduktionen nutzbar zu machen. Obwohl der Text-Anteil deutlich
größer ist, bringt es einen Gewinn, die Miniaturen
nicht als illustrierendes Beiwerk, sondern gleichrangig zu behandeln.
Streng genommen ist jede Manifestation eine Zusammenstellung verschiedener geistiger Schöpfungen. Selbst ein Roman kommt nicht ohne Layout
und ohne Gestaltung des Buchumschlags in die
Welt. Wir können diese geistigen Schöpfungen vernachlässigen und ihre Schöpfer zu Mitwirkenden
an der Manifestation erklären, weil klar ist, welche
Schöpfung im Fokus des Interesses liegt. Allerdings
hängt genau das vom Blickwinkel ab. Wurde der
Roman in die Sammlung der Stiftung Buchkunst
aufgenommen, dann deshalb, weil das Layout genau dieser Ausgabe im Wettbewerb ausgezeichnet
wurde. Das gleiche gilt auch für alle anderen Mitwirkenden und für alle Bestandteile der Ressource
(die Übersetzung, die künstlerische, eventuell originalgrafische Beigabe, den Einband, das Exlibris, die
Wasserzeichen usw.). Je nach Betrachtungswinkel
sind sie entweder »Beiwerk« oder gleichberechtigte Werke mit eigenen geistigen Schöpfern. Beides
kann in unserem System RDA-gerecht abgebildet
werden und gleichberechtigt nebeneinander stehen.17
Allerdings wechselt mit dem Perspektivwechsel
auch die Art der Beziehung zu den Personen beziehungsweise Körperschaften, welche durch die im
Anhang I aufgelisteten Beziehungskennzeichen ausgedrückt werden sollen. Insgesamt erweist sich der
Anhang I als zu starr, um den Anforderungen aller
Kultureinrichtungen gerecht werden zu können.
Der »Zusammenstellende« ist beispielsweise definiert als eine Person beziehungsweise Körperschaft,
»die durch … Zusammentragen … von Daten und
Informationen usw. für die Schaffung eines neuen
Werks … verantwortlich ist.« Ausdrücklich verwiesen wird auf den »Herausgeber«, der zu verwenden
ist, wenn mehrere Werke zusammengestellt wurden.
Aber ein Nachlasser ist kein Herausgeber seines
Nachlasses. Hier muss entweder die Definition für
»Zusammenstellender« erweitert oder eine eigene
Beziehungsart »Bestandsbildner« geschaffen werden. Weitere Kandidaten für fehlende Beziehungsarten sind beispielsweise: der »Korrespondenzpartner« (wenn bei einem Briefkonvolut nicht zwischen
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Verknüpfung mit
Normsätzen
Fehlende
Beziehungsarten
13
Forum
RDA bietet
Antworten
14
Adressenten und Adressaten unterschieden werden
kann oder soll) und der »mutmaßliche Verfasser«
(wie auch alle anderen Rollen, die eine Person oder
Körperschaft nur mutmaßlich innehatte). Schon
diese kleine Auflistung zeigt, dass sich die Vorgabe
von abgeschlossenen Listen und der Anspruch, für
alle Sparten nachnutzbar zu sein, widersprechen.
RDA hat eine gute Antwort auf den Konflikt:
»Wenn keiner der … aufgeführten Termini geeignet oder spezifisch genug ist, verwenden Sie einen
anderen prägnanten Terminus«. Benötigt wird ein
Teilfeld, in dem (noch) nicht RDA-gerechte Beziehungskennzeichen abgelegt werden können.
Zum Schluss sei noch auf einige Regelwerksstellen
verwiesen, für die es in den anderen Kulturbereichen (bessere) Alternativen gibt.
Die Bestimmungen in den Kapiteln 2 bis 4 des
Regelwerkes RDA schreiben das Übertragen eines
Elements vor, wie es in der Informationsquelle erscheint. Wird das Element aus einer anderen Quelle ermittelt, kann dies durch […] oder eine Anmerkung kenntlich gemacht werden. (Beispiel fingierter
Titel bei Briefen). Laut RNA §5 sollen Auslassungen und Ergänzungen ebenfalls durch eckige Klammern gekennzeichnet werden. Das bezieht sich hier
aber nicht zwingend auf ein ganzes Element, sondern auf genau den Teil, der ergänzt wurde. Im Beispiel »Brief an [Hans Meier]« oder auch »Brief an
H[ans] M[eier]« wird verdeutlicht, dass die Anrede
Hans Meier im Brief nicht enthalten beziehungsweise abgekürzt ist. Laut RDA ist der Titel, weil
er fingiert ist, entweder im Ganzen oder gar nicht
mit […] zu kennzeichnen. Da Kennzeichnungen
von Auslassungen bei nichtpublizierten Ressourcen sehr häufig sind und die Regeln der RNA auch
in anderen Kulturbereichen etabliert sind, wäre das
Ausweichen auf umständliche Anmerkungen (»Der
Adressat ist im Anschreiben mit ›HM‹ abgekürzt.«)
nicht akzeptabel. Hier sollten nicht die RNA an
die RDA angepasst werden, sondern die RDA an
die RNA.
Zu detailliert sind die RDA-Regeln zur Angabe von
Abmessungen. Einerseits gibt es Vorschriften zur
Rundung, die beispielsweise für Werke der bilden-
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
den Kunst nicht akzeptabel sind (Rundung auf den
vollen Zentimeter, Angabe nur der Höhe). Andererseits sind Maßangaben in Form von Norm-Maßen
), Foolscap usw.)18
(DIN A4, Letter, Kiku-ban (
nicht vorgesehen.
Bei diesen RDA-Abschnitten zeigt sich, dass die
Vielfalt des Sinnvollen zu groß ist, um sie in einem
Regelwerk vollständig abbilden zu können. In Anbetracht der Tatsache, dass die genannten Datenelemente keine Sucheinstiege darstellen, für den
Access19 also keinen Gewinn bringen, sollten diese Regeln generell als Empfehlungen umformuliert
werden, von denen auch abgewichen werden kann.
Gefahr der
Überregulierung
bei RDA
Fazit
Der Workshop und die nun fast einjährige Erschließungspraxis haben gezeigt, dass wir mit der RDAnahen Erschließung auf dem richtigen Weg sind.
Unsere Hybrid-Datensätze sind sehr gut nutzbar.
Die Konflikte mit anderen Regelwerken und Erschließungs-Usancen sind relativ gering. Das FRBRKonzept kann zum Teil gewinnbringend auf nichtpublizierte Ressourcen angewendet werden, ist
zum Teil aber auch viel zu kompliziert und nicht
zielführend. Sollen die Ergebnisse museologischer,
archivalischer und bibliothekarischer Erschließung
in einem gemeinsamen System nebeneinanderstehen und sich gegenseitig befruchten, muss es auch
angesichts der Personalressourcen unbedingt gleichermaßen möglich sein, komplexe Datenstrukturen im Sinne der FRBR zu generieren oder aber
im Zuge einer summarischen Erschließung ganzer
Konvolute, auf eine solche Detailliertheit zu verzichten.
Mittelfristig sollten die RDA so verändert werden,
dass der Ansatz der dahinter liegenden FRBR gestärkt und sie modular aufgebaut sind (und so in
bestimmten Erschließungszusammenhängen einzelne Module gezielt berücksichtigt, aber auch
außer Acht gelassen werden können) und flexibler
auf Veränderungs- und Erweiterungsbedarf reagiert
werden kann.20
Stärke der FRBR
Modularer
Aufbau – flexible
Anwendung
Forum
Anmerkungen
1 Diese waren: Bibliothek und Archiv des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, Königlich-Sächsische Bibliographische Sammlung, Sammlung Künstlerische Drucke der Deutschen Bücherei und Deutsches Papiermuseum
2 Diese bewusst alphabetisch sortierte Liste ließe sich fortsetzen. Auswahl und Reihenfolge sind kein Hinweis auf die Bedeutung der
jeweiligen Gattung.
3 <http://www.registrars-deutschland.de/files/pdfs/spectrum-3-1-de_2013-03-26.pdf>
4 Deutsche Version 2013 erschienen.
5 Comité international pour la documentation (CIDOC) Conceptual Reference Model
<http://www.cidoc-crm.org/>
6 Regine Scheffel: Nachruf auf Dr. Christof Wolters
<http://www.museumsbund.de/fileadmin/fg_doku/dokumente/12/Nachruf_auf_Dr_Christof_Wolters.pdf>
7 <http://de.wikipedia.org/wiki/Encoded_Archival_Description> Die EAD kennen wesentlich mehr Attribute als die hervorgehobenen. Dabei handelt es sich aber vor allem um Attribute, die im Sinne einer DTD dem Layout eines Online-Findbuchs dienen (siehe
<http://www.bundesarchiv.de/imperia/md/content/daofind/1.pdf>).
8 <http://kalliope.staatsbibliothek-berlin.de/verbund/rna_berlin_wien_mastercopy_08_02_2010.pdf>
9 <https://de.wikipedia.org/wiki/Functional_Requirements_for_Bibliographic_Records>
10 Im INKA-Portal beispielsweise so: »Biblia <lat.>. 42zeilig« <http://www.inka.uni-tuebingen.de/?inka=44000179>
11 Dieses Feld ist inzwischen in seiner Funktion stark erweitert worden und hat die ehemals in den Felder 51XX vergebenen Formschlagworte abgelöst.
12 <http://www.ifla.org/files/assets/cataloguing/frbr/frbroo_v2.2.pdf>
13 Eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse findet sich auf <https://wiki.dnb.de/pages/viewpage.action?pageId=115213188>
(Anmeldung erforderlich)
14 Eine ausführliche Diskussion an konkreten Beispielen siehe unter Anmerkung 13.
15 Zu dieser gibt es dann selbstverständlich wieder eine eigene Expressions- und Werk-Ebene.
16 Man denke beispielsweise an das Bild von Walther von der Vogelweide, welches ebenso wie die anderen Miniaturen als SchulbuchIllustration, als Kunstdruck, in verschiedenen Briefmarken-Editionen usw. veröffentlicht wurde.
17 Als Beispiel für die komplexe Struktur sei auf die Beschreibung des Vorsatzpapiers zu »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets
Christoph Rilke« von Rainer Maria Rilke verwiesen (<http://d-nb.info/102106324X>). Zu diesem Vorsatzpapier haben wir die
Originalvorlage in unserer Buntpapiersammlung. (<http://d-nb.info/1081431563>).
18 Siehe <https://de.wikipedia.org/wiki/Papierformat>
19 Für den Zugriff auf die Daten wäre es wichtiger generell vorzugeben, dass Maß- und Datumsangaben zusätzlich so gespeichert
werden sollen, dass sie auch für Bereichssuchen, Sortierung und Filterung herangezogen werden können.
20 Zahlen zur Integration der Metadaten des DBSM: Bisher wurden in PICA folgende Metadaten des DBSM erschlossen beziehungsweise aus Altdaten integriert: Fachliteratur: 73.000 Zeitschriften-Aufsätze, 68.000 selbstständige Werke; Museale Buchbestände:
86.000 Publikationen; Nichtpublizierte Ressourcen; 20.000 Geschäftsrundschreiben; 12.800 Wasserzeichenbelege; 1.100 Grafiken;
1.000 Buntpapieren; 1.500 Archivalien; 150 Buntpapiere; 800 sonstige museale Sachzeugen; Normdaten: 28.500 Personen, 23.800
Körperschaften, 10.000 Bestandsgliederungen, 6.000 Systemstellen, 2.000 sonstige Normdaten.
Noch ausstehend sind: 13.000 mehrbändige Werke; 13 Nachlässe mit insgesamt 13.000 Einzelnachweisen; 4.500 Archivalien; 3.800
Porträts; 3.700 Grafiken; 7.500 sonstige Sachzeugen. Für diese sind die Schnittstellen bereits vorbereitet. Geplant ist, die Integration
in 2016 abzuschließen.
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
15
Forum
Christian Schütz
Projekt »ISSN-Integration«
Ziel des Projektes
»ISSN-Integration«
Pro-aktive Zuteilung einer ISSN
Neuausrichtung des Nationalen
ISSN-Zentrums für Deutschland
ISSN: Kooperatives Arbeiten
in einem internationalen Netzwerk
Das Projekt »ISSN-Integration« startete im Jahr 2011
und hat zum Ziel, den derzeit noch getrennten Daten- und Objektworkflow des bei der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) angesiedelten Nationalen
ISSN-Zentrums unter Nutzung des Datenbestandes
der Zeitschriftendatenbank (ZDB) zu optimieren
und in die Arbeitsabläufe der Abteilung »Erwerbung und Formalerschließung« zu integrieren.
Damit verbunden ist eine Analyse und Optimierung der Arbeitsprozesse des Nationalen ISSN-Zentrums. Das Vorhaben wird im Herbst dieses Jahres
abgeschlossen. Ab dem 1. Dezember 2016 wird
in Deutschland im Zusammenhang mit der Katalogisierung für die Nationalbibliografie jeder neu
erscheinenden fortlaufenden Ressource pro-aktiv
eine ISSN (International Standard Serial Number)
zugeteilt. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die
Erfassungskonventionen und Regeln für die ISSNZuteilung soweit mit den nationalen Erfassungskonventionen harmonisiert wurden, dass die Zuteilung
einer ISSN bei der Katalogisierung einer fortlaufenden Ressource (Zeitschriften, Schriftenreihen) nur
ein weiterer Arbeitsschritt für einen Katalogisierer
in der DNB darstellt.
Das ISSN-Netzwerk besteht aus dem Internationalen ISSN-Zentrum in Paris und aktuell 89 nationalen Zentren, die für die ISSN-Zuteilung in ihrem
jeweiligen Land verantwortlich sind.3
Die Nationalen ISSN-Zentren übermitteln die bei
einer ISSN-Zuteilung erstellten bibliografischen
Metadaten an das ISSN International Register4.
Das ISSN International Register ist die zentrale
Nachweisdatenbank für alle weltweit zugeteilten
ISSN und wird vom Internationalen ISSN-Zentrum
gehostet. Derzeit sind im Register die ISSN und
bibliografischen Metadaten von 1,9 Millionen fortlaufenden Ressourcen nachgewiesen.
Bibliografische Metadaten für das ISSN-Register
müssen den Konventionen der International Standard Bibliographic Description5 (ISBD) entsprechen und im Datenformat MARC 21 vorliegen.
Aussagen zu den Elementen einer bibliografischen
Beschreibung nach ISBD und die Regeln für eine
ISSN-Zuteilung enthält das ISSN-Manual. Die Einführung von RDA hat auch Auswirkungen auf das
ISSN-Manual. So wurden RDA-Elemente optional
in das ISSN-MARC-21-Datenformat für bibliografische Beschreibungen aufgenommen. Es ist jedoch
davon auszugehen, dass weiterhin über einen sehr
langen Zeitraum im ISSN International Register sowohl RDA-konforme als auch nur ISBD-konforme
bibliografische Beschreibungen ko-existieren, da
nicht alle 89 Länder zeitnah auf RDA umsteigen
werden.
Es ist kein standardisiertes Verfahren für die Übermittlung von bibliografischen Metadaten an das
ISSN International Register durch die Nationalen
Zentren vorhanden. Zahlreiche Zentren nutzen einen Katalogisierungs-Client und erfassen bibliografische Metadaten direkt im Register. Andere Zentren erstellen in festen Zeitabständen Teilauszüge
aus ihren Katalogisierungssystemen, um bibliografische Metadaten von fortlaufenden Ressourcen, denen das nationale Zentrum eine ISSN zugeteilt hat,
Hintergrund – ISSN in
Deutschland
ISSN-Zuteilung
bisher nur auf
Antrag
16
Das Nationale ISSN-Zentrum für Deutschland1
ist seit der Gründung im Jahr 1974 eine Organisationseinheit der Deutschen Nationalbibliothek.
Aufgabe des ISSN-Zentrums ist es, in Deutschland
unbegrenzt fortlaufend erscheinenden Publikationen eine ISSN als international verbindliche Standardnummer nach ISO 3297 zuzuteilen. Die Zuteilung einer ISSN umfasst auch die bibliografische
Beschreibung einer Ressource nach den Regeln des
ISSN-Manuals2. In Deutschland erhalten fortlaufende Ressourcen bisher nur auf Antrag eine ISSN.
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Auswirkungen der
RDA-Einführung
Forum
an das Register zu melden. Einige Zentren teilen
über ein Jahr so wenige ISSN zu, dass die bibliografischen Daten mit einem Excel-Sheet übermittelt
werden können.
Ablösung eines veralteten
Katalogisierungsclients
Motivation für das
ISSN-Projekt
Zum Zeitpunkt des Projektstartes hatte das Nationale ISSN-Zentrum für Deutschland als eigenständiges Sachgebiet innerhalb der Abteilung »Erwerbung und Formalerschließung« am Standort
Frankfurt am Main neben dem Katalogisierungsgeschäftsgang für die Nationalbibliografie einen separaten Geschäftsgang für die ISSN-Zuteilung und
Erstellung einer bibliografischen Beschreibung für
das ISSN-Register. Für fortlaufende Ressourcen mit
einer ISSN wurden in der DNB somit in zwei separaten Geschäftsgängen in zwei unterschiedlichen
Katalogisierungssystemen zwei bibliografische Beschreibungen in unterschiedlichen Datenformaten
nach zwei Regelwerken erstellt.
Dafür wurde die Katalogisierungssoftware »OSIRIS« genutzt. OSIRIS ist ein in den 1990er-Jahren
entwickelter MARC-21-Katalogisierungsclient in
der Programmiersprache DOS. Bis Anfang der
2000er-Jahre wurde OSIRIS in zahlreichen ISSNZentren zur Katalogisierung genutzt. Danach erfolgte in den ISSN-Zentren eine schrittweise Ablösung von OSIRIS durch Virtua. Im Jahr 2011
nutzte nur noch das Nationale ISSN-Zentrum für
Deutschland die Software OSIRIS. Eine Weiterentwicklung oder ein Support der Software war nicht
Geschäftsgang Katalogisierung für
Geschäftsgang Nationales
Nationalbibliografie
ISSN-Zentrum
▼
PARIS
IC
ZDBn
DNB
Monografien
Fortlaufende
Sammelwerke
(DNBBestand)
Fortlaufende
Sammelwerke
(kein DNBBestand)
ISSN
OSIRIS
mehr gewährleistet. Zugleich sollte bis Ende 2013
die Betriebssoftware der DNB auf eine WindowsVersion umgestellt werden, die keine DOS-Programme mehr unterstützte.
Es bestand daher die dringende Notwendigkeit, das
veraltete Katalogisierungssystem rasch abzulösen
und vorübergehend, bis zur Integration der ISSNKatalogisierung in die ZDB, im Katalogisierungssystem der Deutschen Nationalbibliothek in einem
ISSN-Bestand Ressourcen nachzuweisen, denen
eine ISSN zugeteilt wurde. Es wurde dabei bewusst
in Kauf genommen, dass der ISSN-Sonderbestand
nur für eine kurze Übergangszeit genutzt und nach
der Integration der ISSN-Katalogisierung in die
ZDB wieder geschlossen wird.
Der Export von Daten an das zentral in Paris vom
Internationalen ISSN-Zentrum (IC) gehostete ISSNRegister sollte als ein weiteres Ziel zugleich über
eine OAI-Schnittstelle automatisiert werden, um die
bisherigen manuellen Aufwände für einen Datenexport zu reduzieren.
Mit der Einführung des ISSN-Sonderbestandes
in PICA erfolgte auch ein Umstieg vom Datenformat MARC 21 zum PICA-Erfassungsformat.
Damit konnten nun erstmalig Daten aus der
ZDB einfach im ISSN-Sonderbestand nachgenutzt
werden.
Die Phase 1 wurde im November des Jahres 2014
erfolgreich abgeschlossen.
Phase 1 – Ablösung eines veralteten Katalogisierungsclients
Umstieg auf PICA
Integration von ISSN in den
laufenden Geschäftsgang –
ein Thema seit 40 Jahren
Nach Abschluss der Phase 1 des Projektes wurde
das eigentliche Ziel, die Integration der Geschäftsgänge in den Katalogisierungsworkflow unter Nutzung des Datenbestandes der ZDB, wieder aufgenommen (Phase 2 des Projektes).
Die Integration der ISSN-Geschäftsgänge in die
regulären Geschäftsgänge der Katalogisierung von
fortlaufenden Ressourcen in der DNB wurde bereits bei Gründung des Nationalen ISSN-Zentrums
vor 40 Jahren diskutiert.
In den 1970er-Jahren war das Ergebnis dieser Prüfung, dass »die partielle Inkompatibilität zwischen
›Guidelines for ISDS‹ [Anmerkung: dem Vorläu-
Phase 2 –
Optimierung
der Workflows
Geschäftsgänge für fortlaufende Sammelwerke in der DNB im Jahr 2011
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
17
Forum
fer des ISSN-Manuals] und den ›Regeln für die
alphabetische Katalogisierung (RAK)‹ sowie die
Unterschiede zwischen dem Erfassungsformat/
Verarbeitungsprogramm Der Deutschen Bibliothek
und des International Serials Data System dazu
zwangen, die Katalogisierungstätigkeit des nationalen ISDS-Zentrums sachlich und weitgehend auch
organisatorisch von den entsprechenden Arbeiten
für die Kataloge und Bibliografien Der Deutschen
Bibliothek – wenigstens bis auf weiteres – zu trennen.«6
Vor dem Hintergrund der Internationalisierung der
Regelwerke stellte sich im Projekt nun die Frage,
ob durch die Einführung von RDA in den 2010erJahren der Zeitpunkt für die Integration von ISSN
in einen Geschäftsgang gekommen war.
Ziel der Phase 2 ist somit die weitere Optimierung
des Objekt- und Datenworkflows in Zusammenarbeit mit dem Internationalen ISSN-Zentrum (IC)
und der ZDB. Dies umfasst
– die Weiterentwicklung des Datenformates der
ZDB, um zukünftig aus dem Datenbestand der
ZDB heraus relevante Informationen über eine
ISSN-Zuteilung an das IC zu melden, sowie
– die Integration der Geschäftsgänge des Nationalen ISSN-Zentrums in die Arbeitsabläufe der
Abteilung »Erwerbung und Formalerschließung«
(Optimierung des Objektworkflows).
Ebenso wie viele andere Bibliotheken in Deutschland katalogisiert die ZDB nicht originär im Datenformat MARC 21. Für die Erfassung von bibliografischen Metadaten wird das Datenformat PICA
genutzt. Die Daten werden für den nationalen und
internationalen Datenaustausch nach MARC 21
konvertiert.
– neue Felder oder Unterfelder erforderlich sind,
um den Anforderungen des ISSN-Registers zu
entsprechen.
Als gemeinsames Ziel von ZDB und DNB wurde festgelegt, dass die Anzahl neu einzuführender
Felder oder Unterfelder möglichst gering bleiben
sollte. Eine erste Analyse des Ergebnisses der Konversion von Daten aus der ZDB nach MARC 21
fand vor der RDA-Implementierung statt. Damals
wurde festgestellt, dass grundsätzlich eine Nutzung
der ZDB-Daten im Datenformat MARC 21 möglich ist, jedoch die nach MARC 21 ausgelieferten
chronologischen Beziehungskennzeichnungen für
das ISSN-Register zu unspezifisch waren.
Ergebnis der Analyse
Im Rahmen der RDA-Implementierung wurden
die chronologischen Beziehungskennzeichnungen
neu strukturiert. Die Abbildung in MARC 21 entspricht nun den Anforderungen des ISSN-Registers.
Die Einführung neuer Felder und Unterfelder war
nur für ISSN-spezifische Sachverhalte (Abbreviated
Key Title7, gelöschte ISSN, National Center Code)
erforderlich.
Ein weiteres Ergebnis war, dass die MARC-21-Konversion der DNB und ZDB zum Teil Indikatoren
benutzt, die im ISSN International Register nicht
unterstützt werden. Die MARC-21-Konversion ist
für alle Bestände der DNB und ZDB gültig. Für
ISSN können keine Sonderregelungen abgebildet
werden. Daher wurde mit dem IC beschlossen,
dass die ZDB-Daten in Fällen von abweichenden
Indikatoren im IC mit automatischen Skripten vor
einem Import in das ISSN-Register nachbearbeitet
werden.
Analyse des ZDB-Datenformats
und der ZDB-Daten im Datenformat MARC 21
»First«/»Latest«
Analyse des
Datenformats
der ZDB
Der erste Schritt in Phase 2 des Projektes bestand
darin, in Zusammenarbeit mit der ZDB, das Datenformat der ZDB zu analysieren. Diese Analyse
sollte klären,
– ob das Ergebnis der Konversion von Daten aus
der ZDB nach MARC 21 grundsätzlich den Anforderungen des ISSN-Registers entspricht und
Eine besondere Herausforderung stellt im Projekt
weiterhin das Thema »First/Latest« dar. Die Katalogisierungskonvention »Latest8«, die in der deutschsprachigen Bibliothekswelt benutzt wird, nimmt
die aktuelle Ausgabe einer fortlaufenden Ressource
als Grundlage für eine bibliografische Beschreibung und die Festlegung eines Hauptsachtitels
18
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
»First«/»Latest« –
eine besondere
Herausforderung
für den Datentausch
Forum
Dringender Handlungsbedarf beim
Daten-Mapping
und einer Verlegerangabe. International dagegen
wird fast ausschließlich »First« als Erfassungskonvention verwendet, das heißt die Erstellung einer
bibliografischen Beschreibung und die Festlegung
von Hauptsachtitel und Verlegerangabe erfolgt auf
Grundlage der ersten vorliegenden Ausgabe einer
fortlaufenden Ressource.
Bei der Verwendung von »Latest« werden bei sogenannten geringfügigen Änderungen von Hauptsachtitel und Verlegerangabe diese Felder in der bibliografischen Beschreibung korrigiert und der vorherige
Hauptsachtitel und die Verlegerangabe in ein anderes
Feld kopiert. Bei einer Erfassung nach »First« bleiben
Hauptsachtitel und Verlegerangabe stabil. Änderungen werden in anderen spezifischen Feldern erfasst.
Erfolgt im internationalen Datenaustausch nun eine
Nachnutzung von »Latest«-Datensätzen in einem
Bezugssystem mit »First« als Erfassungskonvention,
kommt es zu Irritationen, da das Verständnis und
die Erwartungen der Feldinhalte eines Hauptsachtitels und einer Verlegerangabe unterschiedlich sind.
In Deutschland liegt noch keine endgültige Entscheidung vom Standardisierungsausschuss9 vor,
ob weiterhin »Latest« als Erfassungskonvention gilt
oder »First« angewandt wird. Mit dem IC wurde
festgelegt, dass daher die von der DNB gelieferten
bibliografischen Metadaten vorübergehend mittels
eines Mappings von »Latest« nach »First« konvertiert werden10. Die Mappingtabelle ist also eine
Vorgabe für das IC, welche Feldinhalte im Datenformat MARC 21 in einem nach »Latest« katalogisierten Datensatz konvertiert werden müssen, um
eine Sicht nach »First« zu simulieren. Der Begriff
einer simulierten »First«-Sicht ist hier bewusst gewählt, da im Projekt deutlich wurde, dass ein durch
das Mapping erzeugter »First«-Datensatz grundsätzlich nach einer anderen Katalogisierungsphilosophie, nämlich »Latest«, erzeugt und nicht originär
nach »First« katalogisiert wurde.
Daher wird anhand des Daten-Mappings11 von
»Latest« nach »First« deutlich, dass in vielen Fällen
über das Mapping nur Annäherungswerte erreicht
werden, im Vergleich zu einer originären Erfassung
nach »First«. Hier sehen sowohl die DNB als auch
das IC für das Projekt noch einmal dringenden
Handlungsbedarf, sobald eine Entscheidung des
Standardisierungsausschusses über »Latest« oder
»First« vorliegt.
Spezifisches OAI-Set
Die Zeitschriftendatenbank (ZDB) wird von 4.200
Bibliotheken zur Katalogisierung genutzt. Da nicht
alle Publikationen in der ZDB eine ISSN haben,
sind für das IC auch nicht alle Änderungen in der
ZDB relevant.
Zudem kann vorkommen, dass andere ZDB-Partner an einem für ISSN relevanten ZDB-Datensatz,
ohne Wissen um die ISSN-Hintergründe, Änderungen vornehmen, die für ISSN entweder
– nicht relevant sind (beispielsweise Update von
Titelzusätzen) oder
– nicht den ISSN-Regelungen entsprechen (beispielsweise Update einer Vorauszuteilung bei
geändertem Hauptsachtitel ohne entsprechende
Korrektur des Key Titles).
Als Konsequenz würde das IC eine Vielzahl von
zusätzlichen Datensätzen erhalten, die anschließend umständlich in Paris für den Import in das
ISSN-Register vorbereitet werden müssten, einer Validation mit Fehlerprotokollen als Ergebnis unterzogen werden und eigentlich für das ISSN-Register
nicht relevant sind.
Daher wurde im Projekt beschlossen, dass ein Datensatz nur nach Paris exportiert werden soll, wenn
vorher ein Katalogisierer der DNB mit entsprechenden ISSN-Kenntnissen diesen angelegt, bearbeitet und freigegeben hat.
Für die Bildung eines spezifischen ISSN-OAI-Sets12
müssen daher die folgenden Bedingungen erfüllt
sein:
– Vorhandensein einer ISSN und eines Key Titles
im PICA-Feld 2005
– Änderung oder Anlegen des Datensatzes ist in
DNB erfolgt (Auslesen der Änderungskennung;
ein Export erfolgt nur, wenn eine definierte DNBÄnderungskennung vorhanden ist)
– Änderungs- oder Erfassungsdatum wurde nach
dem letzten Harvesten geändert beziehungsweise
neu erfasst
– Code für den Export an das ISSN-Register vorhanden.
Da die Änderungskennung als Element eines Datensatzes sehr instabil ist und bei der Korrektur
des Datensatzes durch einen anderen ZDB-Partner
sofort ersetzt wird, werden die Daten vom IC alle
fünf Minuten automatisch geharvestet.
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Gesteuerter
Datenexport an
das ISSN-Register
19
Forum
Entwicklung neuer Geschäftsgänge
Erarbeitung eines
neuen Standardgeschäftsgangs
20
Bisher hat das Nationale ISSN-Zentrum eine ISSN
zugeteilt, wenn
– ein ISSN-Antrag auf Vorauszuteilung13 oder
– eine retrospektive Zuteilung vorlag.
Bei fortlaufenden Ressourcen mit ISSN wurden
zusätzlich bei Änderungen (beispielsweise Verlagsänderungen, Titeländerungen) die bibliografischen
Daten aktualisiert, die sogenannte Änderungsbearbeitung. Ein Teil der Titeländerungen führt anschließend auch zu der Neuvergabe einer ISSN.
Innerhalb des Projektes stellte sich nun die Frage, ob
durch die Integration der ISSN-Zuteilung und -Katalogisierung in die Standard-Geschäftsgänge der Abteilung »Erwerbung und Formalerschließung« innerhalb
der DNB andere Modelle entwickelt werden könnten.
Eine Voraussetzung dafür war, dass die Aufwände
für eine ISSN-Zuteilung verhältnismäßig sein sollten. Daher wurde untersucht, wie hoch die Aufwände innerhalb der gesamten DNB gewesen wären,
wenn im Jahr 2014 alle relevanten Publikationen
pro-aktiv (ohne Vorlage eines Antrags) bei der Katalogisierung eine ISSN erhalten hätten. Der personelle zusätzliche Aufwand für die Zuteilung einer
ISSN und die Bildung des Key Titles umfasste weit
weniger als eine Vollzeitstelle. Dagegen reduziert die
DNB erheblich ihre Aufwände beim Datenexport
und durch die Aufgabe der Doppelerschließung.
Eine weitere Erkenntnis des Projektes war, dass die
ISSN-Zuteilung bei einer Integration in die Standard-Geschäftsgänge gleichmäßig drei Bereiche
innerhalb der DNB betrifft. Den Bereich Periodika für Zeitschriften, den Bereich Monografien, da
dort Schriftenreihen bearbeitet werden und den Bereich Netzpublikationen für Online-Publikationen
von fortlaufenden Ressourcen.
Vor diesem Hintergrund wurden verschiedene Modelle entwickelt und mit Vertreterinnen und Vertretern aus den Bereichen in Workshops diskutiert.
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Ergebnis der Workshops war das folgende Modell:
Zukünftig wird die normale ISSN-Bearbeitung (Titeländerungen, Fusionen, Split, Verlagsänderungen)
im laufenden Geschäftsgang von den Katalogisiererinnen und Katalogisierern der Referate Periodika, Monografien und Netzpublikationen durchgeführt. Neue Titel erhalten pro-aktiv eine ISSN bei
der Katalogisierung.
An jedem Standort wird es zusätzlich ISSN-Redakteurinnen und Redakteure geben, die (Voraus-)
Zuteilungen von ISSN auf Antrag eines Kunden
bearbeiten, intern den Katalogisiererinnen und Katalogisierern und extern den ISSN-Kunden für Fragen zur Verfügung stehen, den Datenimport in das
ISSN International Register betreuen (Validationsmeldungen und Fehlerprotokolle des Internationalen ISSN-Zentrums bearbeiten) sowie die Verfahren
weiterentwickeln.
Die Vertretung Deutschlands auf der fachlichen
Ebene im ISSN-Netzwerk sowie die Verantwortung
für den Standard ISSN in Deutschland werden von
einem ISSN-Referenten übernommen.
Ausblick
Durch die Verlagerung der ISSN-Katalogisierung
in den Standardgeschäftsgang kann ohne großen
Mehraufwand eine pro-aktive ISSN-Zuteilung für
fortlaufende Ressourcen in Deutschland erreicht
werden. Dies bedeutet, dass ab Dezember dieses
Jahres neuen Publikationen ohne Vorlage eines Antrags automatisch eine ISSN zugeteilt wird.
Langfristig bietet dies interessierten Verlagen und
Institutionen in Deutschland, die eine ISSN nachnutzen, neue Möglichkeiten, Dienstleistungen und
Web-Angebote zu etablieren14.
Automatische
ISSN-Zuteilung
Forum
Anmerkungen
1 Weiterführende Informationen zu ISSN sind auf den Homepages der DNB (<http://www.dnb.de/issn>) sowie des Internationalen
ISSN-Zentrums (http://www.issn.org/) verfügbar.
2 <http://www.issn.org/understanding-the-issn/assignment-rules/issn-manual/>
3 siehe <http://www.issn.org/the-centre-and-the-network/members-countries/the-issn-network-today/>
4 <http://www.issn.org/understanding-the-issn/the-issn-international-register/>
5 <http://www.ifla.org/publications/international-standard-bibliographic-description>
6 <http://d-nb.info/840720092>
7 Bei der Zuteilung einer ISSN wird zusätzlich der Key Title einer Publikation gebildet (siehe dazu auch: <http://www.issn.org/
understanding-the-issn/assignment-rules/issn-manual/#section-4-key-title>)
8 Die Diskussion von »First/Latest« mit den Vetreterinnen der Library of Congress und der British Library im ISSN-Netzwerk haben
gezeigt, dass für die deutsche Katalogisierungskonvention die Bezeichnung »Current« passender ist, da unter AACR »Latest« für
eine Erfassungskonvention steht, in der eine bibliografische Beschreibung auf Grundlage der aktuellen Ausgabe upgedatet wird und
alle Elemente aus vorherigen Ausgaben, die in der aktuellen Ausgabe einer fortlaufenden Ressource fehlen, entfernt werden. In
diesem Artikel wird dennoch weiterhin »Latest« als Begriff verwendet, da dieser derzeit in der deutschsprachigen Bibliothekswelt in
RDA Verwendung findet und dem internationalen Verständnis von »Current« entspricht.
9 <http://www.dnb.de/DE/Standardisierung/AFS/afsOrganisation.html>
10 Diese pragmatische Lösung wurde getroffen, um weiterhin ab dem 1. Dezember 2016 mit den neuen Geschäftsgängen für ISSN
starten zu können.
11 Im Daten-Mapping werden in MARC 21 nach der Konvention »Latest« erfasste Datensätze nach »First« konvertiert.
12 <http://www.dnb.de/oai>
13 Verlage haben unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, vor Erscheinen einer Publikation eine ISSN zu beantragen, um
diese bereits in die erste Ausgabe eindrucken zu können.
14 Beispielhaft sei hier das Keepers-Projekt (<http://thekeepers.org>) genannt, welches ISSN nutzt, um aus einer Metadatenbank
heraus die Langzeitarchivierbarkeit von Ressourcen in verschiedenen externen Datenbankangeboten anzuzeigen.
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
21
Forum
Jessica Hubrich, Hans-Jörg Lieder
Die Zeitschriftendatenbank und die
Digitalisierung historischer Zeitungen
in Deutschland
Ausgangslage
Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen in
Deutschland bewahren überaus reichhaltige Bestände deutscher historischer Zeitungen1 auf. Im
Rahmen der großen Digitalisierungskampagnen
des deutschen Bibliothekswesens – hier sind vor
allem die VD-Projekte zu erwähnen2 – wurden und
werden einzelne Zeitungsbestände ausnahmsweise
»mitdigitalisiert«. Entscheidend sind hierbei allerdings eher zufällige Auswahlkriterien wie Druckformate oder die Verfügbarkeit mehr oder weniger
korrekter bibliografischer Angaben. Trotz bemerkenswerter Ausnahmen sind die Ergebnisse der bisherigen Bemühungen oft genug in lokalen Bibliothekskatalogen eher verborgen als leicht auffindbar.
Die flächendeckende systematische Digitalisierung
historischer Zeitungsbestände bleibt weiterhin ein
Desiderat. Im Folgenden werden einzelne Aspekte der Rolle der Zeitschriftendatenbank (ZDB)3 im
Kontext einer größer angelegten Digitalisierungsoffensive beschrieben.
Zeitungskatalogisierung
in Deutschland
Zeitungen
als besonderer
Materialtyp
22
Aus bibliothekarischer Sicht sind Zeitungen ein
Materialtyp, der sich in der bibliografischen Beschreibung durch ein relativ hohes Maß an Komplexität auszeichnet. Diese Komplexität ist vor
allem der Periodizität und der nicht selten vorzufindenden regionalen Auffächerung von Zeitungen
geschuldet. Erscheinungsverläufe sind oft – vor allem bei älteren Veröffentlichungen – komplex oder
im schlimmsten Fall überhaupt nicht eindeutig zu
klären. Die regionale Erscheinungsweise wirft zusätzliche Fragen auf: Soll die Regionalausgabe einer
Zeitung, die sich von ihren Pendants durch einen
jeweils spezifischen Lokalteil unterscheidet, als eige-
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
ne bibliografische Einheit beschrieben werden oder
nicht? Die Änderungen, die eine Zeitung in ihrer
Lebenszeit durchläuft, stellt eine weitere Herausforderung dar: Wann führt ein modifizierter Zeitungstitel oder eine andere gravierende Veränderung wie
der Wechsel eines Herausgebers zur Notwendigkeit
der Erstellung eines neuen Titeldatensatzes? Trotz
existierender Regelwerksfestsetzungen ist das Potential für unerwünschte lokale Interpretationen und
daraus resultierende Katalogisierungsunterschiede
auf Ebene des bibliografischen Objekts, also des
Zeitungstitels, erkennbar groß.
Das deutsche Bibliothekswesen trägt dieser Komplexität dadurch Rechnung, dass die Katalogisierung von Zeitungen – wie auch die von anderen
Fortlaufenden Sammelwerken, vor allem von Zeitschriften – seit Jahrzehnten als Gemeinschaftsaufgabe aufgefasst und betrieben wird. Konkreter Ausdruck dieses gemeinsamen Willens ist das Gebot
der Primärkatalogisierung in der ZDB4, zu dem
sich weit mehr als 4.000 Einrichtungen in Deutschland und Österreich verpflichtet haben. Im Ergebnis führt diese Gemeinschaftsanstrengung dazu,
dass die bibliografische Datenbasis für Fortlaufende Sammelwerke in Deutschland von weitaus besserer Qualität ist als in vielen anderen Ländern. Vor
allem dem Einsatz fachlich hochqualifizierter Redaktionsteams in der Staatsbibliothek zu Berlin, die
die ZDB gemeinsam mit der Deutschen Nationalbibliothek betreibt, ist zu verdanken, dass Titelentitäten in der ZDB durchgängig disambiguiert und
einrichtungsübergreifend gültig sind. Dem Identifikator dieser Titelentitäten, der ZDB-ID, kommt
wegen der hohen Qualität der Daten gleichsam
der Charakter einer Norm-ID zu. Dieser Umstand
spiegelt sich darin, dass zahlreiche andere Systeme
ZDB-IDs nachnutzen.
Katalogisierung
von Zeitungen als
Gemeinschaftsaufgabe
Forum
ZDB-Daten zu Zeitungen
Mengengerüst
Mittels der vorliegenden ZDB-Daten können relativ
leicht einige summarische quantitative Angaben zur
Überlieferung von historischen Zeitungen in deutschen Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen gemacht werden.5 Insgesamt finden sich in der ZDB
Titeldatensätze von rund 60.000 Zeitungen, etwa
22.000 davon können als »deutsche historische Zeitungen« gelten. Verteilt auf die Perioden ihres ersten
Erscheinens ergeben sich die folgenden Zahlen:
Zeitraum
Anzahl Titel
1500 – 1699
120/800
1700 – 1749
227
1750 – 1799
752
1800 – 1849
3.938
1850 – 1899
6.396
1900 – 1944
10.267
Tabelle 1: Nachweis von historischen Zeitungen in der ZDB
Insbesondere die Zahlen für die frühen Jahrhunderte der Zeitung sind mit einiger Vorsicht zu
genießen. Die Staats- und Universitätsbibliothek
Bremen, die im Rahmen eines DFG-Pilotprojekts
das gesamte 17. Jahrhundert und frühere Zeitungen digitalisiert hat6, fand zu Beginn ihrer Arbeiten
120 entsprechende Zeitungstitel in der ZDB vor.
Nachdem aus der fachlichen Perspektive der Presseforschung ergänzt wurde, sind nun rund 800 Zeitungen für den genannten Zeitraum identifiziert. Es
zeigt sich also, dass die Klassifizierung eines Objekts als Zeitung insbesondere in der frühen Zeit
stark vom jeweiligen Standpunkt des Betrachters
abhängt, und es steht zu vermuten, dass sich auch
die Zahlen für das 18. Jahrhundert noch erheblich
verändern werden. Erst im 19. und 20. Jahrhundert
können die typologischen Charakteristika von Zeitungen als so eindeutig angesehen werden, dass es
kaum zu wesentlichen Veränderungen der Mengengerüste kommen dürfte.
Hinsichtlich der Erscheinungsfrequenz dominiert
nicht etwa die tägliche Erscheinungsform, sondern,
durchgehend durch alle Jahrhunderte, die wöchentliche.7
Beeindruckend ist die starke regionale Verteilung
der erschienenen Zeitungen. Berlin ist das mit
Abstand wichtigste Zentrum historischer Zeitungen mit insgesamt mehr als 1.900 nachgewiesenen
Titeln.8 Es folgen in absteigender Reihung München, Wien, Köln, Leipzig, Hamburg, Nürnberg,
Dresden, Stuttgart und Augsburg mit immer noch
mehr als 200 nachgewiesenen Titeln. In den zehn
genannten Druckorten wurde rund ein Viertel aller
berücksichtigten Zeitungen veröffentlicht. Daneben sind aber weitere rund 3.500 Druckorte verzeichnet, etwa 3.000 davon mit jeweils einem bis
fünf Titeln und hiervon rund 1.700 Orte mit nur
jeweils einem Zeitungstitel.9
Die regionale Natur des historischen deutschen
Pressewesens zeigt sich auch in der heutigen Verfügbarkeit der entsprechenden Zeitungsoriginale
in den Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen.
Insgesamt besitzen mehr als 1.650 Einrichtungen
(Teil-)Bestände der betrachteten Titel. Seit dem
18. Jahrhundert stellt sich die Überlieferungslage
wie folgt dar:
Zeitraum
Anzahl Bibliotheken
mit Beständen
Maximale Anzahl von
Titeln pro Bibliothek
(Median in Klammern)
Anzahl von Bibliotheken
mit nur einem Titel
1700 – 1749
240
97 (3)
17
1750 – 1799
509
275 (3)
162
1800 – 1849
781
980 (3)
196
1850 – 1899
1.258
1.383 (3)
394
1900 – 1944
1.248
3.006 (3)
422
Druckorte
Verfügbarkeit
in Kultur- und
Wissenschaftseinrichtungen
Tabelle 2: Nachweis von historischen Zeitungen in deutschen und österreichischen Bibliotheken
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
23
Forum
Offensichtlich existieren bedeutende Sammlungszentren für einzelne Zeiträume, daneben ist aber
auch die große Zahl der an der Überlieferung beteiligten Einrichtungen sowie die erhebliche Zahl
von Bibliotheken, die jeweils nur einen Titel besitzen, festzustellen. Ein genauerer Blick auf die
Daten zeigt zudem, dass es kaum Titel gibt, deren
vollständiger Erscheinungsverlauf in einer einzigen
Bibliothek vorhanden ist. Eine mehr oder weniger
flächendeckende oder umfassend exemplarische
Digitalisierung von Zeitungsbeständen in Deutschland ist damit nur als groß angelegtes Kooperationsprojekt vieler Einrichtungen realisierbar.
Kooperative Zeitungsdigitalisierung
Digitalisierung
von Mikrofilmen
24
Um die Bedingungen einer solchen koordinierten
Zusammenarbeit möglichst exakt zu definieren, haben sich seit einigen Jahren mehrere Bibliotheken
im Rahmen einer DFG-Förderung in diversen Digitalisierungs- und Infrastrukturprojekten mit verschiedenen Aspekten des Themas Zeitungsdigitalisierung beschäftigt.10 Neben den Projektergebnissen
im engeren Sinn haben die beteiligten Bibliotheken
fachliche Empfehlungen formuliert, die der DFG
zur Verfügung gestellt wurden. Diese Empfehlungen betreffen die folgenden Bereiche:
– Imagedigitalisierung: Auswahl der Vorlage (Original oder Mikrofilm), technische Parameter, Datenformate,
– Erschließung: Erzeugung von Struktur- und Erschließungsdaten,
– Texterkennung (OCR): technische Parameter der
(Ausgangs-)Daten (bitonal, Graustufen, farbig).
Eine gesonderte Anmerkung soll der Frage der Benutzung von Mikrofilmen für die Digitalisierung
gewidmet werden. Entgegen der häufig geäußerten Ansicht, dass Mikrofilme stets schlechter als
Grundlage einer Digitalisierung geeignet seien als
Papieroriginale, hat sich diese Vermutung in dem
bisher größten Zeitungsdigitalisierungsprojekt in
Europa – Europeana Newspapers11 – nicht bestätigt. Die dort mit europäischen, also mehrsprachigen Zeitungsbeständen erzielten Qualitäten der
OCR lassen sich durchaus mit den im DFG-Pilotprojekt erzielten Qualitäten vergleichen. Aus Sicht
der Verfasser belegt dies, dass allein aus praktischen
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
sowie aus Kostengründen in großangelegten Digitalisierungsprojekten keinesfalls auf Mikrofilme als
Digitalisierungsvorlagen verzichtet werden kann.12
Neben den unmittelbaren Ergebnissen der Digitalisierungsprojekte der genannten Bibliotheken und
den daraus abgeleiteten Empfehlungen wurden mit
DFG-Förderung insgesamt drei Infrastrukturprojekte durchgeführt. Die Software Goobi13 und der
DFG-Viewer14 wurden für die spezifischen Erfordernisse von Zeitungen angepasst. Daneben wurde der
ZDB-Katalog gründlich und grundsätzlich überarbeitet, um mit optimierten Funktionalitäten als verlässliches und intuitiv benutzbares Instrument zur
Steuerung von Zeitungsdigitalisierungsprojekten zu
dienen.
Im Folgenden werden die für Zeitungen und
Zeitungsdigitalisierungsprojekte relevanten Aspekte
des neuen ZDB-Katalogs dargestellt.
Der ZDB-Katalog
Zeitungsdigitalisierungsvorhaben werden durch die
ZDB in vielfältiger Weise unterstützt:
– relativ umfassender Nachweis von gedruckten
und digitalisierten Zeitungen im ZDB-Katalog
einschließlich detaillierter Angaben zu Beständen
und bestandshaltenden Einrichtungen
– eine im ZDB-Datenformat vorgesehene Nachweismöglichkeit für geplante Digitalisierungsaktivitäten15
– Hilfestellungen für digitalisierende Bibliotheken
durch das ZDB-Redaktionsteam in der Staatsbibliothek zu Berlin
Im Rahmen des genannten DFG-Kontextes wurde
ein zeitgemäßer und nutzerfreundlicher ZDB-Katalog entwickelt16, der durch ein ansprechendes Design
und einfache intuitive Bedienbarkeit nicht zuletzt Anreize schaffen will, dass Institutionen ihre noch nicht
verzeichneten Bestände in der ZDB nachweisen. Seit
Mitte 2015 ist der neue ZDB-Katalog als Betaversion17
öffentlich zugänglich und bietet mit Google-Suchschlitz, Autosuggest für Anfragen in lateinischer und
originalschriftlicher Schrift, Breadcrumbtrail, Titelund Bestandsfacetten moderne Formen der Suchunterstützung an, durch die Titel und Bestände besser
als zuvor gefunden werden können. Die Umsetzung
erfolgte unter Berücksichtigung eines Responsive
Betaversion
seit 2015
Forum
Unterstützung von
Zeitungssuche
und Digitalisierungsprojekten
Visualisierungen
Designs, durch das eine geeignete Darstellung auch
auf mobilen Endgeräten gegeben ist. Ein besonderes
Highlight des Katalogs stellen die diversen Visualisierungen dar, die eine Kontextualisierung mit neuen Einsichts- und Recherchemöglichkeiten bieten;
auf einige der Visualisierungen wird nachfolgend
noch eingegangen.18 Eine Ablösung der Betaversion durch eine Produktivversion ist für 2017 vorgesehen; die derzeit zugängliche Betaversion greift
jedoch bereits auf den vollständigen ZDB-Bestand
zurück und liefert tagesaktuelle Daten.
Für Digitalisierungsprojekte ist der neue ZDBKatalog ein wichtiges Recherche- und Nachweisinstrument, über das die beteiligten Institutionen
eigenständig wichtige Informationen für die Durchführung von kooperativen Digitalisierungsvorhaben ermitteln können. Der neue ZDB-Katalog bietet Unterstützung
– beim Auffinden von Zeitungen nach diversen
(projektspezifischen) Auswahlkriterien wie Erscheinungs- und Bestandsverläufen,
– bei der Ermittlung bestandshaltender Bibliotheken, die einzelne Teilbestände besitzen, die nicht
im Bestand der am Digitalisierungsprojekt beteiligten Institutionen sind,
– bei der Ermittlung von geplanten Digitalisierungen zur Vermeidung von Doppelarbeit.
Im neuen ZDB-Katalog können Suchen über ein
Facettenattribut auf den Medientyp »Zeitung« eingeschränkt werden; eine gesonderte Checkbox für
eine Vorabeinschränkung nach Zeitungen ist für
die erweiterte Suche geplant.19 Mit der TitelfilterOption »Frequenz« kann auch eine nachträgliche
Einschränkung nach der Erscheinungsfrequenz
von Zeitungen20 vorgenommen werden. Für Suchanfragen nach Zeiträumen steht ein Zeitstrahl zur
Verfügung. Zusätzlich werden Visualisierungen angeboten, die es ermöglichen, ein Zeitungsunternehmen oder wohl-definierte Teile eines spezifischen
Teilunternehmens als Grundlage für die Auswahl
von Digitalisierungsobjekten mit heranzuziehen.
Zeitliche Vorläufer und Nachfolger eines Zeitungstitels einschließlich aller Namensänderungen sowie
deren Beilagen können in der »Titelhistorie« ein-
gesehen werden, die komplexe Zusammenhänge
leicht verstehbar visualisiert. Über einen Zeitstrahl
kann ein spezifischer Zeitraum einer Historie angesteuert werden.
Abb. 1: Ausschnitt aus einer Titelhistorie
Abb. 2: Sicht auf Beilagen in der Titelhistorie
Der gesamte Publikationskontext eines Zeitungstitels kann in den »Titelrelationen« eingesehen werden. »Knoten« können nach Belieben expandiert
oder minimiert und der angezeigte Graph den eigenen Anforderungen gemäß gestaltet werden.
Abb. 3: Ausschnitt einer Anzeige von Titelrelationen
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
25
Forum
Abb. 4: Verbreitungsortkarte mit Titelfiltern
Zur Identifizierung von Zeitungen mit regionalen
Bezügen wird in zukünftigen Katalogversionen
eine Karte mit »Verbreitungsorten« angeboten,
für deren Umsetzung in der Gemeinsamen Norm-
Abb. 5: Verbreitungsortkarte mit Titelfiltern
26
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
datei (GND)21 vorgehaltene Koordinaten genutzt
werden.22
Die Bestände einer einzigen Zeitung verteilen sich
häufig auf mehrere Institutionen. Diese zu ermitteln, um bei einem Digitalisierungsvorhaben die
gesamte Laufzeit eines Titels berücksichtigen zu
können, war bislang sehr zeitaufwendig. Mit der im
neuen ZDB-Katalog angebotenen Funktion »Bestandsvergleich« kann diese Aufgabe mit geringem
Aufwand bewältigt werden. Abhängig von den von
Bibliotheken zur Verfügung gestellten normierten
Daten wird eine Visualisierung angeboten, die einen schnellen Überblick über die in verschiedenen
Institutionen verfügbaren Bestandssegmente gibt;
umfangreiche Bestände können ebenso leicht identifiziert werden wie Bestandslücken. Detailliertere
Informationen zu den einzelnen Beständen können
wahlweise aufgeklappt werden.
Ermittlung bestandsbesitzender
Bibliotheken
Forum
Vermeidung von
Doppelarbeit
In der ZDB können auch Angaben zu geplanten
Digitalisierungen hinterlegt werden; diese sind
über den neuen ZDB-Katalog abfragbar. Wenn Bibliotheken verlässlich zukünftige Digitalisierungsvorhaben in der ZDB ausweisen und den Status
»Geplante Digitalisierung« entfernen, sobald ein
Digitalisierungsvorhaben entweder abgeschlossen
oder abgesagt wurde, kann Doppelarbeit vermieden werden. Zur Unterstützung der Suche nach
geplanten Digitalisierungsvorhaben ist im neuen
ZDB-Katalog eine Checkbox »Geplante Digitalisierung« in der erweiterten Suche vorgesehen sowie
ein gleichnamiges Attribut in der Titelfacette »Digitalisierung«, über das Suchergebnisse entsprechend
eingeschränkt werden können.
Schlussbemerkung
Der Wert der ZDB für einrichtungsübergreifende
Datenanalysen ist evident, ihr Nutzen für Begleitung, Koordination und Steuerung von Digitalisierungsprojekten augenscheinlich. Dies wird nicht
zuletzt durch die mit DFG-Förderung ermöglichte
Entwicklung des neuen ZDB-Katalogs untermauert. Die homogenen und qualitativ hochwertigen
Daten, die übersichtliche Darstellungen komplexer
Zusammenhänge ermöglichen, kommen aber natürlich auch Endnutzern zu Gute.
Vor diesem Hintergrund sind Diskussionen zu
bewerten, ob in Deutschland von dem Gebot der
Primärkatalogisierung in der ZDB abgewichen
werden kann. Im Kontext der neuen Systeme der
großen Anbieter von Bibliothekssoftware wird die
»Cloud« als ausschließlicher Ort des Katalogisierens gesehen. Freilich konnten die bislang zum
Umgang mit Fortlaufenden Sammelwerken in
neuen Katalogisierungsumgebungen formulierten
Konzepte noch nicht vollständig aufzeigen, wie
Granularität, Homogenität und relative Vollständigkeit der Daten23 weiterhin gewährleistet werden
sollen. Anspruchsvolle Auswertungen, Visualisierungen und Weiterverarbeitungen – man denke
etwa an ein beispielsweise bei der Deutschen Digitalen Bibliothek anzusiedelndes Zeitungsportal,
das unter Nachnutzung auch der ZDB-Daten einen
gemeinsamen Suchraum für sämtliche deutschen
Zeitungsvolltexte anbieten könnte – bedürfen solcher hochwertigen Daten. Es bleibt deshalb die gemeinsame Aufgabe aller Beteiligten, auch in neuen
technischen Umgebungen und unter den Bedingungen veränderter Geschäftsmodelle und -praktiken ihrer Partner nicht hinter das bereits Erreichte
zurückzufallen.
Katalogisierungsumgebungen
Anschrift von Hans-Jörg Lieder:
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz,
Potsdamer Straße 33, 10785 Berlin,
Telefon: 0 30 2 66 43 40 00,
E-Mail: [email protected]
Anmerkungen
1 Mit »deutschen historischen Zeitungen« sind hier solche periodischen Publikationen gemeint, die von Katalogisierern in Übereinstimmung mit den bibliothekarischen Regelwerken als »Zeitung« bezeichnet werden und die im deutschen Sprachraum oder in
deutscher Sprache zuerst vor oder in 1944 erschienen sind. Auf Begrenzungen und Vorläufigkeit dieser formalen Definition wird
an späterer Stelle hinzuweisen sein.
2 Siehe <http://www.vd16.de/>, <http://www.vd17.de/, http://vd18.de/>
3 Siehe <http://www.zeitschriftendatenbank.de/startseite/>
4 Systembedingte Ausnahmen vom Gebot der Primärkatalogisierung existieren: In anderen Systemen erfasste Daten werden durch
regelmäßige Datenbereitstellungen in die ZDB integriert.
5 Einige der im Folgenden präsentierten Zahlen wurden bereits veröffentlicht in: Lieder, Hans-Jörg: Coordinating Newspaper Digitisation: Some Facts and Figures. 2016. URL: <http://blogs.sub.uni-hamburg.de/ifla-newsmedia/wp-content/uploads/2016/04/Lieder-Coordinating-Newspaper-Digitisation-%E2%80%93-Some-Facts-and-Figures.pdf> Grundlage sind die Daten der ZDB mit Stand
vom September 2015.
6 Siehe <http://brema.suub.uni-bremen.de/zeitungen17>
7 Aus den verfügbaren Daten sind keine verlässlichen Schätzungen zu Seitenzahlen ableitbar.
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
27
Forum
8 Berlin wurde vor allem nach der Reichsgründung 1871 zunehmend zur wichtigsten Pressestadt Deutschlands.
9 Es sei hier nur am Rande erwähnt, dass die regionale Bedeutung von Zeitungen sich gleichermaßen in »Verbreitungsorten« manifestieren kann, die nicht mit Druckorten identisch sein müssen. Siehe hierzu auch das Kapitel »Der ZDB-Katalog«.
10 Es sind dies: Berlin: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz; Bremen: Staats- und Universitätsbibliothek Bremen;
Dresden: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek; Frankfurt/M.: Deutsche Nationalbibliothek; Halle/S.:
Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt; München: Bayerische Staatsbibliothek.
11 Siehe <http://www.europeana-newspapers.eu/>, insbesondere <http://www.europeana-newspapers.eu/wp-content/uploads/2015/
05/D3.5_Performance_Evaluation_Report_1.0.pdf>
12 Dies lässt die vollständige Integration der Daten des Mikrofilmarchivs der deutschsprachigen Presse e. V. (<http://www.mfadortmund.de/>) in die ZDB umso dringlicher erscheinen. Nach einmal erfolgtem Ab- und Angleich der Titelentitäten in den Daten
des MFA und der ZDB könnten die bislang jeweils von digitalisierenden Bibliotheken durchzuführenden aufwendigen Titelrecherchen und -vergleiche entfallen.
13 Heute Kitodo, siehe <http://www.kitodo.org/>
14 Siehe <http://dfg-viewer.de/ueber-das-projekt/>
15 Vgl. <http://www.zeitschriftendatenbank.de/erschliessung/arbeitsunterlagen/zdbformat/>
16 Siehe <http://www.zeitschriftendatenbank.de/ueber-uns/projekte/zdb-opac/>
17 Siehe <http://beta.zdb-opac.de/zdb/>
18 Einen umfassenden Eindruck von den im neuen ZDB-Katalog implementierten Funktionalitäten bieten die Präsentationsfolien zu
dem von A. Stei und J. Hubrich 2015 im Rahmen des ZDB-Anwendertreffens auf dem 104. Bibliothekartag in Nürnberg gehaltenen
Vortrags »Neugestaltung des ZDB-OPAC«: <http://www.zeitschriftendatenbank.de/fileadmin/user_upload/ZDB/pdf/anwendertreffen/ZDB_Anwendertreffen_Nuernberg_2015.pdf>
19 Die Checkbox wird voraussichtlich 2017 zur Verfügung stehen.
20 Täglich, drei- bis fünfmal wöchentlich, zweimal wöchentlich, wöchentlich, vierzehntäglich, halbmonatlich, monatlich.
21 <http://www.dnb.de/DE/Standardisierung/GND/gnd_node> Zum Abdeckungsgrad von Verbreitungsorten und GND-Koordinaten s. Jessica Hubrich: Visual Representations of Newspaper Information. 2016. S. 2f. URL: <http://blogs.sub.uni-hamburg.de/
ifla-newsmedia/wp-content/uploads/2016/04/Hubrich-Visual-Representations-of-Newspaper-Information.pdf>
22 Die Verbreitungsortkarte wird voraussichtlich im vierten Quartal 2016 zur Verfügung gestellt werden können.
23 Mit »Vollständigkeit« ist hier ausschließlich die Vollständigkeit der Gesamtheit der Daten aller ZDB-Teilnehmer gemeint.
28
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Forum
Dirk Weisbrod
Forschungsdaten in Dissertationen
Das Projekt eDissPlus erarbeitet
prototypische Lösungen für die
Langzeitarchivierung
Ausgangslage
Die Entwicklung einer effektiven Strategie für die
Langzeitarchivierung von Forschungsdaten gehört
zu den großen und noch weitgehend ungelösten
Herausforderungen für Hochschulen und Bibliotheken. Das mag zum einen an der national wie
international sehr ausdifferenzierten Forschungslandschaft liegen: Forschungsdaten werden in wissenschaftlichen Disziplinen produziert und publiziert, die zum Teil eine sehr fachspezifische Kultur
im Umgang mit diesen Daten und demzufolge
auch höchst unterschiedliche Forschungsumgebungen entwickelt haben. Disziplinspezifische Gründe
sind es auch, die insbesondere in den Naturwissenschaften zum Einsatz von äußerst heterogenen
Metadaten- und Dateiformaten führen.1
Gute wissenschaftliche Praxis und
Langzeitarchivierung
Aufbau einer
Nationalen
Forschungsdateninfrastruktur
Andererseits ergibt sich aus den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis eine langjährige Aufbewahrungspflicht für Forschungsdaten, erstens um Forschungsprozesse anhand der Analyse publizierter
Daten nachvollziehbar zu machen, zweitens um
die Nachnutzung der oftmals sehr aufwändig erhobenen Daten in anderen Forschungsvorhaben
gewährleisten zu können. Oft werden Forschungsvorhaben jedoch nur zeitlich begrenzt im Rahmen
von Projekten finanziert, was zur Folge hat, dass
Daten verwaisen und verlorengehen. Den Bedarf an
»intelligente(n) Lösungen für den schwierigen Bereich der Langzeitarchivierung/Langzeitverfügbarkeit von Forschungsdaten«2 hat der Rat für Informationsinfrastruktur (RfII) in seinem jüngst erschienenen Positionspapier festgestellt und unter anderem
dafür den Aufbau einer Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) gefordert.3 Demgegenüber
wird Langzeitarchivierung oft missverständlich mit
den Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) aus dem Jahr 1999 gleichgesetzt,
wonach Primärdaten zehn Jahre aufbewahrt werden
sollen.4 Allerdings kennt die »Langzeitarchivierung«
klassischerweise kein Ablaufdatum. Das deutsche
Kompetenznetzwerk für die digitale Langzeitarchivierung, nestor, weist deswegen auch darauf hin,
dass die »Bestandserhaltung digitaler Ressourcen
nicht die Abgabe einer Garantieerklärung über
fünf oder fünfzig Jahre« bedeutet, »sondern die verantwortliche Entwicklung von Strategien, die den
beständigen, vom Informationsmarkt verursachten
Wandel bewältigen können.«5
Diese Ausgangslage stellt Einrichtungen, die Forschungsdaten disziplinübergreifend archivieren
und publizieren wollen, vor große Probleme. So
existieren zwar sehr gut erprobte Strategien für die
Langzeitarchivierung von digitalen Publikationen,
Digitalisaten oder elektronischen Akten, die aber
aufgrund der vergleichsweise homogenen Binnenstruktur dieser Bestandstypen nicht per se auf die
höchst ausdifferenzierte Forschungsdaten-Landschaft anwendbar sind.
Elektronische Dissertationen Plus
(eDissPlus)
Eine Lösung für die geschilderte Problematik erarbeitet das Projekt Elektronische Dissertationen
Plus (eDissPlus), wobei es sich auf einen überschaubaren Ausschnitt der Fragestellung konzentriert,
nämlich auf Forschungsdaten, die Promovierende
im Rahmen ihres Dissertationsprojekts generieren
und veröffentlichen. Damit sind alle Roh-, Primäroder Sekundärdaten ausgeschlossen, die nicht als
Teil oder Anlage einer Dissertation publiziert werden. Zugleich umfasst das Projekt aber die ganze
Bandbreite an Disziplinen und Forschungskulturen, die an einer Universität existieren, sodass eine
Adaption der Projektergebnisse auf andere Bereiche
möglich ist. Projektpartner des DFG-geförderten
Projektes sind die Humboldt-Universität zu Berlin
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
29
Forum
Projektpartner
HU und DNB
(HU), namentlich der Computer- und Medienservice (CMS) und die Universitätsbibliothek der HU,
sowie die Deutsche Nationalbibliothek. Das Projekt hat eine Laufzeit von zwei Jahren, begann im
Frühjahr 2016 und wird voraussichtlich Mitte 2018
beendet sein. Beide Projektpartner haben ein großes Interesse an der Durchführung dieses Projektes,
das sowohl die bibliotheksseitige Archivierung und
Publikation von Forschungsdaten, als auch die Unterstützung von Studierenden und Lehrenden als
Manager von Forschungsdaten im Blickfeld hat.
Inhalte des Projektes
Projekt
eDissPlus
Zum Sammelauftrag der Deutschen Nationalbibliothek gehören seit jeher schon Dissertationen.
Immer mehr setzt sich nunmehr die Auffassung
durch, dass auch Forschungsdaten, die mit einer
Dissertation publiziert werden, zu diesem Auftrag
gehören. Das hat zur Folge, dass die Deutsche Nationalbibliothek ihren Pflichtablieferungsworkflow
für Dissertationen entsprechend weiterentwickeln
muss, was in eDissPlus beispielhaft und in enger
Abstimmung mit der Humboldt-Universität geschieht. In Berlin entwickeln der CMS und die
Universitätsbibliothek einen Ingest-Prozess für die
Publikation von elektronischen Dissertationen
mit Forschungsdaten auf dem Publikationsserver
der HU. Dabei soll auch eine Schnittstelle zum
Workflow der Deutschen Nationalbibliothek bereitgestellt werden. Zu den weiteren gemeinsamen
Aufgaben gehören die persistente Adressierung der
Forschungsdaten und die Anpassung von XMetaDissPlus, dem Metadatenschema der Deutschen
Nationalbibliothek für Dissertationen.
Außerdem sollen Promovierende sowie Betreuerinnen und Betreuer von Promotionen durch Beratungsangebote und Guidelines auf die Generierung
und Abgabe adäquat aufbereiteter Forschungsdaten
vorbereitet werden. In die Erarbeitung solcher Angebote fließen wiederum Vorgaben der Deutschen
Nationalbibliothek ein, die im oben geschilderten
Rahmen diese Daten sammelt oder referenziert.
Aus dem Projekt eDissPlus dürften sich interessante und zukunftsweisende Perspektiven für die Langzeitarchivierung von Forschungsdaten ergeben.
Das Thema ist derzeit »en vogue«, wie viele Publikationen und Konferenzbeiträge zeigen. Dabei
handelt es sich nicht um eine Modeerscheinung,
sondern um eine wirklich drängende Aufgabe, zu
deren Lösung – wie es das Gutachten des Rats für
Informationsinfrastrukturen formuliert – »es klarer
Regeln, eines Zielsystems und geeigneter Unterstützungsfunktionen«6 bedarf.
Anmerkungen
1 Siehe hierzu die in Teilen immer noch aktuelle Übersicht in: Neuroth, Heike (Hrsg.). Langzeitarchivierung von Forschungsdaten:
Eine Bestandsaufnahme. Version 1.0. Boizenburg: Hülsbusch, 2012
2 Rat für Informationsinfrastrukturen (Hrsg.). Leistung aus Vielfalt: Empfehlungen zu Strukturen, Prozessen und Finanzierung des
Forschungsdatenmanagements in Deutschland. 2016, S. 2. [Zugriff am: 26. Juli 2016]. Verfügbar unter: <http://www.rfii.de/?wpdmdl=1998>
3 Vgl. ebd., S. 45ff
4 Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.). Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis:. Denkschrift. Ergänzte Auflage. 2013,
S. 21. [Zugriff am: 26. Juli 2016]. Verfügbar unter: <http://doi.org/10.1002/9783527679188.oth1>
5 Neuroth, Heike (Hrsg.). Nestor-Handbuch: eine kleine Enzyklopädie der digitalen Langzeitarchivierung. Version 2.0. Boizenburg:
Hülsbusch, 2009, S. 1:3
6 Rat für Informationsinfrastrukturen (Hrsg.), a.a.O., S. 11.
30
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Zukunftsweisendes
Projekt mit drängender Aufgabe
Forum
Eric W. Steinhauer
10 Jahre Pflichtablieferung von Netzpublikationen – Eine Baustelle wird besichtigt
Einleitung
Umbenennungsdiskussion
Ausweitung des
Sammelauftrags
auf Neltzpublikationen
Digitales
Gedächtnis
Am 29. Juni 2006 ist das »Gesetz über die Deutsche
Nationalbibliothek« (DNBG) in Kraft getreten. Es
hat das »Gesetz über die Deutsche Bibliothek« vom
31. März 1969 mit zwei wesentlichen Änderungen
ersetzt, nämlich der Umbenennung der Bibliothek
in »Deutsche Nationalbibliothek« (DNB) und der
Ausweitung ihres Sammelauftrages auf Netzpublikationen. Während die neue Zuständigkeit der Bibliothek einhellig begrüßt, ja als längst überfällig
bezeichnet wurde, gab es um den neuen Namen
im Gesetzgebungsverfahren politischen Streit. Mit
Blick auf die föderale Struktur des deutschen Bibliothekswesens, wegen des fehlenden Altbestandes
der Nationalbibliothek sowie der Nichtsammlung
ausländischer wissenschaftlicher Literatur, und um
der besseren kulturpolitischen Sichtbarkeit der
Staatsbibliotheken in Berlin und München willen
sprachen sich der Bundesrat sowie eine bemerkenswerte Koalition der Fraktionen der F.D.P. und der
LINKEN gegen eine Umbenennung aus, konnten
aber die Mehrheit des Bundestages nicht überzeugen. Das von der Bundesregierung eingebrachte
Gesetz wurde mit der Modifikation, dass dem Verwaltungsrat der DNB künftig auch zwei Vertreter
des Deutschen Bundestages angehören, mit breiter
Mehrheit am 6. April 2006 angenommen.
Nach zehn Jahren kann man rückblickend sagen,
dass die Umbenennungsdiskussion aus heutiger Sicht kaum noch nachvollziehbar ist. Dieses
Thema, wenn es überhaupt je eines war, hat sich
vollkommen erledigt. Ganz anders verhält es sich
mit der im Parlament einhellig als selbstverständlich und überfällig bezeichneten Ausweitung des
Sammelauftrages der DNB auch auf Netzpublikationen. Man wollte die Bibliothek mit dem Gesetz
»fit machen für das 21. Jahrhundert« (PlPr. 16/11,
S. 770) und für die »Erhaltung des digitalen kollektiven Gedächtnisses« (PlPr. 16/32, S. 2676) sorgen.
Es wäre schließlich eine »kulturpolitische Katastro-
phe, wenn bedeutsame digital im Netz publizierte
Dokumente der Nachwelt nicht erhalten blieben«
(PlPr. 16/32, S. 2677). Die nachfolgenden Ausführungen werden zeigen, dass der Gesetzgeber sich
vielleicht etwas eingehender mit diesem Thema hätte befassen sollen, anstatt einen symbolischen Streit
um das Wort »Nationalbibliothek« auszutragen.
Der neue Sammelauftrag
für Netzpublikationen
Mit dem Ziel, ein umfassendes »digitales Archiv«
als »kulturelles Gedächtnis einer Gesellschaft«
(PlPr. 16/11, S. 775) zu schaffen, wurden im Gesetzgebungsverfahren drei Wege des Sammelns
ins Auge gefasst, die mit der Verabschiedung des
DNBG offenbar etabliert werden sollten. Zunächst
wird erstens für unkörperliche »Medienwerke eine
Ablieferungspflicht für inländische Stellen, die im
urheberrechtlichen Sinn das Recht der öffentlichen
Zugänglichmachung haben«, eingeführt. Zweitens
wird die Möglichkeit eröffnet, dass die DNB mit
dem Ablieferungspflichtigen ein automatisiertes
Einsammelverfahren vereinbart. Drittens soll nach
Vorstellung des Gesetzgebers die DNB in periodischen Abständen durch so genanntes Harvesting
das deutsche Internet, das etwa alle Domains mit
der Endung ».de« umfassen soll, vollständig sichern
(BR-Drs. 396/05, S. 18). Die ersten beiden Wege
entsprechen, abgesehen von der allein technisch
inspirierten Arbeitserleichterung im zweiten Weg,
im Wesentlichen dem herkömmlichen Verfahren
der Ablieferung von Druckwerken durch die publizierende Stelle. Der dritte Weg hingegen ist demgegenüber neu, weil hier Inhalte gesammelt werden
sollen, die nicht mehr herkömmlich bibliografisch
erschlossen, sondern bloß für das kulturelle Gedächtnis gesichert werden. Offenbar soll die DNB
einen großen Datenspeicher anlegen, in dem dann
künftige Generationen recherchieren können.
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Drei Wege zum
»digitalen Archiv«
31
Forum
Die »Ablieferung« unkörperlicher
Medienwerke
Ablieferung
Druckschriften
Übermittlung
elektronischer
Kopien
Fülle urheberrechtlicher
Probleme
32
Nach § 16 S. 1 DNBG müssen unkörperliche Medienwerke an die Bibliothek »abgeliefert« werden. In
der Welt der Druckschriften stellt die Ablieferung
die nach § 929 S. 1 BGB zur Eigentumsübertragung
notwendige Übergabe dar. Nach der Ablieferung
wird die DNB Eigentümerin der Druckschrift mit
der Konsequenz, dass sie mit diesem Gegenstand
nach Belieben verfahren kann. Soweit die Nutzung
der Druckschrift eine Verbreitung im Sinne des
Urheberrechts darstellt, hat sich diese nach § 17
S. 2 UrhG erschöpft, so dass jedenfalls das Urheberrecht der Schaffung eines dauerhaften und nutzbaren kulturellen Gedächtnisses nicht im Wege steht.
Was passiert aber, wenn das Medienwerk keinen
körperlichen Träger mehr hat? Zunächst kann es,
streng genommen, technisch gar nicht abgeliefert,
sondern nur übermittelt werden mit dem Ergebnis,
dass sich nach der Übermittlung auf den Systemen
der DNB eine Kopie dieses Werkes befindet. Es
tritt auch keine Erschöpfung von urheberrechtlichen Verwertungsrechten ein. Daraus ergeben sich
einige im Pflichtexemplarrecht bisher unbekannte
Rechtsprobleme.
Die Kopie im System der DNB ist ein urheberrechtlich geschütztes Werk. Dieses wird bei seiner
weiteren Nutzung in der Bibliothek, die zum einen
in der Langzeitarchivierung, zum anderen in der
Zugänglichmachung an Bildschirmen wenigstens
in einem Lesesaal der DNB besteht, immer wieder
vervielfältigt. Diese Vervielfältigungen greifen jedes
Mal in das dem Rechteinhaber ausschließlich zustehende Vervielfältigungsrecht aus § 16 UrhG ein.
Wo die DNB bei herkömmlichen Druckschriften
mit der Ablieferung Eigentum erwirbt, bekommt
sie bei unkörperlichen Medienwerken zunächst einmal eine Fülle urheberrechtlicher Probleme. Dies
gilt erst recht, wenn die Bibliothek im Wege des
Harvesting von sich aus große Teile des Internet
einsammelt, also kopiert.
Dass die Bibliothek bei ihrer Arbeit mit unkörperlichen Medienwerken auf das Urheberrecht achten
soll und muss, hat der Gesetzgeber im Zusammenhang mit der Langzeitarchivierung, die er über § 53
Abs. 2 S. 1 Nr. 2 i.V.m. S. 2 und 3 UrhG gewährleistet sieht, sowie der Benutzungsordnung in der
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Gesetzesbegründung ausdrücklich festgestellt (BRDrs. 396/05, S. 20 und 22). Es ist aber fraglich, ob
er die urheberrechtlichen Probleme bei den unkörperlichen Medienwerken in ihrer ganzen Tragweite
erfasst hat und ob ein Verweis auf das geltende Urheberrecht hilfreich ist.
Urheberrechtliche Lösungsansätze
Zunächst ist festzuhalten, dass das DNBG selbst
keine urheberrechtlichen Bestimmungen, insbesondere keine Schrankenbestimmungen enthält, die
einen Eingriff in urheberrechtliche Verwertungsrechte rechtfertigen können. Das Gesetz, vor allem
aber seine Begründung beschreiben jedoch verschiedene, ausdrücklich gewollte Verhaltensweisen
der DNB in Bezug auf unkörperliche Medienwerke,
die urheberrechtlich relevant sind und von deren
Zulässigkeit der Gesetzgeber offenbar ausgegangen
ist. Zu nennen wären (1) das periodische Harvesten
des deutschen Internet, (2) die digitale Langzeitarchivierung gerade der unkörperlichen Medienwerke, (3) die Nutzung dieser Werke im Lesesaal der
Bibliothek, was Verwertungsberechtigte übrigens
nicht verhindern können sollen (BR-Drs. 396/05,
S. 22) sowie (4) die Ersatzbeschaffung bei Nichtablieferung in § 14 Abs. 4 DNBG, die offenbar auch
für Netzpublikationen gilt.
Auf Grundlage der Schrankenbestimmungen des
Urheberrechtsgesetzes, das die DNB nach dem Willen des Gesetzgebers ja ausdrücklich beachten soll,
kann in aller Kürze dies gesagt werden: Das periodische Harvesten des deutschen Internet (1) durch die
Bibliothek ist nach § 53 UrhG nicht möglich, weil
es eine bestandserweiternde Vervielfältigung aktueller Inhalte ist. Die digitale Langzeitarchivierung (2)
kann zwar nach der Archivschranke des § 53 Abs.
2 S. 1 Nr. 2 UrhG erlaubt sein, doch ist fraglich,
ob die dabei notwendigen sehr vielen redundanten
Kopiervorgänge hiervon noch gedeckt sind. Soweit
unkörperliche Medienwerke eine Datenbankstruktur haben, was gerade bei Netzpublikationen auf
Plattformen immer häufiger der Fall ist, scheidet
eine Archivkopie in jedem Fall aus, denn § 53 gilt
nicht für Datenbanken, was sich aus §§ 53 Abs. 5,
87c UrhG ergibt. Die Nutzung der Medienwerke
durch die Öffentlichkeit im Lesesaal (3) kann zwar
Schrankenbestimmungen des
Urheberrechtsgesetzes
Forum
Schrankenregelungen
unzureichend für
unkörperliche
Medienwerke
Ablieferungspflicht unkörperlicher Medienwerke
über die Leseplatzschranke des § 52b UrhG erlaubt
sein, allerdings ist diese Norm, die für diese Art
von Nutzungshandlung offenbar notwendig ist,
erst zum 1. Januar 2008, also 18 Monate nach (!)
Inkrafttreten des DNBG eingeführt worden. Bei der
Ersatzbeschaffung bei Nichtablieferung (4), die ja
bei unkörperlichen Medienwerken wohl nichts anderes ist als die eigenmächtige Speicherung einer
frei zugänglichen Online-Ressource, gilt das gleiche
wie beim periodischen Harvesten: Eine bestandserweiternde Kopie kann die DNB hier ebenfalls nicht
vornehmen.
Insgesamt also lassen sich die vier vom Gesetzgeber
vorgestellten Szenarien im Umgang mit unkörperlichen Medienwerken nur sehr unvollkommen mit
den geltenden urheberrechtlichen Schrankenregelungen in Übereinstimmung bringen.
Hier liegt offenbar ein blinder Fleck im Gesetzgebungsverfahren. Das Urheberrecht, nicht der neue
Name der DNB wären das eigentliche Thema gewesen, mit dem der Bundestag sich eingehend hätte
befassen müssen. Trotz dieser sehr unbefriedigenden Ausgangslage hat sich die DNB ihrem neuen
Sammelauftrag gestellt. Neben wichtigen technischen Entwicklungen konnte sie in Zusammenarbeit mit einigen Ablieferungspflichtigen bereits
eine beachtliche Zahl unkörperlicher Medienwerke
in ihren Bestand aufnehmen, auch wenn sie von
dem gesetzgeberischen Ziel einer wenigstens repräsentativen Dokumentation des deutschen Internet
noch weit entfernt ist.
Wenn das Urheberrechtsgesetz der DNB nur unzureichende Befugnisse einräumt, müssen daher die
Ablieferungspflichtigen, die nach der Neufassung
des Pflichtablieferungsrechts im DNBG ja die urheberrechtlich zur öffentlichen Zugänglichmachung
Berechtigten sind, der DNB bei der Ablieferung
ausreichende Nutzungsrechte einräumen. In funktioneller Hinsicht ersetzt so das Nutzungsrecht am
unkörperlichen Medienwerk das beim körperlichen
Medienwerk zu übertragene Eigentum am abgelieferten Druckerzeugnis. Und wie bei der Abgabe
eines Buches an die DNB der Ablieferungspflichtige, dem klar ist, das er das Buch nie wiedersehen
wird, schlüssig die für die Eigentumsübertragung
notwendigen Willenserklärungen gegenüber der Bibliothek abgibt, so dürfte mit der Übermittlung
eines unkörperlichen Medienwerkes zugleich die
Einräumung der für die Aufgaben der DNB notwendigen Nutzungsrechte verbunden sein. Mit
Blick auf die gesetzlichen Aufgaben der Bibliothek
ist jedem Ablieferungspflichtigen klar, dass das Medienwerk dauerhaft gespeichert und jedenfalls im
Lesesaal auch der Öffentlichkeit zugänglich ist.
Dem stimmt er mit der Ablieferung zu und räumt
der Bibliothek damit schlüssig eine entsprechende
Rechtsposition ein.
Von den drei Fällen der vom Gesetzgeber vorgesehenen Sammeltätigkeit der DNB im Bereich der Netzpublikationen können über die Annahme schlüssig
eingeräumter Nutzungsrechte als funktionalem Ersatz zum Sacheigentum am körperlichen Druckerzeugnis die beiden in § 16 DNBG vorgesehen Fälle
der Ablieferung und der Bereitstellung zur Ablieferung zunächst zufriedenstellend gelöst werden.
Offen bleiben freilich die Fälle, in denen die Bibliothek große Teile des Internet harvesten möchte
und in denen Ablieferungspflichtige trotz Aufforderung ihrer Ablieferungspflicht nicht nachkommen. In beiden Fällen hat die Bibliothek derzeit
keine Möglichkeit, von sich aus Netzinhalte ohne
ein Einverständnis des Rechteinhabers in ihren Bestand zu übernehmen, dort zu archivieren und ihren Nutzern zur Verfügung zu stellen.
Die Entwicklung in den Bundesländern
Die DNB ist eine Einrichtung des Bundes. Sie übt
im gesamtstaatlichen kulturpolitischen Interesse
das Pflichtexemplarrecht für die Bundesrepublik
Deutschland aus. In der Verfassungsordnung des
Grundgesetzes ist dies ein Ausnahmefall, denn eigentlich sind die Länder im Rahmen ihrer Kulturhoheit, die zum Kernbereich ihrer verfassungsrechtlich
sogar mit der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3
GG geschützten Eigenstaatlichkeit gehört, für die
Sammlung von Pflichtexemplaren zuständig. Daher
gibt es auch in jedem Bundesland gesetzliche Bestimmungen zur Sammlung und Ablieferung von
Pflichtexemplaren. Es liegt auf der Hand, dass die
Länder genauso wie der Bund auf den Medienwandel reagieren und den Sammelauftrag ihrer Landesbibliotheken ebenfalls um Netzpublikationen mit
Bezug zum jeweiligen Bundesland erweitern wollen.
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Kulturhoheit
33
Forum
Pflichtexemplarrecht der Länder
Reichweite des
Nutzungsrechts
gesetzlich konkretisieren
34
Vorbild hierfür war zunächst die Regelung im
DNBG. Sehr schlank hat Baden-Württemberg als
erstes Bundesland sein Pflichtexemplarrecht novelliert und umstandslos erklärt, es gelte für Netzpublikationen entsprechend. Probleme des Einsammelns und mit der Ablieferung einzuräumender
Nutzungsrechte haben erstmals die Länder Hessen und Nordrhein-Westfalen aufgegriffen, denen
Sachsen, Rheinland-Pfalz, das Saarland und jüngst
Schleswig-Holstein gefolgt sind. Brandenburg hat
die Sammlung reiner Netzpublikationen explizit
ausgeschlossen und sammelt nach Ablieferung
nur, was auch in der Printwelt eine Entsprechung
hat. Länder wie Bayern und Berlin haben bis heute
noch nicht mit der Pflichtablieferung von Netzpublikationen begonnen.
Die fortschrittlicheren Regelungen in den Ländern
unterscheiden sich vom DNBG in zwei wesentlichen Punkten: Sie gestatten erstens den Bibliotheken das aktive Einsammeln nicht übermittelter
Netzpublikationen und beschreiben zweitens ausführlich, welche konkreten Nutzungsrechte der
Bibliothek mit Blick auf Langzeitarchivierung und
Nutzung durch die Öffentlichkeit zustehen. Der
zuletzt genannte Punkt ist rechtlich unproblematisch, denn er konkretisiert die bei der Übermittlung des Medienwerkes für die Einräumung der
notwendigen Nutzungsrechte ohnehin abzugebende Willenserklärung. Da es, wie sich aus § 31
Abs. 5 UrhG ergibt, ein Nutzungsrecht »an sich«
nicht gibt, ist es sinnvoll, dessen Reichweite gesetzlich zu konkretisieren. Der Ablieferungspflichtige
weiß dann, woran er ist. Da die verpflichtende
Einräumung eines Nutzungsrechts einen Eingriff
in das in Art. 14 GG geschützte geistige Eigentum
des Ablieferungspflichtigen darstellt, scheint eine
gesetzliche Klarstellung aus Gründen der Wesentlichkeit auch geboten zu sein und ist der doch eher
diffusen, erst durch umständliche Auslegung zu ermittelnden Regelung des DNBG vorzuziehen.
Erheblich schwieriger zu begründen ist die Befugnis
der Pflichtexemplarbibliothek, von sich aus nicht
abgelieferte Netzpublikationen einzusammeln und
dann wie ein abgeliefertes Medienwerk zu nutzen.
Tatsächlich sind hier die Bibliotheken in Hessen,
Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein zu mehr
befugt, als derzeit die DNB. Auf den ersten Blick
könnte man meinen, hier maße sich der Landesge-
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
setzgeber eine nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 9 GG allein
dem Bund zustehende urheberrechtliche Gesetzgebungsbefugnis an.
Tatsächlich aber haben wir es hier wohl eher mit einer inhaltsbestimmenden Regelung im Bereich des
Eigentums zu tun, zu dem auch das Urheberrecht
gehört. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner
berühmten Pflichtexemplarentscheidung vom 14.
Juli 1981 festgestellt, dass Pflichtexemplarbestimmungen das Eigentumsrecht inhaltlich in der Weise ausgestalten, dass schon bei der Produktion von
Druckwerken das Eigentum an ihnen mit einer
Ablieferungspflicht belastet ist, die dann durch die
Auswahl eines konkret abzuliefernden Stückes nur
aktualisiert wird. Überträgt man diesen Gedanken
auf die unkörperlichen Medienwerke, die jedenfalls
nicht stärker als das Sacheigentum in Art. 14 GG
geschützt sind, so wird das Verwertungsrecht des
Ablieferungspflichtigen sogleich mit einem entsprechenden Nutzungsrecht der Pflichtexemplarbibliothek belastet, was nichts anderes bedeutet,
als dass der Bibliothek dieses Recht sogleich nach
der öffentlichen Zugänglichmachung auch zusteht
und sie daher auch von sich aus ein nicht übermitteltes Werk in ihren Bestand übernehmen und
dort ihrem gesetzlichen Auftrag gemäß nutzen
kann. Die Gesetzgebungskompetenz zur Ausgestaltungsgesetzgebung im Bereich des Eigentums
folgt übrigens stets der Hauptmaterie, hier also
dem Pflichtexemplarrecht, für das die Länder zweifelsfrei zuständig sind.
Selbst wenn man in den neuen Pflichtexemplarbestimmungen der Länder gleichwohl eine unzulässige urheberrechtliche Regelung sehen wollte,
so wäre zu bedenken, dass dann die Kulturhoheit
der Länder wegen der unvermeidlichen Vervielfältigungen im Online-Bereich allein wegen der Bundeskompetenz im Urheberrecht vor dem Internet
endete, ein Ergebnis, das verfassungsrechtlich kaum
hinnehmbar ist, zählt die Kulturhoheit doch zum
verfassungsrechtlich besonders geschützten Kernbereich der Länderstaatlichkeit. Zudem wären die
Länder nach allgemein anerkannten Grundsätzen
des Annexes und des Sachzusammenhangs sogar
zu genuin urheberrechtlichen Regelungen befugt,
wenn ein in ihre Kompetenz fallender Sachverhalt
sonst nicht sinnvoll geregelt werden kann. Für das
Ziel einer möglichst vollständigen Sammlung von
Inhaltsbestimmung des
Eigentums
Annexkompetenz
Forum
Netzpublikationen wird man einen solchen Sachzusammenhang annehmen dürfen.
Konsequenzen für das DNBG
Aufnahme von
Weiterentwicklungen ins DNBG
Das DNBG war Vorbild für die Ausweitung des
Pflichtexemplarrechts auf Landesebene. Die Länder
ihrerseits haben die Bestimmungen in den letzten
Jahren konzeptionell weiterentwickelt. Es wäre sachgerecht, diese Entwicklungen in das DNBG zu übernehmen. Das betrifft sowohl die Konkretisierung
der der Bibliothek mit der Ablieferung einzuräumenden Nutzungsrechte als auch die Befugnis der
Bibliothek zum selbstständigen Einsammeln von
Netzpublikationen. Fraglich ist aber, ob es hier mit
einer bloß pflichtexemplarrechtlichen Regelung getan ist oder ob nicht auch das Urheberrechtsgesetz
selbst geändert werden muss. Richtigerweise wird
man wohl beide Wege beschreiten müssen.
Die bisherige Praxis der DNB geht bei der Ablieferung von einer schlüssigen Nutzungsrechtseinräumung aus. Das setzt jedoch voraus, dass der
Abzuliefernde zu einer entsprechenden Rechtseinräumung auch berechtigt ist. In den Fällen,
in denen beispielsweise Abbildungen oder andere
Fremdinhalte nicht auf Grundlage des Zitatrechts,
sondern erworbener Lizenzen genutzt werden, ist
das aber fraglich. Viel spricht dafür, dass der Abliefernde nicht berechtigt ist, der DNB an diesen Abbildungen mit der Ablieferung auch Nutzungsrechte einzuräumen. Hier kann der Bibliothek wie auch
den Pflichtexemplarbibliotheken der Länder allein
eine entsprechende Schrankenbestimmung im Urheberrechtsgesetz helfen.
Dass eine so kleinteilige Betrachtungsweise, die
nach einzelnen Werkinhalten fragt, geboten ist,
zeigt übrigens die Gesetzgebung zu den verwaisten
Werken in § 61 UrhG, wo neben einem konkreten
Werk auch alle (!) Bestandsinhalte auf mögliche
Rechteinhaber zu überprüfen sind. Im Pflichtexemplarrecht kann, will man urheberrechtlich sauber
arbeiten, nichts anderes gelten.
Weitere Herausforderungen
Die Sammlung von Netzpublikationen und ihr
dauerhafter Erhalt sind technisch herausfordernd.
Wir haben gesehen, dass es hier auch rechtliche
Probleme gibt, die gerade die flächige Speicherung
vieler Webseiten verhindern. Wenn die Ziele des
DNBG noch gültig sind, nämlich ein digitales kulturelles Gedächtnis aufzubauen, wird der Gesetzgeber hier nachbessern müssen.
Allerdings gibt es neben den rechtlichen auch konzeptionelle Fragen, die hier nur kurz angerissen
werden können. Liest man in den Gesetzgebungsmaterialien des DNBG, so stand dem Gesetzgeber
eine relativ klar umrissene Form von Netzpublikation vor Augen. Social Media freilich gab es damals
nur in allerersten Ansätzen. Um heute ein authentisches Abbild der Netzöffentlichkeit zu haben, wird
man Plattformen wie Facebook und Twitter ebenfalls speichern müssen. Kann das eine Bibliothek
leisten? Wäre dafür nicht eine neue Gedächtnisinstitution ganz eigener Art nötig? Auch muss diskutiert werden, welche Netzinhalte überhaupt Teil des
kulturellen Gedächtnisses sein sollen. Im Bereich
der Druckschriften ist das klar, im Online-Bereich
ist hier noch vieles im Fluss. Die Fachleute im Bibliothekswesen haben sich in der Vergangenheit
vor allem mit technischen Aspekten der Netzpublikationen befasst. Es wäre sehr wichtig, nun auch
eine medien- beziehungsweise kulturwissenschaftliche Diskussion folgen zu lassen.
Technische
Aspekte
Social Media
Eine bleibende Herausforderung
In der zweiten Lesung des DNBG am 6. April 2006
hat der 2015 verstorbene Bundestagsabgeordnete
Philipp Mißfelder (CDU) sehr richtig von einem
digitalen Wettbewerb gesprochen, in den die öffentliche Hand mit Anbietern wie Google treten
muss, auch um die Verantwortung für das kulturelle Gedächtnis nicht aus der Hand zu geben. Mißfelder selbst war eine Person der Zeitgeschichte. Auf
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
35
Forum
seine Webseite als Quelle zu persönlichen Angaben
verweist sogar ein Normdatensatz im Katalog der
DNB. Die Seite selbst jedoch ist mittlerweile offline. Obwohl die DNB seit 2006 einen entsprechenden gesetzlichen Auftrag hat, hat sie Mißfelders Seite nicht gesichert. Bei der privaten amerikanischen
Initiative »archive.org«, die übrigens unter einem
wesentlich liberaleren Urheberrecht als dem deutschen arbeiten kann, finden sich demgegenüber
200 (!) gespeicherte Versionen.
Mißfelder war in der zweiten Lesung zum DNBG
übrigens der Ansicht, dass der »Gesetzentwurf
ein entscheidender Beitrag sein kann, […] diese
Fragestellungen [gemeint das digitale kulturelle
Gedächtnis] zu bearbeiten. Wir sollten uns um
dieses Thema und nicht mehr um die Frage der
Umbenennung kümmern. Dies ist gleich nach der
Abstimmung ohnehin entschieden und deswegen
können wir uns getrost auf das konzentrieren, was
tatsächlich wichtig ist, nämlich die neuen techno-
logischen Herausforderungen anzunehmen.« (PlPr.
16/32, S. 2678 f.) Das war weitsichtig. Vermutlich
wäre Mißfelder aber trotz allen Problembewusstseins ziemlich verwundert gewesen, dass zehn Jahre
später sogar die simple Speicherung seiner eigenen
Webpräsenz noch eine Herausforderung zu sein
scheint. Es ist an der Zeit, dass der Gesetzgeber die
Erfahrungen und Probleme der letzten zehn Jahre
mit der Sammlung und Erhaltung von Netzpublikationen gründlich auswertet und im Pflichtexemplar- aber auch im Urheberrecht endlich einen
angemessenen Rechtsrahmen für das digitale kulturelle Gedächtnis schafft, dessen Einrichtung 2006
jedenfalls politisch völlig unumstritten war.
Prof. Dr. jur. Eric W. Steinhauer: Dezernent für Medienbearbeitung und Fachreferent für Recht und Allgemeines, sowie Literaturwissenschaft (komm.), Universitätsbibliothek Hagen, Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin
E-Mail-Adresse: [email protected]
Anmerkungen
Weiterführende Literatur
Euler, Ellen: Web-Harvesting vs. Urheberrecht, in: Computer und Recht 2008, 64 – 68.
Heckmann, Jörn, und Marc Philipp Weber: Elektronische Netzpublikationen im Lichte des Gesetzes über die Deutsche Nationalbibliothek (DNBG), in: AfP – Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht 2008, 269 – 276.
Hinte, Oliver, und Eric Steinhauer (Hrsg.): Die Digitale Bibliothek und ihr Recht – ein Stiefkind der Informationsgesellschaft?: Kulturwissenschaftliche Aspekte, technische Hintergründe und rechtliche Herausforderungen des digitalen kulturellen Speichergedächtnisses, Münster 2014.
Klimpel, Paul, und Ellen Euler (Hrsg.): Der Vergangenheit eine Zukunft : kulturelles Erbe in der digitalen Welt. – Berlin 2015.
Steinhauer, Eric: Pflichtablieferung von Netzpublikationen: urheberrechtliche Probleme im Zusammenhang mit der Ablieferungspflicht von Netzpublikationen an die Deutsche Nationalbibliothek, in: Kommunikation & Recht 2009, S. 161 – 166.
Ders.: Die Sammlung, Bewahrung und Verwaltung von Netzpublikationen durch Pflichtexemplarbibliotheken in Deutschland,
in: Bibliotheksdienst 2015, S. 1.101 – 1.113.
36
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Angemessener
Rechtsrahmen für
Pflichtexemplarund Urheberrecht
Forum
Sören Flachowsky
Der gelbe Stern in der Wissenschaft
Das »Erkundungsreferat« des
Propagandaministeriums in der
Deutschen Bücherei Leipzig und
die Arbeiten an einer so genannten »Judenbibliografie«
Die Steuerung der Schrifttumspolitik im Propagandaministerium
Schrifttumspolitik
Am 13. März 1933 wurde der Reichspropagandaleiter der NSDAP und Gauleiter von Berlin, Joseph
Goebbels, zum Minister für Volksaufklärung und
Propaganda (RMVP) ernannt.1 Das neue Ressort
setzte sich zum größten Teil aus Geschäftsbereichen zusammen, die von bestehenden Ministerien
und Behörden abgekoppelt wurden. So übernahm
das RMVP etwa vom Reichsinnenministerium die
Betreuung der Deutschen Bücherei (DB) in Leipzig.2 Ende Juni 1933 erließ Hitler eine Verordnung,
die dem RMVP die Verantwortung »für alle Aufgaben der geistigen Einwirkung auf die Nation,
der Werbung für Staat, Kultur und Wirtschaft, der
Unterrichtung der in- und ausländischen Öffentlichkeit über sie und der Verwaltung aller diesen
Zwecken dienenden Einrichtungen« übertrug.3
Damit übernahm Goebbels die Federführung auf
den Gebieten der Massenmedien, der Kultur und
der nationalsozialistischen Feiergestaltung. Die Betreuung der einzelnen Gebiete erfolgte in den Ministerialabteilungen Haushalt und Wirtschaft (I),
Propaganda (II), Rundfunk (III), Presse (IV), Film
(V), Theater (VI), Volksbildung (VII) und Schrifttum (VIII).4
Für die Belange der Deutschen Bücherei war die
im Oktober 1934 ins Leben gerufene Abteilung
VIII zuständig. Der Schrifttumsabteilung oblag
zudem die Betreuung von Leih-, Werk-, Jugend-,
Grenzland-, Vereins- und Kirchenbüchereien. Darüber hinaus steuerte sie das so genannte Buchverbotswesen, die Überwachung des Buchmarktes
und des Verlagswesens, die Betreuung literarischer
Gesellschaften, die Organisation von Buchausstellungen, den Buchexport sowie die Ausrichtung
des deutschen Schrifttums.5 Allerdings wurde das
Gebiet der Schrifttumspolitik im RMVP zunächst
eher nachlässig behandelt, da bei Goebbels und
seiner Entourage noch weitgehende Unklarheit darüber herrschte, welche kulturpolitischen Aufgaben
zuerst in Angriff zu nehmen seien. Es dauerte jedoch nicht lange, bis das Ministerium begann, sich
auch stärker in diesem Bereich zu engagieren, zumal Goebbels vehement danach strebte, das durch
zahlreiche unkoordinierte »Säuberungsaktionen«
verursachte Durcheinander im deutschen Kulturleben unter seiner Kontrolle zu ordnen und die »kulturelle Revolution« des NS-Regimes im eigenen Ministerium zu institutionalisieren.6 Zu diesem Zweck
rief Goebbels am 22. September 1933 die Reichskulturkammer (RKK) ins Leben, die seine kulturpolitische Monopolstellung gegen den Einfluss
rivalisierender Interessengruppen absichern sollte.
Die RKK bestand aus einer Schrifttums-, einer Presse-, einer Rundfunk-, einer Theater-, einer Film- und
einer Musikkammer sowie einer Reichskammer der
bildenden Künste. Da alle »Kulturschaffenden« zur
Mitgliedschaft in der RKK verpflichtet waren und
diese sich auch das Recht herausnahm, Berufsverbote auszusprechen, übte sie eine weitgehende Kontrolle über ihre Mitglieder aus. Für die Literaturpolitik kam der Reichsschrifttumskammer (RSK) eine
wichtige Bedeutung zu, da auch sie Einfluss auf die
Buchzensur, das Büchereiwesen, den Buchhandel
und das Verlagswesen ausübte. Obwohl die »Abteilung Schrifttum« des RMVP der RSK übergeordnet
war, konnte die Abteilung in den ersten Jahren ihres Bestehens nur wenig Einfluss auf das kulturelle
Geschehen ausüben. Das hing damit zusammen,
dass sich die Goebbels unterstellten Ämter durch
Intrigen und Machtkämpfe selbst lähmten. Erst
nach einem großen Revirement wurde der Dualismus zwischen der RSK und dem Ministerium 1938
aufgehoben und die Schrifttumsabteilung auf Kosten der RSK aufgewertet. Infolgedessen spielte die
Abteilung erst ab 1938 eine zentrale Rolle bei der
Überwachung des Buchmarktes und der Indizierung des unerwünschten Schrifttums.7
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Schrifttumsabteilung des RMVP
faktisch erst ab
1938 maßgebend
37
Forum
Die Deutsche Bücherei im Fokus
der NS-Schrifttumsbehörden
»NS-Bibliografie« – PPK-Außenstelle an der DB
»Gegnerforschung und
-bekämpfung« –
SD-Dependance
an der DB
38
Die anfängliche Paralyse des RMVP nutzten die
Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze
des NS-Schrifttums (PPK) unter Philipp Bouhler
und die von Alfred Six geleitete Kulturabteilung
in der Berliner SD-Zentrale dazu, ihren Einfluss
auf die Literaturpolitik auszudehnen.8 Beide Behörden stützten sich bei ihren Arbeiten auf die
Deutsche Bücherei, in der sie sogar eigene Außenstellen unterhielten. Die PPK-Dependance an der
DB ermöglichte den PPK-Beamten die Zensur der
Verlagsproduktion, diente aber in erster Linie als
»bibliografische Auskunftsstelle« und Plattform
für die Erstellung einer »Nationalsozialistischen
Bibliografie«. Diese Bibliografie hatte die DB bereits 1933 in Eigenregie als »Sonderarbeit« in Angriff genommen. Ihr wurde von Bouhler solche
Bedeutung beigemessen, dass er Anfang 1935 die
Einrichtung einer besonderen Verbindungsstelle
an der DB verfügte, die bibliografische Auskünfte
über NS-Schrifttum erteilte und die »politische Bearbeitung der NS-Bibliografie« koordinierte.9
Im Mittelpunkt der Aufgaben des 1931 gebildeten
Sicherheitsdienstes der SS (SD) standen die »Gegnerforschung und -bekämpfung«. Infolgedessen
markierte die Auswertung von Presse- und Buchveröffentlichungen einen zentralen Schwerpunkt
der SD-Arbeit.10 Bereits 1934 wurde in Leipzig eine
SD-eigene Schrifttums- beziehungsweise Verbindungsstelle aufgebaut. Ihre Aufgabe bestand darin,
die bei der DB in Leipzig eingehenden Publikationen zu sichten, auszuwerten und gegebenenfalls einer Zensur zu unterwerfen.11 Die SD-Verbindungsstelle entwickelte sich zu einer von verschiedenen
Kontrollstellen im Netz SS-eigener Überwachungsinstanzen, deren Informationen im SD-Hauptamt
und ab 1939 im Reichsicherheitshauptamt gebündelt wurden und die Grundlage für die »Gegnerbekämpfung« bildeten.12
Warum jedoch stützten sich sowohl der SD als
auch die PPK bei ihrer Indizierungspraxis auf die
Deutsche Bücherei und nicht auf die Staatsbibliotheken in Berlin und München? Die im Jahr 1912
gegründete DB – die heutige Deutsche Nationalbibliothek – stellte im Bibliothekswesen Deutschlands eine Besonderheit dar. Während die übrigen
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Bibliotheken das Auswahlprinzip vertraten, das
heißt aus der Fülle der erschienenen Druckschriften das auswählten, was ihnen für ihre besonderen
Zwecke geeignet erschien, vertrat die DB als einzige
Bibliothek im Reich den Grundsatz der Vollständigkeit, indem sie das deutschsprachige Schrifttum
lückenlos sammelte. Aufgrund ihres spezifischen
Sammelauftrages hatte sich die DB zudem zum
bibliografischen Zentrum Deutschlands entwickelt:
Seit 1931 gab sie die Deutsche Nationalbibliografie heraus. Für die Indizierungspraxis der NS-Behörden stellte dieser funktionale Informationspool
eine unentbehrliche »Fundgrube der Schrifttumsinformation« (Werner Schroeder) dar, den sich neben
der PPK und dem SD nun auch das RMVP nutzbar
machen wollte, indem es ab 1941 auf die Einrichtung eines eigenen »Erkundungsreferats« an der DB
drängte, dessen Aufgaben in der »Überwachung
aller deutschsprachigen Neuerscheinungen« und
der »Erfassung des staatsfeindlichen Schrifttums«
liegen sollten.13
Das Erkundungsreferat und
die »Bibliografie des jüdischen
Schrifttums«
Neben der Schrifttumskontrolle oblag dem Erkundungsreferat auch die Betreuung einer so genannten
»Judenbibliografie«.14 Überlegungen zur Schaffung
eines »Gesamtverzeichnisses des jüdischen Schrifttums in deutscher Sprache« für den Zeitraum von
1901 bis 1940 wurden im RMVP bereits seit April
1941 angestellt, um ein zu diesem Zeitpunkt immer
noch fehlendes Verzeichnis aller »jüdischen« und
»jüdisch versippten« Autoren zu erhalten, »deren
Werke aus der öffentlichen Nutzung und aus dem
Bewusstsein der Deutschen verschwinden sollten«.15
Verschiedene Parteiinstanzen und Behörden hatten
seit 1933 – etwa im Rahmen der 1935 herausgegebenen »Liste 1 des schädlichen und unerwünschten
Schrifttums« – gezielt danach gestrebt, jüdische Autoren auf den Index zu setzen.16 Bei der Gründung
der Reichskulturkammer hatte man allerdings auf
die Einführung eines »Arierparagrafen« verzichtet.
Deshalb war an eine umfassende Indizierung jüdischer Schriften nicht zu denken. Überdies konnte den in die Kammer aufgenommenen jüdischen
Sammelauftrag
und Nationalbibliografie von
besonderem
Interesse für
NS-Behörden
Erkundungsreferat an
der DB
Forum
Schrifttumspolitische
Verordnungen
Erstellung einer
»Bibliografie des
jüdischen Schrifttums« durch die
DB
Schriftstellern zunächst noch nicht förmlich untersagt werden, ihre Arbeiten zu veröffentlichen.
Ebenso wenig war es jüdischen Buchhändlern
formaliter verwehrt, Werke jüdischer Verfasser zu
verbreiten.17
Das hinderte die NS-Behörden aber nicht, die Verbreitung »jüdischen« Schrifttums zu unterdrücken.
Nach dem Ausschluss der jüdischen Autoren aus
der RSK im Frühjahr 1935 war es den deutschen
Verlagen seit Anfang 1938 im Allgemeinen nicht
mehr möglich, »jüdisches« Schrifttum auszuliefern.
Flankiert wurden diese restriktiven Maßnahmen
durch schrifttumspolitische Verordnungen, die beispielsweise das von der DB gewahrte Prinzip der
Vollständigkeit der Deutschen Nationalbibliografie
durchbrachen, indem 1936 vom RMVP festgelegt
wurde, die DB habe zwar weiterhin das deutschsprachige Schrifttum zu sammeln, in ihre Bibliografie aber nur noch das »deutsche Schrifttum«
aufzunehmen, womit in Deutschland verbotene
Bücher, Werke von Emigranten sowie deutschfeindliche und zum linken Spektrum zählende Druckschriften nicht mehr offiziell angezeigt werden
durften.18 Im Frühjahr 1937 wurde der DB auch die
bibliografische Verzeichnung des »rein jüdischen
Schrifttums« untersagt.19 Durch eine Verfügung der
RSK im April 1940 kam es schließlich zu einer vollständigen Indizierung des »jüdischen Schrifttums«.
Dabei ergaben sich vor allem im Hinblick auf die
wissenschaftliche Literatur Probleme, da weder dem
RMVP noch der Gestapo ausreichende Unterlagen
darüber zur Verfügung standen, »wer überhaupt
Jude oder Halbjude« war.20 Da verschiedene Stellen
das Fehlen verlässlicher Verzeichnisse der jüdischen
Schriften und ihrer Produzenten immer wieder
anmahnten, leitete sich daraus die Überlegung ab,
»alle jüdischen Autoren deutschsprachiger Bücher«
und Universitätsschriften festzustellen und »alle
jüdisch-deutschen Mischehen in ihren Nachkommensverhältnissen und Verzweigungen« zu untersuchen.21 Nach Auffassung des RMVP sollte dies
durch eine »Bibliografie des jüdischen Schrifttums
in deutscher Sprache« erreicht werden, deren Bearbeitung der DB übertragen wurde. So führte der
stellvertretende Leiter der »Abteilung Schrifttum«
in einer Ministervorlage im Juni 1941 aus:
»Seit der Machtübernahme hat sich in der kulturpolitischen Arbeit das Fehlen eines zuverlässigen
Verzeichnisses der jüdischen Schriften immer wieder störend bemerkbar gemacht. Verschiedene Versuche einzelner Dienststellen, derartige Verzeichnisse anzulegen, sind immer sehr unvollkommen
ausgefallen und mußten meistens wieder aufgegeben werden. Die Abteilung Schrifttum betreibt auf
Grund der Anordnung über schädliches und unerwünschtes Schrifttum seit langem eine systematische Bereinigung des deutschen Buchmarktes vom
jüdischen Schrifttum. Als Ergebnis dieser Arbeit
liegt bereits jetzt derartig umfangreiches Material
vor, daß es angebracht erscheint, es in einem Katalog festzuhalten. Um jedoch die volle Zuverlässigkeit des Kataloges zu erreichen, ist es notwendig,
die Vorarbeiten durch wissenschaftlich geschulte
Hilfskräfte an der Deutschen Bücherei durchführen
zu lassen. Sachverständige der Deutschen Bücherei schätzen den Anteil der jüdischen Autoren an
den im Zeitraum von 1901 [bis] 1940 erschienenen 2.180.000 Schriften auf etwa 90.000. (…) Ein
vollständiges Verzeichnis der jüdischen Schriften
in deutscher Sprache wird für die Arbeit aller Kulturpolitiker, Wissenschaftler, Journalisten usw. ein
unentbehrliches Hilfsmittel werden.«22
Der Hinweis auf die »Sachverständigen der Deutschen Bücherei« macht deutlich, dass die ersten Erwägungen über Kosten und Umfang einer derartigen Bibliografie auf die DB zurückgingen. So hatte
der Bibliothekar Curt Fleischhack im Auftrag des
RMVP eine Überschlagsrechnung erstellt, wobei er
sich auch auf Expertisen der SD-Verbindungsstelle
in Leipzig stützte.23 Die Bearbeitung der Bibliografie lag seit Anfang August 1941 in den Händen des
Bibliotheksrats Johannes Ruppert24, dem zahlreiche
Hilfskräfte zur Verfügung standen.25 Welche Bedeutung man dem Projekt im RMVP beimaß, geht daraus hervor, dass das Ministerium bis 1944 hierfür
immerhin 47.200 RM bereitstellte und selbst nach
der Niederlage von Stalingrad betonte, »die Weiterführung der Judenkartei in der Deutschen Bücherei« erscheine »auch auf die Dauer des Krieges
geboten«.26
Die Entstehung der Bibliografie fiel zeitlich mit
der vom NS-Regime 1941 forcierten »Radikalisierung der antijüdischen Politik«27 zusammen. Die
seit Mitte des Jahres geplante und am 1. September
1941 für das Reichsgebiet verfügte Einführung des
»Judensterns« diente dazu, die Juden in der Öf-
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
39
Forum
Radikalisierung der
antijüdischen
Politik
Methodisch
aufwendiges
Prozedere
40
fentlichkeit »sichtbar« zu machen und auf dieser
Grundlage weitere Beschränkungen des jüdischen
Lebensbereichs durchzusetzen. Mit der Einführung
dieses Kennzeichens ging eine neue antisemitische
Kampagne von Goebbels einher, der zudem von
der Absicht Hitlers erfahren hatte, angesichts des
sich im Osten abzeichnenden Erfolges der Wehrmacht, mit der Deportation der deutschen Juden
zu beginnen.28 Die von der Deutschen Bücherei
im Auftrag des RMVP durchgeführten Arbeiten an
der »Jüdischen Bibliografie« dienten dem RMVP
als Hilfsmittel zur Identifizierung von Juden und
darauf fußenden Indizierung ihrer Schriften, um
auf diese Weise Buchhandel und Bibliotheken zu
»säubern« und den »jüdischen Einfluss« in der Wissenschaft »auszumerzen«.29
Um an die benötigten Informationen zu gelangen,
ging man in der DB methodisch sehr aufwendig
vor.30 Die Grundlage der Bibliografie bildete ein
»umfassendes und gesichertes Verzeichnis der in
Betracht kommenden Autoren«, das von Ruppert
auf der Basis »der neuesten Listen nichtarischer Verfasser« erstellt wurde, die der DB von verschiedenen
NS-Schrifttumsstellen zur Auswertung überlassen
wurden. Darüber hinaus prüften die Bibliothekarinnen und Bibliothekare in den »das Judentum
betreffenden Nachschlagewerken«, ob die darin
aufgeführten Personen »nach den dort gegebenen
Mitteilungen als Volljuden anzusehen« waren. Die
Angaben der meisten dieser Werke hatten für Ruppert jedoch nur bedingten Wert. Wie er berichtete,
hatte sich gezeigt, dass sie in der Regel »vor der
nationalsozialistischen Rassengesetzgebung entstanden (…), und deshalb ihre Angaben über den
Grad der jüdischen Abstammung (Voll-, Halb-,
Vierteljude) besonders unzuverlässig waren. Den
»gleichen Mangel« wiesen auch weitere Hilfsmittel
auf, so die vom RMVP zur Verfügung gestellten
Mitteilungen von Verlagen über jüdische Autoren,
eine »Zusammenstellung der Produktion der spezifisch jüdischen Verlage im Verlegerkatalog« der
DB sowie mehrere Karteien, die vom Deutschen
Rechtsverlag und dem Reichssippenamt bereitgestellt wurden. Um »authentisches, möglichst urkundliches Material« über die jüdischen Autoren
zu gewinnen, stützte sich Ruppert auch auf die
»von der Antikomintern zur Verfügung gestellten
Mitteilungen über jüdische Hochschullehrer, Lis-
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
ten jüdischer Konsulenten und Zahnärzte (…), die
Ausbürgerungskartei des Reichsführers SS«, Materialien der »Antisemitischen Aktion«, »die ›JudenKartei‹ des NS-Rechtswahrerbundes« und ähnliche
Verzeichnisse des Reichsinstituts für Geschichte des
neuen Deutschlands. Weitere Informationen wurden aus den Lebensläufen von Dissertationen sowie
jüdischen Zeitschriften und Zeitungen gewonnen.
Schließlich bemühte man sich auch durch gezielte
Anfragen bei Behörden und Meldeämtern darum,
etwas über die »jüdische« Abstammung einzelner
Personen in Erfahrung zu bringen.31
Wie der Generaldirektor der DB, Heinrich Uhlendahl, dem RMVP im November 1942 berichtete, werde man nach der Fertigstellung der Kartei
»in der Lage sein, über alle Fragen, die jüdische
Schriftsteller betreffen, einwandfreie Auskünfte zu
erteilen«. Schon jetzt, so Uhlendahl, werde die Kartei von den Dienststellen der DB, den Abteilungen des RMVP aber auch von anderen Behörden
»täglich in Anspruch genommen« und habe »in
zahlreichen Fällen Hilfe leisten können«.32 Worin diese Hilfe bestand, geht aus einem Schreiben
des RMVP an Ruppert hervor, in dem man diesem mitteilte, dass es aufgrund seiner telefonischen
Mitteilung, bei dem Philosophieprofessor Gerardus
Heymann (1857 – 1930) handele es sich um einen
»Volljuden«, zu einem Verkaufsverbot von dessen
Büchern gekommen sei.33 Es ging also auch bei diesen Schreibtischarbeiten darum, die Juden »sichtbar« zu machen und der vom RMVP angestrebten
Vernichtung ihrer kulturellen Überlieferungen den
Weg zu ebnen.
Die »Judenbibliografie« als Spiegel
der NS-Vernichtungspolitik
Zwar ist kein direkter Zusammenhang zwischen
den Arbeiten an der »Judenbibliografie« und der
NS-Vernichtungspolitik nachzuweisen, aber um die
Bibliografie betreffenden Schriftwechsel zwischen
dem RMVP und der DB finden sich immer wieder Hinweise auf Personen, die Opfer der brutalen
Verfolgungspraxis der Nationalsozialisten wurden,
die jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller
sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
aus ihren Berufen drängten, in die Emigration trie-
»Jüdische Bibliografie« Hilfsmittel zur
Identifizierung von
Juden
Forum
Hinweise
auf Opfer
der NS-Verfolgungspraxis
ben oder während der so genannten »Endlösung«
ermordeten.34
Im Fall des Münchener Romanistikprofessors
Leopold Jordan35 beispielsweise ergaben sich den
Bibliografinnen und Bibliografen der DB bei der
Auswertung einige Fragen, die man offenbar mit
Hilfe der Polizeibehörden zu lösen suchte. Wie
das RMVP der DB im Juni 1942 mitteilte, ergab
eine Auskunft des Polizeipräsidiums München,
dass der »Rassejude« Jordan bereits 1933 aus dem
bayerischen Hochschuldienst entlassen worden
war und sich im Juli 1940 das Leben genommen
hatte. Lakonisch wurde die DB vom RMVP daraufhin angewiesen, »dieses Ermittlungsergebnis für
die Judenbibliografie zu verwerten«.36 Im Juni 1942
erhielt Ruppert die Nachricht seiner vorgesetzten
Behörde, dass der Verlag Fr. Frommanns in Stuttgart sich »nicht sicher sei, ob Prof. Dr. Hans Ehrenberg, der Herausgeber der Sammlung ›Frommanns
Philosophische Taschenbücher‹«, Jude sei. Demnach wurde die DB gebeten, »genaue Auskunft«
über Ehrenberg, der auch als Privatdozent an der
Universität Heidelberg gelehrt hatte und später als
evangelischer Pfarrer in Bochum wirkte, zu erteilen. Innerhalb einer Woche lieferte die DB die gewünschte Information und teilte dem RMVP mit,
dass es sich bei Ehrenberg um einen »Volljuden«
handle.37 Ehrenberg war bereits 1938 ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt worden,
hatte jedoch aufgrund seiner guten ökumenischen
Beziehungen und einer Intervention des anglikanischen Bischofs von Chichester 1939 nach England
emigrieren können.38
Ein Opfer der Verfolgung war auch der Münchener
Historiker Siegmund Hellmann: Am 19. Juni 1942
sandte das RMVP der DB eine Liste mit Verfassern,
bei denen »nichtarische Abstammung vermutet«
und Ruppert »um Nachprüfung« und »baldige
Auskunft« gebeten wurde. Auf der Liste findet sich
auch der Name Hellmanns. Ruppert antwortete der
Schrifttumsabteilung des Ministeriums am 6. Juli
1942, wobei im Hinblick auf Hellmann festgehalten wurde, dieser sei »laut Nachweisung der Universität Leipzig über die am 1. April 1933 in Dienst
befindlichen Hochschullehrer und Assistenzkräfte
jüdischer Abstammung« und als »Volljude« anzusehen.39 Hellmann hatte seit 1923 als Ordinarius
an der Universität Leipzig gewirkt, seine Stellung
jedoch infolge des Berufsbeamtengesetzes 1933 verloren. Er war daraufhin nach München gegangen
und lebte zurückgezogen bei seiner Schwester, der
Schriftstellerin Carry Brachvogel. Am 22. Juli 1942
wurden Hellmann und seine Schwester von München in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo beide noch im selben Jahr umkamen.40
Ein ähnliches Schicksal erlitt die jüdische Philosophin Edith Stein: In einem Schreiben des RMVP an
die DB im März 1943 wurde der Verdacht geäußert,
dass die im Breslauer Frankes Verlag publizierende
Edith Stein 1933 nur deswegen in ein Kloster eingetreten sei, um sich »auf diese Weise nach der Machtergreifung in Sicherheit« zu bringen. Es bestehe der
Verdacht, dass es sich bei ihr um eine Jüdin handle.
Weitere Feststellungen in dieser Frage, so Günther
Lutz vom RMVP, könnten allerdings nur von den
Behörden getroffen werden.41 Was man in Berlin
und Leipzig offenbar nicht wusste war, dass Edith
Stein bereits sieben Monate zuvor in den Gaskammern des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau
ermordet worden war.42
Der Grundgedanke der Sichtbarmachung des »Gegners« und der daraus resultierenden Möglichkeit
seiner Bekämpfung bestimmte auch das Selbstverständnis der in der SD-Verbindungsstelle an der
DB wirkenden Zensurbeamten. Im Unterschied
zu Ruppert fügten die Gegnerforscher um Six und
Wilhelm Spengler ihren Schrifttumsberichten in
vielen Fällen allerdings auch konkrete Observierungsempfehlungen bei, die oft eine mehr als nur
potentielle Gefahr für die betroffenen Autoren darstellten. So hielt Spengler in einem Bericht über
die »Zeitschriftenauswertung auf dem Gebiet der
politischen Kirchen« im April 1937 fest, dass der
Sinn dieser Aktion darin bestehe, das »nachrichtendienstlich wesentliche Material in den Zeitschriften
der politischen Kirchen laufend zu erfassen; die
Unterlagen zu erhalten, um jeden Übergriff dieser
Zeitschriften in die kulturelle, wirtschaftliche und
staatliche Sphäre zurückzudrängen und schließlich
eine Handhabe zu finden, um gegen die dahinter
stehenden Personenkreise vorgehen zu können«.43
Obwohl die DB weitere Mittel zur Fortführung
der Kartothek beantragte, mussten die Arbeiten
Ende März 1944 unvermittelt eingestellt werden,
da das RMVP keine neuen Zuschüsse mehr gewährte.44 Warum es zur Einstellung der Arbeiten kam
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Konkrete Observierungsempfehlungen
Einstellung der
Arbeiten im März
1944
41
Forum
Fazit
ist unklar, hing aber vermutlich mit dem Kriegsverlauf und daraus resultierender Personalknappheit zusammen. Bis März 1944 war die Kartothek
bereits auf 28.000 Karten angewachsen. Aber so
umfangreich sie auch war, sie stellte lediglich eine
erste Grundlage für den eigentlichen Zweck des
gesamten Projekts dar, der auf die Schaffung einer Gesamtbibliografie des jüdischen Schrifttums
in deutscher Sprache hinauslief. Demnach hätte
der zweite Arbeitsschritt dieser »absurden Herkulesarbeit« (Volker Dahm) nun in der Ermittlung
der Schriften aller der in der Kartei verzeichneten
Autoren bestanden.45 Vorarbeiten hierfür wurden
bereits in Angriff genommen, indem man mit der
Durchsicht des Alphabetischen Katalogs der DB
begann.46 Uhlendahl signalisierte dem RMVP noch
im Juli 1944, man sei »bereit, die Arbeit fortzuführen«, sofern dies in Berlin gewünscht werde und
die Finanzierung sicher sei.47 Das Ministerium ging
auf dieses Angebot aber nicht ein, vermutlich, weil
man dort zu der Einsicht gelangt war, mittelfristig
nicht mit einem Abschluss der Arbeiten rechnen
zu können. Gleichwohl diente die Kartei noch bis
März 1945 als Hilfsmittel zur Auskunftserteilung
über »Nichtarier« – so etwa im Fall der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Frenzel, die im Auftrag
des »Amtes Rosenberg« an einem Lexikon jüdischer
Schriftsteller arbeitete.48
Mit ihrer nüchternen bibliografischen Zuarbeit
förderten die Bibliothekarinnen und Bibliothekare
der DB somit bis zuletzt die rassistisch grundierte
Indizierungspraxis der Schrifttumsbehörden und
leisteten damit einen spezifischen Beitrag zu der
von den Nationalsozialisten seit 1933 angestrebten
Homogenisierung der deutschen »Volksgemeinschaft«49, die nicht nur auf eine Ausgrenzung der
Juden aus dem Kulturleben, sondern auch auf die
Vernichtung ihrer kulturellen Spuren, Äußerungen
und Überlieferungen abzielte. Insofern verwundert
es nicht, dass die an der »Jüdischen Bibliografie«
Beteiligten – wie Heinrich Uhlendahl und Johannes
Ruppert – nach 1945 hierüber kein Wort verloren
und demnach auch das »Erkundungsreferat« des
RMVP in ihren Darstellungen zur Geschichte der
Deutschen Bücherei keinen Niederschlag fand. Bereits im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens für
Ruppert hatte Uhlendahl 1947 die Arbeiten an der
Bibliografie verschwiegen und auch eine Stellungnahme des Betriebsrates gutgeheißen, in der über
Ruppert berichtet wurde, dieser habe sich während
der NS-Zeit »offen besonders gegen die nationalsozialistische Rassenpolitik ausgesprochen und seinen Verkehr mit jüdischen Bekannten (…) aufrecht
erhalten und sie aktiv unterstützt«.50 Ruppert wirkte
weiter an der Deutschen Bücherei, bevor er 1952
in den Ruhestand ging. Uhlendahl blieb Generaldirektor der Deutschen Bücherei bis zu seinem Tod
im Jahr 1954.
E-Mail-Adresse von Dr. Sören Flachowsky:
[email protected]
Anmerkungen
1 Vgl. Erlass über die Errichtung des RMVP, in: Reichsgesetzblatt (RGBl.), Teil I, Nr. 21, vom 17. März 1933, S. 104.
2 Vgl. Barbian, Jan-Pieter: Literaturpolitik im NS-Staat. Von der »Gleichschaltung« bis zum Ruin, Frankfurt am Main, Fischer TB
Verlag, 2010, S. 82 f.
3 Vgl. Verordnung über die Aufgaben des RMVP vom 30. Juni 1933, in: RGBl., Teil I, Nr. 75 vom 5. Juli 1933, S. 449.
4 Vgl. Longerich, Peter: Goebbels. Biographie, München, Siedler, 2010, S. 230 f.
5 Zur Gliederung und den Aufgaben der »Abteilung S« des RMVP vgl. Barbian, Literaturpolitik, S. 84 – 97.
6 Vgl. Kühnert, Jürgen: Die Reichsschrifttumskammer. Zur Geschichte einer berufsständischen Zwangsorganisation unter besonderer
Berücksichtigung des Buchhandels, in: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 17 (2008), S. 255 – 363, hier S. 258.
7 Vgl. ebd., S. 311 – 316, 338f. Das dem RMVP jedoch seit 1936 die Federführung auf dem Gebiet der Buchverbote oblag, zeigt Dahm,
Volker: Das jüdische Buch im Dritten Reich, München, Beck, 21993, S. 165 – 172.
8 Vgl. Bollmus, Reinhard: Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des nationalsozialistischen Schrifttums (PPK), in: Benz,
Wolfgang, Hermann Graml u. Hermann Weiß (Hg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München, DTV, 21998, S. 634 f.;
Hachmeister, Lutz: Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, München, Beck 1998.
42
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Forum
9 Bericht des DB-Mitarbeiters Günther Robbel über den Stand der Bearbeitung der NS-Bibliographie in der DB, Leipzig, 15. April
1935, Archiv der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig (ADNBL), 419/0, Bl. 107 – 110.
10 Vgl. Wildt, Michael (Hg.): Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, Hamburg, Hamburger Edition, 2003.
11 Vgl. Wildt, Michael: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg, Hamburger
Edition, 22008, S. 174 f.
12 Vgl. ebd., S. 176. Zur Verbindungsstelle des SD an der DB vgl. Schroeder, Werner: »… eine Fundgrube der Schrifttumsinformation.«
Die Leipziger Arbeitsstelle für Schrifttumsbearbeitung beim Sicherheitshauptamt (SD) und die »SD-Verbindungsstelle an der Deutschen Bücherei«, in: Gibas, Monika (Hg.): »Arisierung« in Leipzig. Annäherung an ein lange verdrängtes Kapitel der Stadtgeschichte
der Jahre 1933 bis 1945, Leipzig, Leipziger Universitätsverlag GmbH, 2007, S. 116 – 151.
13 Leiter der Abteilung Schrifttum des RMVP an den Leiter der Personalabteilung des RMVP, 04.12.1941, Bundesarchiv (BArch) Berlin,
ehemaliges Berlin Document Center (BDC), RK I 95 (Wilhelm Emrich, geb. 29.11.1909), Bild 2244. Im Februar 2016 verfasste Ralf
Klausnitzer anlässlich eines Workshops an der Humboldt-Universität zu Berlin eine Darstellung über »Wilhelm Emrich in der
Abteilung VIII (Schrifttum) des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda und als ›Erkundungsreferent‹ an der
Deutschen Bücherei Leipzig«, zu welcher der Autor dieses Beitrages einen Kommentar beisteuerte. Dieser Kommentar bildet die
Grundlage dieses Aufsatzes. Für die Überlassung seines Manuskripts dankt der Autor Ralf Klausnitzer. Der vom 19. bis 20. Februar
2016 durchgeführte Workshop stand unter der Überschrift: »Wilhelm Emrich. Akademischer und beruflicher Lebensverlauf eines
Geisteswissenschaftlers vor, in und nach der NS-Zeit. Exemplarische Konstellationen 1929 – 1959.«
14 Dienstleistungszeugnis des RMVP für Wilhelm Emrich, 12. April 1944, BArch Berlin, ehem. BDC, RK I 95 (Wilhelm Emrich, geb.
29.11.1909), Bild 2222. Zur Verbotspraxis des Erkundungsreferats vgl. Klausnitzer, Wilhelm Emrich (Manuskript), [S. 12ff.]. Zur
»Bibliografie des jüdischen Schrifttums in deutscher Sprache« der DB vgl. auch Jung, Otmar: Der literarische Judenstern. Die
Indizierung der »jüdischen« Rechtsliteratur im nationalsozialistischen Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54
(2006), Heft 1, S. 25 – 59, hier S. 51 – 54.
15 Barbian, Literaturpolitik, S. 359.
16 Vgl. dazu am Beispiel der jüdischen Rechtsliteratur Jung, Judenstern, S. 25 – 59.
17 Vgl. Dahm, Das jüdische Buch, S. 178.
18 Vgl. ebd., S. 188.
19 Die Anweisung wurde kurze Zeit später modifiziert und verfügt, die Produktion jüdischer Verleger nur noch in der Reihe B der
Deutschen Nationalbibliografie anzuzeigen, welche die außerhalb des Buchhandels erscheinenden Schriften verzeichnete. Vgl. ebd.,
S. 190.
20 Vgl. ebd., S. 192 – 199, hier S. 198.
21 Diese »Aufgaben für die Bibliotheken« formulierte der selbst an einer »Bibliografie zur Geschichte der Judenfrage« arbeitende
Bibliothekar der Preußischen Staatsbibliothek, Volkmar Eichstädt im Jahr 1940. Eichstädt, Volkmar: Das Schrifttum zur Judenfrage
in den deutschen Bibliotheken, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 57 (1940), Heft 1/2, S. 60 – 73, hier S. 72. Vgl. auch Barbian,
Literaturpolitik, S. 358 f.
22 Johannes Schlecht (Abteilung Schrifttum, RMVP) an den Reichsminister, 24.06.1941, ADNBL, 612/0, Bl. 5 f. Siehe auch Jung,
Judenstern, S. 51.
23 Kurt Fleischhack über die »Bibliographie des jüdischen Schrifttums in deutscher Sprache 1901 – 1940«, 5. April 1941, ADNBL,
612/0, Bl. 1–3. Fleischhack hatte aber, anders als das RMVP, den Umfang der Bibliografie nicht auf 90.000, sondern auf 105.000
Schriften geschätzt.
24 Johannes Ruppert (1885 – 1964) Studium (Klassische Altertumswissenschaft und Germanistik) in Leipzig, Bonn und Berlin, 1911
Promotion und Staatsexamen, 1914 – 1918 Teilnahme am I. Weltkrieg, 1921 Bibliotheksanwärter, 1923 – 1952 DB, Oktober 1933
Förderndes Mitglied der SS, 1937 NSDAP. Vgl. ADNBL, Personalakte (PA) Johannes Ruppert (geb. 16.09.1885).
25 Vgl. Nachweis über die Verwendung der vom RMVP für die Erstellung einer »Bibliografie des jüdischen Schrifttums« in der Zeit
vom 1. April 1943 bis 31. März 1944 zur Verfügung gestellten Mittel, 1. April 1944, ADNBL, 612/0, Bl. 32.
26 Vgl. Jung, Judenstern, S. 52.
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
43
Forum
27 Pohl, Dieter: Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik um die Jahreswende 1941/42. Zum Kontext der Wannsee-Konferenz, in:
Kampe, Norbert u. Peter Klein (Hg.): Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen,
Köln u. a., Böhlau, 2013, S. 169 – 181, hier S. 170.
28 Vgl. Longerich, Goebbels, S. 483 f., 488.
29 Vgl. Jung, Judenstern, S. 25 f.
30 Vgl. ebd., S. 53.
31 Vermerk Rupperts, 4. November 1942, ADNBL, 612/0, Bl. 19; Aktennotiz Uhlendahls, 17. Oktober 1942, ebd., Bl. 160; Manuskript
für den Verwaltungsbericht der DB für 1941, hier: Jahresbericht 1940/41 von Johannes Ruppert über die Bibliografie des jüdischen
Schrifttums in deutscher Sprache 1901 – 1940, 27. April 1942, ADNBL, 181/1-1941, Bl. 39; Antisemitische Aktion (Berlin), an Ruppert, 23. Februar 1942, ADNBL, 612/1 (Bd. II), Bl. 27; Deutscher Rechts-Verlag GmbH, Berlin an Ruppert, 4. März 1942, ebd.,
Bl. 34. Vgl. auch Jung, Judenstern, S. 53.
32 Heinrich Uhlendahl an RMVP, 30. November 1942, ADNBL, 612/0, Bl. 25.
33 RMVP (Abt. Schrifttum) an Ruppert (DB), 27. September 1943, ADNBL, 612/1 (Bd. I), Bl. 136.
34 Vgl. Jung, Judenstern, S. 25.
35 Zu Leopold Jordan (1874 – 1940) vgl. Lebsanft, Franz: Ein deutsch-jüdisches Schicksal: Der Philologe und Linguist Leon Jordan
(1874 – 1940), in: Christmann, Hans Helmut u. Frank-Rutger Hausmann (Hg.): Deutsche und österreichische Romanisten als Verfolgte des Nationalsozialismus, Tübingen, Stauffenburg-Verlag, 1989, S. 157 – 175, 287 f.
36 Rudolf Erckmann (RMVP) an die DB, 11. Juni 1942, ADNBL, 612/1 (Bd. II), Bl. 44.
37 Vgl. Günther Lutz (RMVP) an Ruppert, 11. Juni 1942, ebd., Bl. 45; DB an Lutz (RMVP), 17. Juni 1942, ebd., Bl. 47.
38 Zu Ehrenberg (1883 – 1959) vgl. Brakelmann, Günter: Hans Ehrenberg. Ein judenchristliches Schicksal in Deutschland, 2 Bde.
Waltrop, Spenner, 1997/1999.
39 Günther Lutz (RMVP) an Ruppert (DB), 19. Juni 1942, ADNBL, 612/1 (Bd. II), Bl. 51f.; Ruppert an Lutz, 06.07.1942, ebd., Bl. 53f.
40 Vgl. Statistik und Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich, hier: Deportationslisten, Bayern,
03.06. – 12.08.1942 nach Theresienstadt, Bezirksstelle Bayern, Abfahrt 22.07.1942, München, II/18 [18. Münchener Transport II/18],
S. 3 (<http://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_bay_420603.html> und <http://www.statistik-des-holocaust.de/II18-3.jpg>,
Zugriff am 11. Juli 2016). Zu Hellmann (1872 – 1942) vgl. Hoyer, Siegfried: Siegmund Hellmann, in: Steinmetz, Max (Hg.): Bedeutende Gelehrte in Leipzig. Zur 800-Jahr-Feier der Stadt Leipzig, Bd. 1, Leipzig, Karl-Marx-Universität, 1965, S. 219 – 227.
41 Günther Lutz (RMVP) an Ruppert (DB), 20. März 1943, ADNBL, 612/1 (Bd. 1), Bl. 8R.
42 Zu Edith Stein (1891 – 1942) vgl. Endres, Elisabeth: Edith Stein. Christliche Philosophin und jüdische Märtyrerin, München, Piper,
2
1999.
43 SS-Obersturmführer Wilhelm Spengler (I 32) an SS-Sturmbannführer Alfred Six (Leiter der Zentralabteilung II 1), 30. April 1937,
BArch Berlin, R 58/5693a, Bl. 150 – 152.
44 Vgl. Jung, Judenstern, S. 52f.; Uhlendahl an Hugo Koch (RMVP) (mit Bericht Ruppert über die Bibliografie nach dem Stand von
März 1944), 8. Juni 1944, ADNBL, 612/0, Bl. 34 – 38.
45 Dahm, Das jüdische Buch, S. 198; Jung. Judenstern, S. 54.
46 Vgl. Johannes Ruppert: Jahresbericht 1943/44 betr. Bibliografie des jüdischen Schrifttums in deutscher Sprache 1901 – 1940, ohne
Datum [1944], ADNBL, 181/1–1943 (Manuskript für den Jahresbericht der DB für die Zeit vom 1. April 1943 bis zum 31. März
1944), Bl. 14.
47 Uhlendahl an RMVP, 14. Juli 1944, ADNBL, 612/0, Bl. 42; Uhlendahl an Hugo Koch (RMVP) (mit Bericht Rupperts über die
Bibliografie nach dem Stand vom März 1944), 8. Juni 1944, ebd., Bl. 34 – 38, hier Bl. 35.
48 Vgl. Elisabeth Frenzel an Ruppert, 03.10.1944, 27.10.1944, 27.11.1944, ADNBL, 612/1 (Bd. 1), Bl. 155, 157, 158; Piper, Ernst: Alfred
Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München, Pantheon, 2007, S. 484. Über den Verbleib der Kartei ist nichts bekannt, aber möglicherweise kann die heute im Bestand des RMVP im Bundesarchiv Berlin überlieferte Kartothek »Nichtarische Schriftsteller, A–E«
(Signatur: R 55/21600) als Ergebnis der in der DB zwischen 1941 und 1944 erstellten »Bibliografie des jüdischen Schrifttums in
deutscher Sprache« angesehen werden.
49 Vgl. Bajohr, Frank u. Michael Wildt: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main, Fischer TB Verlag, 22012, S. 7 – 23, hier S. 12.
50 Stellungnahmen der Bibliotheksleitung und des Betriebsrates betr. Entnazifizierung Rupperts, ohne Datum (1947), ADNBL, PA
Johannes Ruppert (geb. 16.09.1885), Bl. 90.
44
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Forum
Christian Rau
Die Deutsche Bücherei und der Fall
Carl Diesch
Über die politischen Hintergründe
der Entlassung des stellvertretenden Generaldirektors Carl Diesch
1946/47 in der Sowjetischen
Besatzungszone
Stellvertretender
Generaldirektor
Carl Diesch (1880 – 1957) wird für die Geschichte
der Deutschen Bücherei heute kaum noch ein Begriff sein, schließlich war der ehemalige Direktor
der Königsberger Staats- und Universitätsbibliothek
nur für wenige Monate als Stellvertreter des Generaldirektors Heinrich Uhlendahl (1886 – 1954) an
der Deutschen Bücherei tätig. Umso mehr hatte
seine Person aber die Gemüter der Zeitgenossen
erhitzt. Dieschs Entlassung im Frühjahr 1947 markiert einerseits ein tragisches Einzelschicksal, andererseits gibt der Fall einen tiefen Einblick in die
Praxis der Bibliothekspolitik der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Anhand des reichhaltig überlieferten Quellenmaterials1 wird der »Fall Diesch«
im Folgenden vor dem Hintergrund der Bibliothekspolitik in der SBZ untersucht.
Von Königsberg nach Leipzig:
Carl Dieschs Weg in die Deutsche
Bücherei
Carl Hermann Diesch wurde am 13. November
1880 in der Textilstadt Sorau (polnisch Żary) in der
damaligen preußischen Provinz Brandenburg geboren. Nach dem Abitur in Altenburg studierte er
Neuere Sprachen und Germanistik in Tübingen und
zuletzt in Leipzig, wo er 1905 mit einer Arbeit über
das deutsche Drama an der Wende vom 16. zum
17. Jahrhundert promoviert wurde. Daran schloss
sich eine klassische Laufbahn als wissenschaftlicher Bibliothekar an. Von Bonn über Göttingen
kam er nach Berlin, wo er 1914 zum Bibliotheksrat an der Stadtbibliothek ernannt wurde. Dieschs
berufliche Laufbahn wurde zunächst durch seinen
Einsatz im Ersten Weltkrieg unterbrochen. In der
Weimarer Republik erhielt seine Karriere dann einen deutlichen Schub. Bereits 1921 wurde er Leiter
des Preußischen Gesamtkatalogs, 1923 wechselte er
an die Bibliothek der Technischen Hochschule, deren Direktor er 1926 wurde. Bereits im Jahr darauf
wurde er auf den Direktorenposten der Königsberger Staats- und Universitätsbibliothek berufen. In
der Fachcommunity trat er seit den 1920er-Jahren
immer wieder mit Aufsätzen zum Leihverkehr,
zur Katalogisierung und Bibliografie hervor. 1938
wurde er an der Königsberger Albertus-Universität
zudem zum Honorarprofessor ernannt. Am Ende
des Zweiten Weltkrieges, von Januar bis April 1945,
wurde das zur »Festung« ausgebaute Königsberg
zum Schauplatz einer verlustreichen dreimonatigen Schlacht gegen die vordringende Rote Armee,
die später traurige Berühmtheit erlangte. In diesen
drei Monaten organisierte sich auch eine elfköpfige
Gruppe von Königsberger Universitätsprofessoren,
die die Stadt mitsamt notdürftig verpackter Kulturgüter verlassen wollte. Carl Diesch führte diese
Gruppe an. Die Kisten gingen jedoch bei einem
erneuten Fliegerangriff auf den Königsberger Hafen
verloren, der Treck schaffte es aber schließlich nach
Schleswig-Holstein. Dieschs Frau kam während ihrer Flucht indes ums Leben.2 Völlig entwurzelt fand
der 65-jährige Diesch schließlich Aufnahme in einem Flüchtlingslager im westfälischen Kellinghausen. Von dort aus sendete er am 13. Dezember 1945
ein erstes Lebenszeichen an seinen »lieben Freund«
Heinrich Uhlendahl, dem er bereits 1916 auf dem
Schlachtfeld von Verdun begegnet war, woraus sich
eine lange Freundschaft entwickelt hatte. Der Generaldirektor der Deutschen Bücherei stand zum
gleichen Zeitpunkt vor einer schwierigen Herausforderung. Von den Sowjets hatte er zahlreiche Sonderaufträge erhalten (insbesondere die Erstellung
der Liste der auszusondernden Literatur), zugleich
war er mit dem Problem konfrontiert, aufgrund der
scharfen sächsischen Entnazifizierungsrichtlinien
rund 80 Mitarbeiter wegen formeller NS-Belastung
entlassen zu müssen. Darunter befanden sich zahl-
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
45
Forum
Freund des
Generaldirektors
Uhlendahl
Politisch hochbrisante Position
Bibliotheksreferat
im sächsischen
Volksbildungsministerium
46
reiche wissenschaftliche Bibliothekare, die für die
Facharbeit in der Bibliothek nun fehlten.
Es mag aus Uhlendahls Sicht ein Glücksfall gewesen sein, dass sich mit Diesch nicht nur ein erfahrener, sondern auch noch unbelasteter wissenschaftlicher Bibliothekar bei ihm erkundigte, ob dieser
nicht in Leipzig etwas für ihn wüsste. Lediglich eine
»angemessene Tätigkeit« müsse es sein, die ihm, der
weder Gehalt noch Pension bezog, den Lebensunterhalt sicherte.3 Uhlendahl zögerte nicht und bot
Diesch einen »selbständigen Posten« an.4 Bereits im
Juli 1946 wurde Diesch informell als Direktor der
Abteilung Kataloge eingestellt5, die bis 1945 von
Uhlendahls früherem Stellvertreter Werner Rust
(1893 – 1977) geleitet worden war. Rust war wegen
seiner relativ frühen NSDAP-Mitgliedschaft (1932)
bereits im Juli 1945 entlassen worden. Der mittellose Diesch, den Uhlendahl überdies in seine Privatwohnung aufnahm, wurde damit zum zweitwichtigsten Mann hinter dem Generaldirektor.
Mit dem Stellvertreterposten übernahm Diesch
unweigerlich eine zugleich politisch hochbrisante
Position, denn diese sollte Galina Snimtschikowa (1908 – 1991), der Bibliotheksinspektorin der
SMAD, zufolge mit einer »starken politischen
Persönlichkeit«6 besetzt werden, die Uhlendahl
in seinem Handlungsspielraum zu beschränken
vermochte. Snimtschikowa waren Uhlendahls Alleingänge, insbesondere die undurchsichtige Verhandlungspraxis mit ihrem Chef, dem Leiter der
Abteilung Volksbildung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), Pjotr
Solotjuchin (1897 – 1968), schon länger ein Dorn
im Auge. In der Leipziger Bibliothek, so Snimtschikowa im September 1946, sei »ein Zustand eingetreten, der der Deutschen Bücherei die Möglichkeit gegeben hat, mit vielen Stellen zu verhandeln,
um ihre Wünsche vorzubringen. Aber keine Stelle
besteht, die maßgeblich für die Belange der Deutschen Bücherei verantwortlich ist.«7 Diese maßgebliche Stelle wurde nur zwei Monate später im
sächsischen Volksbildungsministerium eingerichtet. Dort wurde auf Snimtschikowas Anordnung
hin ein Bibliotheksreferat gebildet, das sich in ganz
besonderem Maße der Deutschen Bücherei zuwenden sollte. Dessen Leiter, der Historiker Otto-Heinz
Rocholl (geboren 1912), sah darin aber auch eine
ganz andere Chance. In der Überantwortung der
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
»repräsentativsten deutschen Bibliothek«8 erblickte
dieser eine Gelegenheit zur Aufwertung der sächsischen Landesverwaltung. So war er auch bereit, den
Bibliothekaren in Leipzig einen gewissen Handlungsspielraum in der fachlichen Arbeit zuzugestehen. Auch die Einstellung Dieschs begrüßte er
ohne Zögern. Dabei war Diesch alles andere als ein
Wunschkandidat im Sinne Snimtschikowas. Er war
zwar der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) beigetreten und demonstrierte damit zumindest eine
grundsätzliche politische Übereinstimmung mit
der Politik der SED nach außen, am politischen
Leben beteiligte sich Diesch aber ebenso wenig wie
der parteilos gebliebene Uhlendahl. Vielmehr widmete sich Diesch im Rahmen einer an der Deutschen Bücherei geschaffenen »Vermittlungsstelle«
der Unterstützung notleidender Bibliothekare aus
den ehemaligen Ostprovinzen.
Der »Fall Diesch« und die
sächsische Bibliothekspolitik
Es dauerte aber nicht lange, bis Diesch in die Mühlen politischer Konflikte in der SBZ geriet. Bereits
im Februar 1947 verfügte Snimtschikowa Dieschs
Entlassung. Dass Diesch nicht unbedingt den Vorstellungen entsprach, die Snimtschikowa von einem
Stellvertreter Uhlendahls hatte, war auch den Verantwortlichen in Dresden bewusst. Dort fand man
aber schnell eine Lösung für das Dilemma. Man
wollte Diesch als fachliche Kapazität halten, parallel aber einen weiteren Stellvertreter für Uhlendahl
suchen, der den Anforderungen Snimtschikowas
gerechter wurde und »sich insbesondere den Aufgaben widmen soll, die sich einer wissenschaftlichen
Bibliothek im Zuge der Demokratisierung unseres
Bildungswesens stellen«9, wie Staatssekretär Herbert
Gute (1905 – 1975) Uhlendahl im November 1946
gegenüber deutlich machte. Auch befand man sich
mit einem Kandidaten bereits in Verhandlungen.
Als dieser jedoch im persönlichen Gespräch mit
Uhlendahl erfuhr, was ihn in der Deutschen Bücherei erwartete, lehnte er am 20. Februar 1947 das Angebot erbost ab, denn er wolle sich nicht »in eine
solche beschauliche Abseitstätigkeit bugsieren«10
lassen. Zu diesem Zeitpunkt war die Entlassung
Dieschs bereits beschlossene Sache, wie Rocholl
Entlassung
Dieschs 1947
Forum
während einer Beratung in Karlshorst am darauffolgenden Tag erfuhr. Was war geschehen?
Den Stein ins Rollen brachte der Bremer Verleger Hans Kasten. Dieser hatte es sich offenbar
zur Aufgabe gemacht, die gesamte deutsche Verlagsproduktion während des Nationalsozialismus
nach antisemitischen und rassistischen Inhalten
zu durchforsten. Zudem soll er mit Diesch einst
um die Stelle des Direktors der Bremer Stadtbibliothek konkurriert haben. Offensichtlich hatte sich Kasten bei seinen Recherchen auch der
Auskunftsstelle der Deutschen Bücherei bedient.
Bei der Durchsicht der Veröffentlichungen des
Dresdner Ehlermann-Verlages stieß Kasten auf eine
Schrift Dieschs aus dem Jahr 1941 mit dem Titel
»Der Goedeke. Werdegang eines wissenschaftlichen
Unternehmens«. Dabei handelte es sich um die
Druckfassung eines Vortrages von Carl Diesch, den
der Bibliothekar vor der Königlichen Deutschen
Gesellschaft zu Königsberg im Jahr des Überfalls
der Wehrmacht auf die Sowjetunion gehalten hatte. Diesch, der federführend am »Goedeke«, einem
bedeutenden Schriftstellerlexikon, mitgewirkt hatte, hatte bei seinem Vortrag auch mit antisemiti-
Flexible Datenbankstruktur
Lesesaal
Ausleihe
Ausstellung
Findbuch
OPAC
schen Einwürfen nicht gespart, was jedoch offenbar auf die besondere Situation zurückführen ist,
da auch Königsberger NSDAP-Funktionäre seinem
Vortrag beiwohnten. Kasten meldete seinen Fund
umgehend an die Deutsche Zentralverwaltung für
Volksbildung (DZVV) in Ost-Berlin, der Vorgängerinstitution des Ministeriums für Volksbildung.
Dort zeigte man sich insbesondere empört über
die namentliche Diffamierung Heinrich Heines,
den Diesch bei seinem Vortrag als verlogen und gewissenlos bezeichnet hatte. Heine habe, so Diesch
1941, »niemals einen positiven befreienden Gedanken aufgestellt, der sein Eigentum wäre, den durch
alle seine Schriften durchlaufenden Gedanken, dass
die Unsittlichkeit ein Recht auf Existenz habe,
kann man weder einen befreienden, noch einen
positiven nennen.«11 Der Aufschrei in der Berliner
Zentralverwaltung hatte jedoch weniger mit der
»ausgesprochene[n] antisemitische[n] Haltung« zu
tun, die Kasten Diesch vorwarf. Vielmehr gab man
dort zu bedenken, dass es ein falsches Signal an
den Buchhandel senden würde, wenn jemand wie
Diesch an einer »exponierten Stelle in der grössten
Deutschen Bücherei tätig ist.«12
Archiv
FAUST 8
Digitales Archiv
Sammlungen
Bestellungen
Bilder, Audio, Video
EAD, LIDO, MARC
Katalogisierung
Umlaufverwaltung
Eingangsbuch
LAND
Software
Entwicklung
Vortrag
Dieschs mit
antisemitischen
Einwürfen
Bibliothek
Museum
www.land-software.de
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
47
Forum
Bedeutung der
Landespolitik in
der SBZ
Exempel
statuieren
48
Darin spiegelt sich zugleich eine innere Hierarchisierung von Schwerpunktbereichen in der DZVV
wider. Bibliothekspolitik rangierte dabei auf einer unteren Position. Deutlich wichtiger war aus
Ost-Berliner Sicht dagegen die Umgestaltung der
Verlagslandschaft. Bibliothekspolitik war zu diesem
Zeitpunkt indes noch eine Domäne der Landesregierungen. Gleichwohl war die DZVV parallel
zunehmend bestrebt, auch auf diesem Gebiet ihren Einfluss auszubauen. Aus Mangel an Verwaltungsressourcen blieb man in Ost-Berlin aber auf
die Landesverwaltungen angewiesen, die durchaus
eigensinnig agierten. So wurde Diesch vom sächsischen Volksbildungsministerium zunächst vom
Dienst suspendiert, auf Veranlassung Rocholls aber
durch den wissenschaftlichen Bibliothekar Ernst
Rückert ersetzt13, der bereits seit 1920 in der Deutschen Bücherei tätig war, und – genau wie Diesch –
nicht in die NSDAP, nach 1945 aber als Zeichen
äußerlicher Anpassung in die LDP eingetreten war.
Allerdings nutzte Rocholl, obgleich er Dieschs Ernennung einige Monate zuvor noch begrüßt hatte,
die Gelegenheit, um grundsätzliche Probleme der
sächsischen Bibliothekspolitik zu klären, um nicht
zuletzt auch gegenüber Ost-Berlin im rechten Licht
dazustehen. Dies waren vor allem Personalpolitik
und Ausbildungswesen. Auf diesen beiden Gebieten hatte Diesch in den Augen Rocholls klare Grenzen überschritten, und Dieschs ohnehin schon beschlossene Entlassung bot Rocholl einen idealen
Boden, um ein Exempel zu statuieren. So hatte
Diesch etwa dem im November 1945 wegen seiner
NSDAP-Mitgliedschaft entlassenen Leiter der Universitätsbibliothek Leipzig, Egon Mühlbach (geboren 1885), ein wohlwollendes Zeugnis ausgestellt
und empfohlen, Mühlbach aus fachlichen Gründen
weiter in einer leitenden Position zu beschäftigen.
In diesem Zusammenhang stand auch ein zweites
Vergehen Dieschs. Als Mitglied der Prüfungskommission hatte er den vom kommissarischen Leiter
der Universitätsbibliothek Leipzig, Otto Kielmeyer
(geboren 1906), vorgelegten Entwurf eines Ausbildungsplanes abgeändert und russische Autoren
herausgestrichen. Schon in seinem Gutachten über
Mühlbach hatte Diesch Kielmeyer als zwar durchaus kompetenten, aber wenig erfahrenen Kollegen
charakterisiert. Kielmeyer selbst hatte sich durch
Dieschs Vorgehen jedoch nicht provoziert gefühlt,
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Rocholl als verantwortlicher Bibliothekspolitiker
dagegen umso mehr.14
Freilich versuchten Uhlendahl und Diesch, Rocholls
Argumente zu entkräften. Alle Erklärungsversuche
halfen aber nichts. An Diesch sollte ein Exempel
statuiert werden. Am 10. Februar 1947 erhielt Rocholl die Order eines sowjetischen Oberleutnants,
Diesch unverzüglich zu entlassen und die Wohngemeinschaft Uhlendahl/Diesch aufzulösen. Noch
am selben Tag erhielt Uhlendahl die Anweisung aus
Dresden, Diesch wegen »erwiesener antidemokratischer Betätigung« zu entlassen.15 Gleichwohl hinderte dies die sächsische Landesregierung nicht daran,
Diesch wenige Monate später eine Mitarbeit an einer
Neuauflage des »Goedeke« anzubieten.
Der »Fall Diesch« spiegelt zentrale Entwicklungslinien der Bibliothekspolitik in der SBZ wider. Entgegen der bisherigen bibliotheksgeschichtlichen
Forschung, der vornehmlich die ideologische Seite
der Bibliothekspolitik und die zentrale Rolle der
DZVV postuliert hat, zeichnet ein Blick auf die tatsächlichen Machtstrukturen und die politische Praxis ein erheblich davon abweichendes Bild. Anstatt
einer strikten »Durchherrschung« durch die DZVV
als verlängertem Arm der SMAD waren die Kompetenzen zwischen Ost-Berlin und den Landesverwaltungen noch lange Zeit verteilt. Dies geschah freilich nicht auf einer formalen Grundlage, sondern
basierte auf informellen Aushandlungsprozessen.
So zeigt die Reaktion der DZVV auf die Denunziation Dieschs, dass Bibliothekspolitik in der Zentralverwaltung eine eher untergeordnete Rolle spielte.
Diesch war aus Sicht der DZVV nicht deshalb ein
Problem, weil er die Durchsetzung eines »einheitlichen sozialistischen Bibliothekswesens« in der
Deutschen Bücherei infrage stellte, sondern man in
ihm ein negatives Signal für den Buchhandel sah.
Bibliothekspolitik im engeren Sinne war dagegen
noch immer eine Domäne von Landespolitik. Dort
wurden wichtige berufsständische Fragen wie Ausbildungswesen und Kriterien der Personalrekrutierung verhandelt. Im sächsischen Fall, und speziell
im »Fall Diesch«, werden die Spielräume und Grenzen des Mach- und Sagbaren sehr deutlich. Das
allseits propagierte, am sowjetischen Modell der
Massenbibliotheken orientierte Leitbild des Bibliothekars als »Lehrer und Berater des Volkes« fand
dort keine dogmatische Umsetzung.16 Der zustän-
»Erwiesene
antidemokratische
Betätigung«
Machtspiel zwischen Landesund Zentralverwaltung
Forum
dige Referent Rocholl war nicht zwangsläufig dazu
bereit, fachliche Expertise gegen politische Schlagfertigkeit aufzuwiegen – im Zweifelsfall gab er sich
(auch angesichts der grassierenden Personalnot)
zufrieden, wenn (formal) unbelastetes Fachpersonal in leitenden Funktionen agierte. Auch bei der
Ausgestaltung der Ausbildungspläne griff Rocholl
auf die Expertise wissenschaftlicher Bibliothekare
zurück, die sich wiederum an den früheren Lehrinhalten orientierten. Als einzige Konzession sollte
sowjetische Literaturgeschichte künftig eine größere Rolle spielen. In diesem Rahmen war fachliche
Arbeit weiterhin möglich. Diesch allerdings überschritt, freilich nicht intendiert, diese Grenzen des
Sagbaren, und es war nur folgerichtig, dass seine
ausschließlich fachlichen Erklärungsversuche bei
Rocholl auf taube Ohren stießen. Die Bibliothekspolitik in der SBZ/frühen DDR war indes weniger
von revolutionären Umbrüchen gekennzeichnet,
sondern vielmehr durch eine Mischung aus tradierten Strukturen und äußerlichen Konzessionen an
die neuen Machthaber.
E-Mail-Adresse von Dr. Christian Rau: [email protected]
Anmerkungen
1 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SächsHStAD); Archiv der Deutschen Nationalbibliothek Leipzig (ADNBL).
2 Zur Person Carl Diesch bis 1945 vgl. Art. »Diesch, Karl Hermann Kaulfuss-«, in: Alexandra Habermann/Rainer Klemmt/Frauke
Siefkes, Lexikon deutscher wissenschaftlicher Bibliothekare 1925 – 1980, Frankfurt am Main 1985, S. 58f.; Michael Parak/Carsten
Schreiber, »Flüchtlingsprofessoren«. Karrieren geflohener und vertriebener Hochschullehrer in der SBZ/DDR, Leipzig/Berlin 2008,
S. 50 – 53, 148 – 159.
3 Carl Diesch an Heinrich Uhlendahl, 17.12.1945, ADNBL, 154/5, III, unfol.
4 Heinrich Uhlendahl an Carl Diesch, 05.01.1946, Ebd., unfol.
5 Heinrich Uhlendahl an Carl Diesch, 24.10.1946, ADNBL, 335/0, Bd. 1, Bl. 105.
6 Rocholl, Niederschrift über eine Besprechung mit der Inspektion für das Bibliothekswesen der SMAD Herrn Professor Schkral und
Frau Dr. Snimtschikowa am 12./13. Dezember 1946 in Leipzig, SächsHStAD, 11401, 1744, unfol.
7 Ministerium für Volksbildung Sachsen, Abt. Wissenschaft und Forschung, an den Leiter der Volksbildung, 05.09.1946, SächsHStAD,
11401, 1743, unfol.
8 Landesregierung Sachsen, Ministerium für Volksbildung, Ref. Wissenschaftliche Bibliotheken, an das Sekretariat des Ministeriums
für Volksbildung, 12.02.1947, SächsHStAD, 11401, 1708, unfol.
9 Landesverwaltung Sachsen, Volksbildung, Leiter, an die Deutsche Bücherei, 11.11.1946, ADBL, 353/1/3, II, Bl. 135.
10 Rat der Stadt Leipzig, Volksbildungsamt, Abt. Kunst und Kunstpflege, Rudolph Franz, an die Landesregierung Sachsen, Ministerium für Volksbildung, Otto-Heinz Rocholl, 20.02.1947, SächsHStAD, 11401, 1741, unfol.
11 Hauptschriftleitung Berlin an den Präsidenten der DZVV, Paul Wandel, 13.01.1947, SächsHStAD, 11401, 1748, unfol.
12 Ebd., unfol.
13 Landesregierung Sachsen, Ministerium für Volksbildung, Rocholl an die Deutsche Bücherei, 28.01.1947, Ebd., unfol.
14 Der revidierte Ausbildungsplan und das Gutachten über Egon Mühlbach befindet sich in Ebd., unfol.
15 Oberregierungsrat Rönisch an Heinrich Uhlendahl, 10.02.1947, Ebd., unfol.
16 Zu den ideologischen Grundlagen vgl. insb. Sigrid Amedick, »Macht die wissenschaftlichen Bibliotheken zu sozialistischen Einrichtungen!«. Bibliotheken, Bibliothekare und Politik in der SBZ und DDR 1945 bis 1965, in: Bibliothek und Wissenschaft 31
(1998), S. 1 – 127, hier S. 22f.
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
49
Forum
Stephanie Jacobs
Fellowship Internationales Museum
»Fellowship Internationales
Museum« der Kulturstiftung des
Bundes am Deutschen Buch- und
Schriftmuseum der Deutschen
Nationalbibliothek in Leipzig
18 Gastwissenschaftlerinnen
und -wissenschaftler im
DBSM
»Designing
Ethics«
50
Begleitet von einem lachenden Stimmengewirr treffen sich am 20. Mai 2016 18 Gastwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus aller Welt mit ihren
Mentorinnen und Mentoren im Sitzungszimmer
des Deutschen Buch- und Schriftmuseums (DBSM)
der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig. Die
erste Akademietagung des von der Kulturstiftung
des Bundes (KSB) ausgeschriebenen Förderprogramms »Fellowship Internationales Museum«, die
am Vorabend in Halle mit einem Vortrag von Professor Dr. Eckart Köhne, Präsident des Deutschen
Museumsbundes, zum Thema »Ethische Leitlinien
der Museumsarbeit« eröffnet wurde, beginnt mit einer so spielerischen wie einfachen und wirkungsvollen Methode, Kommunikationsbarrieren abzubauen: Mit dicken Buntstiften bewaffnet portraitieren
sich die Teilnehmenden der Akademie gegenseitig
im engen Zeittakt der »Minute Madness« und erzählen dabei über sich. Nach einer Minute werden
die Portraitpartner gewechselt. Der jeweils 18 Monate dauernde Aufenthalt der Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in Deutschland
ist mit diesem Auftakt offiziell eingeläutet, die erste
der fünf mobilen Akademiestationen, die das Programm in den nächsten eineinhalb Jahren begleitet,
ist eröffnet. Unter dem Titel »Designing Ethics« haben die Fellows und ihre Mentorinnen und Mentoren drei Tage lang in Halle und Leipzig miteinander
diskutiert, sind mit Expertinnen und Experten ins
Gespräch gekommen und haben eigene Statements
zu ethischen Frage in der Museumsarbeit erarbeitet.
Die Kuratorinnen und Kuratoren und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des diesjährigen Programms haben sich in einem aufwendigen
internationalen Ausschreibungsverfahren als beste
durchgesetzt und arbeiten nun bis Herbst 2017
an 18 unterschiedlichen Museen in Deutschland.
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Teilnehmerinnen und Teilnehmer am PiktoTalk im DBSM
Foto: KockoTTransformation, Kulturstiftung des Bundes
Die Museen, die den Zuschlag bei dem in diesem
Jahr zum zweiten Mal ausgeschriebenen Förderprogramm der Kulturstiftung um einen Fellowship
bekommen haben, sind sowohl in ihrem thematischen Zuschnitt als auch in ihrer Größe sehr
unterschiedlich: Das kleine, aber innovative Berliner Museum der Dinge ist ebenso dabei wie die
Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Staatlichen
Kunstsammlungen Dresden, das Schifffahrtsmuseum Bremerhaven oder das Historische Museum in
Frankfurt am Main. Die Museen haben sich mit
einem Projektvorhaben bei der KSB beworben, das
einen internationalen Blickwinkel mit der Option
verbindet, auch neue Vermittlungswege und thematische Ansätze einzuschlagen. Cathleen Marie
Haff, Koordinatorin des Förderprogramms bei der
Kulturstiftung, umschreibt als Ziel des FellowshipProgramms, »Museen anzuregen, ihre Themen,
Arbeitsweisen und Ausrichtungen zu internationalisieren und sie beim Erproben neuer Präsentations- und Kooperationsformen zu unterstützen«.
Weiterhin ziele die Initiative darauf, »die interkulturelle Kompetenz innerhalb deutscher Museumseinrichtungen zu verbessern und internationale sowie
interdisziplinäre Netzwerke von Wissenschaftlern,
Kuratoren und Museologen zu stärken«.
Projektvorhaben
mit internationalem Blickwinkel
Forum
Breit gefächertes
Themenspektrum
Ob Planetenuhren, spätantike Textilien in
Oberägypten oder Zugvögel in Afrika, ob die
Geschichte der europäischen Juden in der Nachkriegszeit, die Kolonialgeschichte, der Welthandel
oder die Vision einer Universalsprache: Das Themenspektrum der diesjährigen Projekte ist breit
gefächert. Wichtig sind bei den wissenschaftlichen
Vorhaben vor allem die Verankerung des Themas
im jeweiligen Sammlungsspektrum des Museums
und eine neue Sicht oder neue Fragestellung an
die Bestände. Projektergebnis sind entweder Wechselausstellungen, virtuelle Ausstellungen, die Neukonzeption von Dauerpräsentationen oder die Bearbeitung und Präsentation einzelner Sammlungen.
Einige Projekte zielen auch auf die Requirierung
neuer Zielgruppen für das Museum.
ten entwickelt, zielen Fritz Kahns mechanistisch
aufbereitete Prozessdiagramme des menschlichen
Körpers auf den »Menschen als Industriepalast« –
so eines seiner bekanntesten Buchtitel. In der Zusammenschau markieren sie zwei unterschiedliche
Herangehensweisen an die Visualisierung von wissenschaftlich-statistischen Erkenntnissen und damit einen jeweils spezifischen Beitrag zum »Iconic
Turn« dieser Epoche.
»Iconic Turn«
Populäre Infografik der
1920er-Jahre
Universelle
Bildsprache
von Otto Neurath
und Fritz Kahn
Mit der Zielsetzung einer stärkeren Vernetzung des
Museums innerhalb der Forschung hat sich das
DBSM gemeinsam mit der Universität Erfurt um
die Förderung durch die Kulturstiftung beworben.
Thema des gemeinsam mit Professor Dr. Patrick
Rössler, Professor für Kommunikationswissenschaft in Erfurt aufgesetzten Projektes ist die populäre Infografik der 1920er-Jahre, deren Theorie und
Gestaltungspraxis seit ein paar Jahren im Kontext
des »Iconic Turn« in der Alltagskommunikation
eine Renaissance erlebt. Unter dem Arbeitstitel
»Transformer. Populäre Infografik der 1920er-Jahre«
thematisiert das Projekt den Visualisierungsschub
im frühen 20. Jahrhundert, der visuelle Ordnung
in die zuvor nie dagewesene Informationsflut der
damaligen neuen Medien bringen sollte.
Im Zentrum stehen zwei Initiativen aus den 1920erJahren, die beide auf eine bildbasierte Universalsprache und deren Verbreitung zielen: Unabhängig
voneinander und aus unterschiedlichen Traditionen
heraus entwickeln Otto Neurath, österreichischer
Nationalökonom und Gründungsmitglied des Wiener Kreises, und der in Halle geborene Mediziner
Fritz Kahn fast zeitgleich eine universelle Bildsprache, die auf einer formalen Stilisierung des menschlichen Körpers beruht. Während Neurath in seinem Konzept der ISOTYPE Piktogramm-ähnliche
Grafiken als Zähleinheiten für soziale Gegebenhei-
Isotype Symbol, Gerd Antz, 1930er-Jahre.
Het Geheugen van Nederland/Koninklijke Bibliotheek –
Nationale bibliotheek van Nederland, 2003
Beide Protagonisten, die als Mitbürger jüdischen
Glaubens beziehungsweise als deren Partner der
Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt
waren, wurden bereits verschiedentlich in Ausstellungen und Publikationen gewürdigt, bislang allerdings nicht in ihren spezifisch funktionalistischen
Sichtweisen auf den Menschen gegenüberstellt.
Diese Kontrastierung steht im Mittelpunkt des
Ausstellungsvorhabens, für das die Universität Erfurt und das DBSM in einem gemeinsamen Ausschreibungsverfahren die junge Kunsthistorikerin
Helena Doudova aus Prag gewinnen konnten. Neben wissenschaftlichen Studien zu Adolf Loos und
der Zwischenkriegsmoderne hat sich Frau Doudova
auch durch die von ihr konzipierten Ausstellungen
für das Projekt qualifiziert und sieht für sich persönlich in dem Projekt die große Chance, »kuratorische Erfahrungen in Deutschland zu sammeln
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
51
Forum
und die Rolle von Infografik sowie ihr Potenzial
für die Ausstellungsgestaltung zu erforschen und
sich dadurch im Bereich von Ausstellen weiter zu
profilieren.«
Ausstellungen zu den
»Golden Twenties«
Das Bild als
Informationsquelle am Anfang
des 20. Jahrhunderts
Für das DBSM liegt der Reiz des Ausstellungsthemas einerseits in der Neuentdeckung und Profilierung des Bildes als Informationsquelle am
Anfang des 20. Jahrhunderts. Andererseits ist das
Thema mit seiner internationalen Ausrichtung
ein besonders interessanter Beitrag zu einer Serie
von Ausstellungen, die das DBSM den »Golden
Twenties« als einer kulturell unvergleichlich spannenden Brückenzeit widmet. Zu der Serie, die das
schillerndste Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts
im Vorfeld von dessen 100. Wiederkehr in den
Blick nimmt, zählen zum Beispiel eine Ausstellung zu den Schrift-Bild-Experimenten der Russischen Avantgarde oder eine Schau zu Texten Franz
Kafkas im Künstlerbuch. Historischer Aufhänger
der Ausstellung »Transformer«, die im September 2017 in Leipzig eröffnet wird, ist, dass der
junge Otto Neurath vor genau 100 Jahren seine
erste Stelle als Direktor des Kriegswirtschaftsmuseums in Leipzig antrat, in dessen ständiger
Ausstellung er seine bildstatistische Programmatik einer größeren Öffentlichkeit bereits vorstellen
konnte.
Isotype Symbol, Gerd Antz, 1930er-Jahre.
Het Geheugen van Nederland/Koninklijke Bibliotheek –
Nationale bibliotheek van Nederland, 2003
52
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Helena Doudova, Fellow am DBSM
Foto: KockoTTransformation, Kulturstiftung des Bundes
Das Quellenmaterial für die Ausstellung konzentriert sich dabei primär auf die gedruckten und
vielfach wiederaufgelegten Werke Otto Neuraths
und Fritz Kahns und weniger auf zeichnerische
Originalentwürfe, denn wesentlich für die Bedeutung und Rezeption beider Ansätze bis in
die Gegenwart hinein ist ihre Wirkung aufgrund
der massenhaften Verbreitung. Die Deutsche Nationalbibliothek und die mediengeschichtlichen
Bestände des DBSM beherbergen eine einmalige
Sammlung dieser publizierten Bestände. Recherchen von Helena Doudova in den Nachlässen der
beiden Protagonisten in New York, Wien, Reading
und Den Haag vervollständigen das Bild und sind
die Grundlage für die historisch-biografische Einordnung des Themas und seine wissenschaftliche
Fundierung.
Auch ergeben sich interessante thematische Anknüpfungspunkte an die Dauerausstellung des
DBSM, die unter dem Titel »Zeichen – Bücher –
Netze. Von der Keilschrift zum Binärcode« eine
kurze Mediengeschichte von den Anfängen der
Schriftgeschichte vor 5.000 Jahren bis heute erzählt. So zeigt das Ausstellungsmodul zum Thema
»Lesen« zum Beispiel Neuraths Bildstatistiken und
ordnet diese in die Jahrtausende alte Tradition des
Bilderlesens als Vorgeschichte beziehungsweise Parallelphänomen der Kulturtechnik des Lesens ein.
Denn die Vision einer weltweit über alle sprachlichen Grenzen hinweg rezipierbaren Schrift begleitet die Kulturgeschichte des Menschen wie
ein roter Faden. Das komplexe Thema der Suche
nach einer bildbasierten Universalschrift, das in
Recherchen in
New York, Wien,
Reading und Den
Haag
Forum
der Dauerausstellung nur angerissen werden kann,
kann Dank der Förderung durch die Kulturstiftung nun vertieft werden. Weitere Förderungen im Rahmen des Projektes seitens der Gesellschaft für das Buch e. V., den Freunden der DNB,
und durch den Freundeskreis der Universität Erfurt ermöglichen eine Publikation zu der Ausstellung. Neben der Umsetzung des Themas in
einer Publikation und einer Wechselausstellung in
Leipzig ist unter Vorbehalt der Klärung von Verwertungsrechten auch eine digitale Präsentation
im Netz geplant, für das die Infografiken in ihrer
Stilisierung geradezu geschaffen zu sein scheinen.
Der virtuelle Auftritt zum Thema garantiert nicht
nur die Sichtbarkeit der Projektergebnisse über die
Laufzeit der Ausstellung hinaus, sondern auch die
Möglichkeit einer kooperativen Weiterentwicklung des Themas mit den universitären Partnern
des Museums.
Ziele des Förderprogramms
Die Ziele des Förderprogramms Fellowship Internationales Museum werden von dem skizzierten Projekt in mehrfacher Hinsicht in den Blick
genommen: die Chance, eingefahrene Wege und
Denkweisen im musealen Arbeitsalltag mit neuen
Sichtweisen zu konfrontieren, hochkarätige Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus
aller Welt zu beschäftigen und das internationale
Netzwerk des Museums zu stärken. Dass neben
solider wissenschaftlicher Ausbildung dabei auch
Enthusiasmus, Offenheit und die Neugier kultureller Grenzgänger in die geförderten Museen kommt,
ist der vielleicht schönste Nebeneffekt, von dem
auch die Museumsangestellten profitieren können.
Daher hat die Kulturstiftung nach dem ersten erfolgreichen Durchgang 2014/2015 nicht gezögert,
das »Fellowship Internationales Museum« erneut
aufzulegen: »Die überraschend guten Ergebnisse der
letzten Förderphase waren für uns Grund genug, die
›Erfolgsgeschichte‹ in die Verlängerung zu schicken«,
so die Projektkoordinatorin Cathleen Marie Haff.
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Fazit
53
Forum
Ida Kandler
Schmonzetten, Schmäh und Parodie
Wort- und Tondichtungen des
frühen 20. Jahrhunderts aus den
Beständen des Deutschen Musikarchivs der Deutschen Nationalbibliothek
Genese eines
Projektes
Präsentation auf
YouTube-Kanal
54
Im Deutschen Musikarchiv der Deutschen Nationalbibliothek (DMA) lagern neben den täglichen
Neuzugängen an CDs, Vinylschallplatten und Musikalien eine große Menge historischer Tonträger.
Derzeit sind es unter anderem über 250.000 Schellackplatten und Phonographenwalzen. Diese enthalten hauptsächlich Musik, aber in den Magazinen
des DMA befinden sich auch historische SprechTonträger. Diese Aufnahmen sind vielfach in Vergessenheit geraten. Sie wieder ins Bewusstsein der
Öffentlichkeit zu rücken und dabei das DMA mit
seinen Aufgaben und einem kleinen Teil der Sammlung im Internet zu präsentieren, war die erste Zielvorgabe eines im Januar 2016 anlaufenden Projekts,
das zu Anfang nur unter dem Namen »OnlineKollektion« lief. Gesonderte finanzielle Mittel standen dafür nicht zur Verfügung. Im Fokus sollten
Tonbeispiele stehen, die man nicht unmittelbar im
DMA erwartet. Sehr verschiedene Sprechplatten
bietet der Bereich Kabarett: vom Witz über Sketche
und humoristische Mundartdichtungen bis hin zu
sozialkritischen Versen.
So kristallisierte sich der Umfang des Projektes
heraus: Eine Kollektion bestehend aus hundert digitalisierten Aufnahmen von historischen Tonträgern mit dem Schwerpunkt Kabarett, Satire und
Parodie, die einer breiten Öffentlichkeit online
zugänglich gemacht werden soll. Als Plattform
zur Präsentation fiel die Wahl auf YouTube. Ein
großer Nutzerkreis, einfache Handhabung und gut
einsehbare Zugriffszahlen gehören ebenso zu den
Vorteilen dieses Videoportals wie die automatische
Verlinkung zu Videos mit ähnlichen Inhalten. Daraus wiederum ergab sich die Möglichkeit, nicht
nur die Aufnahmen, sondern auch die verschiedenen Labels der historischen Tonträger zu zeigen.
Eingebunden in den YouTube-Kanal der Deutschen
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Nationalbibliothek1 bekam das DMA eine eigene
Kabarett-Playlist.
Wo beginnt Kabarett,
wo hört es auf?
Bevor der Digitalisierungsprozess beginnen konnte, musste eine Auswahl der Tonbeispiele erfolgen.
Es sollten einhundert Aufnahmen aus einem möglichst breiten Spektrum sein: verschiedene Themen,
Stile, Interpretinnen und Interpreten aus einem
Zeitraum von 1900 bis in die 1930er-Jahre. Schnell
zeigte sich: Ohne Musik kommt Kabarett nicht aus,
da es sonst hieße, auf Couplets, scherzhaft-satirische Lieder, oder auf Chansons zu verzichten. Aus
den Wortdichtungen des frühen 20. Jahrhunderts
wurden für die Online-Kollektion somit Wort- und
Tondichtungen.
Recherche und Auswahl erfolgten nach verschiedenen Suchkriterien: über bekannte Namen, Theaterund Kleinkunstbühnen, Ensembles und vielversprechend klingende Titel. Häufig führte ein Interpret
zum anderen. Doch wo beginnt Kabarett, wo hört
es auf? Die Grenzen verschwimmen: Varieté, Schlager, Parodie, Revue, Komik, Theater, Sketch, Witz,
Humoreskes, Groteskes. Sollen vor allem politische
und satirische Titel präsentiert werden oder darf es
auch einfach unterhaltend sein? Spöttisch-feinsinnige Kunst, intelligente Kritik oder Gassenhauer und
derbe Alltagskomik? Oder von allem etwas? Die
wichtigsten Gemeinsamkeiten waren am Ende: Die
Stücke müssen deutschsprachig und im Deutschen
Musikarchiv vorhanden sein.
Ein weiteres entscheidendes Auswahlkriterium für
die Aufnahme eines Titels in die Online-Kollektion
war das der Gemeinfreiheit. Im Falle der Tonbeispiele bedeutet dies, dass sie, nur wenn alle Rechteinhaberinnen und -inhaber – in erster Linie Texter
und Komponisten – seit 70 Jahren verstorben sind,
verwendet werden können. Auf vielen Plattenlabeln
fehlen allerdings Angaben über die Verfasser von
Text und Ton. Die Mutmaßung, dass es sich bei
Recherche und
Auswahl
Auswahlkriterium
Gemeinfreiheit
Forum
Interpretinnen und Interpreten zugleich um die
Urheberinnen und Urheber handelt, reicht nicht
aus. Das führte dazu, dass bestimmte Aufnahmen,
mitunter sogar sämtliche Tonaufzeichnungen einiger Künstlerinnen und Künstler, wegen mangelnder
Informationen nicht verwendet werden konnten,
sie also derzeit nicht einer breiten Öffentlichkeit
zugänglich gemacht werden können.
Der Digitalisierungsprozess
Voraussetzungen für die
Digitalisierung
Das Digitalisieren einer Aufnahme erfordert tontechnisches Knowhow, das entsprechende Equipment
und einen hohen Zeitaufwand. Im Tonstudio des
DMA muss entschieden werden, ob der historische
Tonträger verwendet werden kann: Ziehen sich Kratzer über die Oberfläche oder wurde ein Tonträger
häufig genutzt, kann die Rille zu viele Unebenheiten
aufweisen. Das erschwert die Digitalisierung einer
Aufnahme in guter Qualität oder macht sie sogar
unmöglich. Eine Phonographenwalze abzunehmen
erfordert andere technische Voraussetzungen, da
die Tonspur vertikal und nicht wie bei den meisten Schallplatten horizontal ausgelesen wird. Die
Aufnahmequalität ist zudem eine andere, als wir es
von modernen Tonträgern gewohnt sind. Durch
Rauschen und Verzerrungen sind die Stimmen und
Instrumente mitunter sehr undeutlich. Aus diesen
Gründen befindet sich nur ein Tonbeispiel einer
Goldguss-Wachswalze der Firma Edison in der Online-Kollektion, das bereits digital vorlag. Aber auch
Schellackplatten können so abgenutzt sein, dass sie
für ein solches Projekt nicht mehr infrage kommen.
Der Zustand dieser heute noch verfügbaren Platten
kann auch zeitgeschichtlich relevante Informationen preisgeben. In Zeiten von Mangelwirtschaft,
bedingt durch zwei Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise, wurden viele Schallplatten wieder abgegeben und gegen neue getauscht, denn Schellack
kann eingeschmolzen und erneut verwendet werden. Das lässt den Schluss zu, dass die Tonträger,
die heute noch erhalten sind, oft und gern gehört
wurden. Im Gegenzug kann es bedeuten, dass viele
andere Platten heute nicht mehr erhalten sind. Statt
einer Aufnahme, der wir heute einen hohen künstlerischen Wert zusprechen würden, ist vielleicht ein
unterhaltendes Couplet geblieben.
Wird eine Schellackplatte als geeignet für die Digitalisierung gesehen, wird sie im DMA-Tonstudio
mit einem Plattenspieler und speziellen Nadeln abgenommen. Die nun zu hörende Aufnahme klingt
allerdings nicht so, wie sie die Menschen vor 80
oder 100 Jahren gehört haben. Eine Grammophonnadel bewegt sich mit viel größerem Druck durch
die Plattenrille als die Nadel eines modernen Plattenspielers. Eine Nadel mit weniger Druck macht
winzige Makel auf der Platte eher hörbar. Das ändert beispielsweise die Art des Rauschens: durch
einen modernen Plattenspieler klingt es störender,
aggressiver, durch ein Grammophon weicher. Der
hohe Druck der Grammophonnadel führt aber
auch dazu, dass die Schellackplatten einer größeren
mechanischen Belastung ausgesetzt sind. Da aus
Bestandsschutzgründen diese Abspielvariante ausscheidet, erfolgt das Anpassen des Auflagedruckes
nach dem Digitalisieren der Aufnahme.
Je älter eine Platte, desto größer ist der Aufwand.
Das begründet sich unter anderem darin, dass die
Schellackplatten in den frühen Jahren mit unterschiedlichen Abspielgeschwindigkeiten produziert
wurden. An den Grammophonen gab es Regler,
mit denen sich die Geschwindigkeit einstellen ließ
und die man selbst justieren musste. Das Anpassen
der Geschwindigkeit nach dem Digitalisieren ist
Feinarbeit und erfordert ein hohes Maß an Erfahrung. Damit nähert man sich dem ursprünglichen
Hörerlebnis an. Rauschen und Knacken könnten
auch fast ganz herausgefiltert werden, was jedoch
den Klang verfälschen würde und dem Tonträger
als Zeitdokument seine Authentizität nähme.
Von 369 recherchierten und auf Gemeinfreiheit geprüften Kabarett-Titeln von über 200 verschiedenen
Interpretinnen und Interpreten blieben am Ende
knapp hundert Aufnahmen von fünfzig Künstlerinnen und Künstlern übrig. Anfang Juni 2016, ein
halbes Jahr nach der ersten Idee zum Projekt, gingen die ersten Kabarett-Titel bei YouTube online.
Heutige Abspieltechnik
an damalige
anpassen
Nicht ohne »Kuttel-Daddeldu«? –
Problematiken und ein Fazit
Doch der redaktionelle Entstehungsprozess der Online-Kollektion verlief nicht ohne Umwege und Hürden. Die anfängliche Vorstellung, möglichst geistrei-
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
55
Forum
Historische
Tonträger
als Zeitdokumente
MännerDomäne
Kabarett
che, intelligente Stücke auszusuchen, über die auch
heute gelacht werden kann, musste mit den historischen Gegebenheiten in Einklang gebracht werden:
Der vorgetragene Humor kann spitz, witzig und
trocken sein, aber auch flach und überladen von
Stereotypen und Vorstellungen, über die man heute
nicht mehr lachen kann. Wie geht man mit Joachim
Ringelnatz’ »Ballade vom Seemann Kuttel-Daddeldu« um, in der vom »Niggersong« die Rede ist? Soll
man einen solchen Titel wieder öffentlich machen,
trotz heutzutage nicht mehr verwendbarer Begriffe
oder ist es auf der anderen Seite falsch, ihn einfach
unter den Tisch fallen zu lassen?
Das Deutsche Musikarchiv der Deutschen Nationalbibliothek sammelt, ohne zu werten. Jeder historische Tonträger ist ein Zeitdokument. Er verrät,
was die Leute gekauft haben, was sie aufgehoben
und gehört haben.
Der Querschnitt durch die Kabarett-Aufnahmen
des frühen 20. Jahrhunderts lässt noch eine Frage
offen: Warum gibt es so viele Kabarettisten und so
wenige Kabarettistinnen in der Online-Kollektion?
Vermutlich gab es in den 1910er- bis 1930er-Jahren
durchaus mehr männliche Kabarettisten, während
Frauen andere Rollen auf der Bühne zugeschrieben wurden. Zudem wurde nicht jede weibliche
Kabarettgröße aufgezeichnet: Rosa Valetti beispielsweise, Gründerin des Kabaretts »Größenwahn«
spielte zwar in Filmen mit, allerdings konnte kein
historischer Tonträger mit ihrem Namen gefunden
werden. Auch unter den Namen der Texter und
Komponisten befindet sich nur äußerst selten ein
weiblicher.
Otto Reutter (Plakat):
Paul Haase (1873 – 1925) – Galerie Bassenge
»Schmonzetten, Schmäh und Parodie« kann dennoch ein breitgefächertes Bild der frühen deutschsprachigen Kabarettszene präsentieren. Belohnt
wird man mit ganz besonderen Tonaufnahmen:
Autorenlesungen von Anton Wildgans und Karl
Kraus, Paul Graetz, der sich mit genussvoller
Stimme über den Sonntagvormittag auslässt, Otto
Reutter, der sich über jarnischt mehr wundert,
Paul Nikolaus, der sich zum selbsternannten
Musikexperten erklärt und eine berlinernde Claire
Waldoff.
Anmerkung
1 Link zum YouTube-Kanal der Deutschen Nationalbibliothek, auf dem unter »Playlists« die Online-Kollektion »Schmonzetten,
Schmäh und Parodie« des DMA zu finden ist: <https://www.youtube.com/user/DtNationalbibliothek/featured>
56
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Zeitpunkte
Susanne Oehlschläger
Digitales Gedächtnis
Workshop über die digitalen
Sammlungen der Deutschen
Nationalbibliothek am 12. April
2016 in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt am Main
»Ihre umfassenden Sammlungen von Publikationen, die seit 1913 in Deutschland oder in deutscher
Sprache in Texten, Bildern und Musik erschienen
sind, bilden einen bedeutenden Teil des kulturellen
Erbes Deutschlands objektiv, wertungsfrei, dauerhaft und im Rahmen des gesetzlichen Auftrags
vollständig ab.« Dieser Leitgedanke steht über dem
Abschnitt »Sammeln und Erhalten« im strategischen Kompass der Deutschen Nationalbibliothek
(DNB), wobei die Gültigkeit dieser Aussage weiter
reicht als der Zehn-Jahres-Horizont, den die Strategie in den Blick nimmt. Es ist seit jeher eine zentrale Aufgabe der Deutschen Nationalbibliothek,
ihren Sammelauftrag an die gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und auch wirtschaftlichen Entwicklungen anzupassen, um ihn so angemessen vollziehen zu können.
Aufgrund dieses Auftrags ist die Deutsche Nationalbibliothek das kulturelle Gedächtnis Deutschlands
für Schrift und Musik der jüngeren Geschichte und
Gegenwart. Ihre Aufgabe besteht darin, alles zu
sammeln, zu verzeichnen und zu bewahren, was in
Deutschland, über Deutschland und in deutscher
Sprache seit 1913 publiziert wurde und wird. Dazu
gehören auch alle in Deutschland veröffentlichten
Notenausgaben und Musikressourcen.
Während es in Zeiten gedruckter und körperlicher
Publikationen für eine Nationalbibliothek vergleichsweise einfach war, zu bestimmen, was unter
ihren Sammelauftrag fällt, muss sich die Deutsche
Nationalbibliothek heute mit der Frage beschäftigen, was ein nationales kulturelles Gedächtnis
in Zeiten des World Wide Web (WWW) und der
Virtualisierung leisten muss. Diese Frage ist Teil der
gesellschaftlichen Debatte zu den Folgen des digitalen Wandels, der immer noch in vollem Gange ist.
Da sich die Verantwortlichen einig sind, dass man
sich der Antwort nur schrittweise und im fortwährenden Dialog nähern kann, führt die Deutsche
Nationalbibliothek in loser Folge einige Workshops durch, um mit Vertreterinnen und Vertretern
aus anderen Einrichtungen sowie Mitgliedern ihrer
Beiräte zu diskutieren und so die Sammelrichtlinien weiterentwickeln zu können. Über die Workshops »Dynamisches Bewahren« (2013), »Musik im
Netz« (2014) wurde an dieser Stelle bereits informiert.1 Gegenstand des folgenden Berichts sind die
Ergebnisse des Workshops »Digitales Gedächtnis«
im April 2016.
Digitaler »Garten«
Mit dem Bild einer Landschaft, einer digitalen
Sammlungslandschaft, wurden insgesamt 16 Vertreterinnen und Vertreter von Archiven, Bibliotheken
und Museen, der ›Produzenten‹seite (Verlag, Musik) und von der Staatsministerin für Kultur und
Medien auf Einladung der Deutschen Nationalbibliothek auf das Thema eingestimmt, um anschließend ausführlich darüber zu diskutieren, wie der
digitale »Garten« künftig bestellt werden könnte.
Im Rahmen einer Bestandsaufnahme wurde zusammengetragen, welche »Pflanzen« die DNB in ihrem
Teil des Gartens bereits systematisch kultiviert, welche vereinzelt und welche bisher noch gar nicht.
Bei der Frage nach dem Status quo der digitalen
Landschaft konzentrierte sich die Diskussion auf
die Bereiche, die bislang von der DNB noch nicht
gesammelt werden können, während die Bereiche,
die die DNB als sammelwürdig ansieht und in großen Teilen auch bereits abdeckt, nicht in Frage gestellt wurden.
Nicht systematisch, sondern höchstens als »Beifang« zu den ersten Sammlungsversuchen mit
Websites sammelt die DNB aktuell Formate wie
Anwendungssoftware (sogenannte Apps), den Selfpublishing-Bereich sowie Internetforen, soziale
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
57
Zeitpunkte
Medien und Blogs. Als Datenbank erscheinende
digitale Publikationen werden bisher lediglich in
Auswahl verlinkt. Mit der Einbeziehung dieser Formate muss sich die DNB jedoch künftig intensiver
beschäftigen, da es sich abzeichnet, dass beispielsweise Fach- und Schulbücher sowie E-Journals zunehmend in Form von Datenbanken erscheinen.
Auch wurde darüber diskutiert, ob Shopsysteme
oder Plattformen für Musik, die bisher nicht gesammelt werden, künftig berücksichtigt werden sollten
und wie dabei vorzugehen wäre. Fragen stellen sich
hier vor allem hinsichtlich der Einzelobjekte und
der Herstellung ihres Zusammenhangs zueinander,
außerdem zu den Möglichkeiten der Erhaltung der
Funktionalitäten des Datenbanksystems. Ebenso
wie Datenbanken stellen auch die Apps Funktionalitäten, beispielsweise Werkzeuge, zur Nutzung bestimmter Inhalte dar. Schnell wurde hier deutlich,
dass grundsätzlich darüber diskutiert werden muss,
ob und wie es möglich ist, bestimmte Umgebungen oder »Geräte« vorzuhalten, um ähnlich wie bei
den Datenbanken den Nutzungszusammenhang zu
erhalten. In diesen Kontext gehören beispielsweise auch kuratierte Playlists von Musikplattformen
und Streamingdiensten.
Webharvesting
Breiten Raum nahm in der Diskussion das Thema Webharvesting ein. Während die systematische
Sammlung von Webinhalten insbesondere in den
Reihen der Archivvertreter nicht durchgängig als
notwendig angesehen wurde, gibt es auch Archive,
die sich bei regionalen, thematischen oder anderen
Berührungspunkten der Websites zu ihrer sonstigen
Sammlung engagieren, so dass sich durchaus Überschneidungen mit dem Sammelauftrag der DNB
ergeben. Das Landesarchiv Baden-Württemberg
beispielsweise betrachtet Websites der baden-württembergischen Landesbehörden als integralen Bestandteil der Behördenüberlieferung und sieht sich
daher ebenso für deren Sammlung und Archivierung als zuständig an, wie die Deutsche Nationalbibliothek. Hier gäbe es Anknüpfungspunkte für
kooperative Sammlungsstrategien.
Gerade mit Blick auf die Selektion von Webinhalten stellt sich auch die Frage, ob die bisheri-
58
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
ge Rollenverteilung von Archiven (Text-, Musik-,
Film-Archiv), Bibliotheken und Museen auf das
WWW übertragbar ist. Bei dem Workshop wurde
die grundlegend unterschiedliche Herangehensweise der Kultursparten an den institutionellen
Auftrag deutlich. Während Pflichtexemplarbibliotheken die Sammlung von Webinhalten als Teil
ihres gesetzlichen Auftrags betrachten und sie hier
beispielsweise im Hinblick auf das Urheberrecht gegenüber anderen, kleinen und teilweise privaten, Institutionen privilegierte Rechte zur Sammlung von
Netzpublikationen genießen, wiesen Vertreter der
Archive und Museen darauf hin, dass sie Websites
nur dann in ihre Arbeit einbeziehen, wenn diese im
Kontext zu anderem Material stehen, das für den
Aufbau einer definierten Sammlung oder einer musealen Präsentation herangezogen wird. Sie sahen
die Zuständigkeit für das systematische Sammeln
von Websites daher generell bei der Deutschen Nationalbibliothek und den regionalen Pflichtbibliotheken.
Bei der Bewertung der Relevanz der Sammlungsobjekte wurde auch deutlich, dass der Publikationsbegriff für den Bereich des Digitalen genau und
möglicherweise neu definiert werden muss: was ist
eine Publikation, was bedeutet Veröffentlichung?
Ist eine allgemeine Zugänglichmachung im Internet automatisch eine Veröffentlichung im Sinne
des Gesetzes der Deutschen Nationalbibliothek?
Einigen Anwesenden aus dem Museums- beziehungsweise Archivbereich erschien der DNB-Publikationsbegriff zu umfassend. Sie sehen in einem
Digitalisat keine eigenständige Publikation, sondern nur eine andere Präsentationsart des Werks.
Sammelkriterien
Einig hingegen waren sich die Anwesenden, dass
bei der Sammlung von digitalem Kulturgut keine
Vollständigkeit erreicht werden könne, sondern
dass für die Überlieferung des digitalen Kulturguts
stattdessen möglichst objektive Selektionskriterien
gefunden werden müssten. Dabei wurde auch die
Ansicht vertreten, dass die aktuell von der DNB
angewendeten Formalkriterien für gedrucktes Material, die für eine wertungsfreie Selektion stehen
sollen, letztlich aus Inhaltskriterien abgeleitet sei-
Zeitpunkte
en. Dahinter stehe die inhaltliche Wertung, dass
»kleine« Sachen, beispielsweise Publikationen, die
nur aus wenigen Seiten bestehen, wertlos seien. Die
DNB solle deshalb nicht beschreiben, was nicht
gesammelt werden soll, sondern stattdessen aktiv
festlegen und beschreiben, was sie sammeln möchte. Dabei sei wichtig, dass sie dokumentiert, welche
Publikationen sie – sowohl thematisch als auch historisch gesehen – unbedingt sammeln muss und
was sie zusätzlich sammeln möchte. Dabei sei es
wichtiger, einen repräsentativen Überblick über das
vorhandene Material zu erhalten als eine Vollständigkeit anzustreben, die ohnehin nicht erreichbar
sei.
Verschiedene Möglichkeiten diese Repräsentativität
zu erreichen, wurden andiskutiert: zum Beispiel Zufallsverfahren nach mathematischen Grundsätzen,
die mit einer hohen Frequenz angewendet werden
könnten. Ein solches Zufallsprinzip schien einigen
nicht ausreichend, vielmehr sei zusätzlich eine intellektuelle Auswahl nach bestimmten Kriterien notwendig. Auch über einen Dienst zum Archivieren
»auf Zuruf« (Archivierung on demand) und über
die Möglichkeit einer »Notfall«-Archivierung, zum
Beispiel, für den Fall, dass Inhalte vom Verschwinden aus dem Web bedroht sind, wurde diskutiert.
Angesichts der Kosten für Magazinspeicherplatz
und die Speichersysteme zur Langzeitarchivierung
drängte sich die Frage auf, ob durch die digitale
Sammlung künftig auch Konsequenzen für die
analoge Sammlungslandschaft zu erwarten seien.
Hier bestand Einigkeit, dass physische und digitale
Publikationen vorerst weiterhin parallel gesammelt
werden müssen. Prinzipiell wurde befürwortet, in
jedem Fall das Medium dauerhaft aufzuheben, das
besser langzeitarchiviert werden könne.
Zukünftig zu erwartende Entwicklungen werden
auch die Frage nach Original und Kopie neu aufwerfen. Es ist davon auszugehen, dass sich die Begrifflichkeiten mit der Zeit wandeln werden. Im
Bereich Musik oder auch bei vielen elektronischen
Zeitschriften ist schon heute schwierig zu sagen,
was genau das Original ist.
Als ein Ergebnis des Workshops treffen sich im
August Vertreterinnen und Vertreter der regionalen
Pflichtexemplarbibliotheken, um weiter zu diskutieren. Zu den wichtigsten Themen gehören ein
gemeinsames Verständnis der Definition »Digitale
Publikation« und die Überlegung, wie in Deutschland eine verteilte digitale Sammlung aufgebaut
werden könnte.
Sobald sich die Pflichtexemplarbibliotheken über
ihre Haltung zu den aufgeworfenen Fragestellungen
ausgetauscht und gegebenenfalls in bestimmten Bereichen geeinigt haben, werden die Archive und
Museen wieder in die Diskussion einbezogen – um
Schritt für Schritt die »digitale Sammlungslandschaft« zu gestalten.
Anmerkungen
1 Kett, Jürgen: Dynamisches Bewahren!? – Ein Veranstaltungsrückblick. In: Dialog mit Bibliotheken, 26. 2014,1. – S. 72 – 73,
<http://d-nb.info/1058935836/34>
Horn, Christian: Musik im Netz. In: Dialog mit Bibliotheken, 27. 2015,1. – S. 52 – 54, <http://d-nb.info/1077225350/34>
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
59
Zeitpunkte
Annett Koschnick
Das Leipziger Bibliotheksgebäude
wird 100
Das Gebäude am Deutschen Platz feiert seinen
Hundertsten: Am 2. September 1916 wurde der
Gründungsbau der damaligen »Deutschen Bücherei des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler
zu Leipzig«, die heutige Deutsche Nationalbibliothek, feierlich eingeweiht. Seit den 1990er-Jahren
umfassend baulich saniert, erfüllt der Bau mit seinen Erweiterungen die Anforderungen an ein funktionales Bibliotheksgebäude der Gegenwart.
Ein Rückblick: Finanziert wurden Bau und Ausstattung vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler, dem Königreich Sachsen und von der Stadt
Leipzig. Stiftungen aus institutionellen und privaten Mitteln ergänzten die Gelder und ermöglichten
die Ausführung von künstlerischem Schmuck. Dabei war zunächst geplant, das Gebäude an einem
anderen Ort in Leipzig zu errichten. Aber der ursprüngliche Bauplatz an der Siegismundstraße war
nicht repräsentativ genug; so stellte die Stadt Leipzig das heutige Grundstück am Deutschen Platz
zur Verfügung, der nach der »Deutschen Bücherei«
benannt wurde und ausreichend Platz für die geplanten zukünftigen Erweiterungen bietet. Schon
damals ging man davon aus, dass das Gebäude alle
20 Jahre einer baulichen Vergrößerung bedarf.
Bis zur Fertigstellung des Bibliotheksgebäudes waren die Bestände, die mit dem Beginn der Sammlung ab Januar 1913 eingingen, im Buchgewerbehaus am Gerichtsweg gelagert worden.
Mit dem ersten Erweiterungsbau, der von 1934
bis 1936 als Südostflügel errichtet wurde, und
dem zweiten Erweiterungsbau, der von 1959 bis
1963 an der Nordwestseite entstand, folgte man
den Planungen des Architekten Oskar Pusch und
des Baurats Karl Julius Baer, die das Gebäude in
nur zweieinhalb Jahren von 1914 bis 1916 errichten ließen. Bereits der dritte Erweiterungsbau, der
von 1976 bis 1982 als reiner Magazinbau errichtet
wurde, wich vom ursprünglichen Plan ab. Der vier-
60
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
»Gesamtansicht der Deutschen Bücherei aus der Vogelschau (nach etwa
200 Jahren)«. In: Denkschrift zur Einweihung der Deutschen Bücherei des
Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, Leipzig, 1916.
Bild: Hausarchiv der Deutschen Nationalbibliothek
te und jüngste Erweiterungsbau, der 2011 eröffnet
wurde, dockt am Westgiebel an den Gründungsbau am Deutschen Platz an und fügt das Gebäudeensemble zusammen, indem er den Bücherturm
einbezieht.
Wie geht es in Leipzig weiter? Die Magazinkapazitäten des vierten Erweiterungsbaus, der auch die
Ausstellungen des Deutschen Buch- und Schriftmuseums und den Museumslesesaal beherbergt,
werden voraussichtlich im Jahr 2025 ausgeschöpft
sein. Somit wird es Zeit, die fünfte Erweiterung
des Leipziger Gebäudes in Angriff zu nehmen. Die
Bedarfsbeschreibung für einen Magazinbau mit
optimalen Bedingungen für die Lagerung der Medienwerke – Bücher, Zeitschriften, Tonträger, Datenträger – ist in Arbeit.
Zeitpunkte
Julia Rinck
Leibnix –
Das Universalgenie im Mosaik
Eine Ausstellung im Deutschen
Buch- und Schriftmuseum der
Deutschen Nationalbibliothek
Gottfried Wilhelm Leibniz wurde am 1. Juli 1646
in Leipzig geboren. Sein Vater Friedrich Leibnütz
(1597 – 1652), Jurist und Professor für Moralphilosophie an der Universität zu Leipzig, förderte früh
die Lesefähigkeit des begabten Jungen; er verstarb,
als sein Sohn sechs Jahre alt war. Ab 1653 besuchte
Gottfried Wilhelm die Nikolaischule, als Achtjähriger brachte er sich mithilfe der Bibliothek seines
Vaters autodidaktisch die lateinische Sprache bei.
Mit dem Schulbeginn wurde Leibniz auch an der
Universität seiner Heimatstadt immatrikuliert – ein
Privileg als Professorensohn; seine Promotion als
Zwanzigjähriger wurde ihm jedoch aufgrund seines jungen Alters von den Leipziger Professoren
verweigert, so dass er schließlich 1666 an der Universität Altdorf in Nürnberg zum Doktor beider
Rechte promovierte. Im Laufe seines Lebens unternahm Leibniz Reisen durch ganz Europa und
war in verschiedenen Städten, so unter anderem in
Paris, London, Wien, Berlin, Hannover und Wolfenbüttel, tätig. Er verstarb am 14. November 1716
in Hannover.
Im Leibniz-Jahr 2016 finden anlässlich des 370. Geburtstages und 300. Todestages weltweit zahlreiche
Ausstellungen, Konferenzen und Veranstaltungen
zu Ehren des großen Gelehrten statt. In seinem Geburtsort Leipzig widmete sich die »Lange Nacht der
Wissenschaften« am 24. Juni mit speziellen Leibniz-Themenwelten verschiedenen Aspekten seines
Wirkens. So hielt Dr. Florian Betz in der Deutschen
Nationalbibliothek einen Vortrag zum Thema »Bibliothekar – Der Brotberuf des Universalgenies
Gottfried Wilhelm Leibniz«, der einen detaillierten
Einblick in Leibniz’ Tätigkeit in verschiedenen Bibliotheken gab. Leibniz verzeichnete die »Bibliotheca Boineburgica«, die Privatbibliothek Johann
Christian von Boineburgs nach dem Prinzip eines
Schlagwortkatalogs, den er als einer der Ersten realisierte. Er war als Rat und Bibliothekar ab 1676
für die fürstliche Bibliothek im Residenzschloss
Hannover im Dienste Herzogs Johann Friedrich
verantwortlich und 1691 – 1716 in Wolfenbüttel unter den Herzögen Rudolf August (1666 – 1704) und
Anton Ulrich (1685 – 1714) sowie Herzog August
Wilhelm (1714 – 1731) tätig. Ebenfalls zur Leipziger
Langen Nacht führte ein moderierter TalkWalk1
von authentischen Orten in Leibniz’ Leben hin zu
Stationen, die in einem thematischen Kontext zu
seinen Tätigkeitsfeldern stehen: vom Roten Kolleg,
seinem Geburtshaus, über das Leibnizdenkmal im
Uni-Innenhof bis zur Deutschen Nationalbibliothek als Wissensspeicher der Gegenwart.
Leibniz zeigt Brabax seine Rechenmaschine.
Abenteuer Wissenschaft – Die Abrafaxe unterwegs mit
Gottfried Wilhelm Leibniz. Berlin: MOSAIK, 2016. S. 157.
Bild: MOSAIK – Die Abrafaxe 2016
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
61
Zeitpunkte
62
Der Polyhistor Leibniz gilt als letzter Universalgelehrter der Neuzeit und Vordenker der Aufklärung.
Er war Philosoph, Historiker und Mathematiker,
wirkte als Jurist, Diplomat und politischer Berater. Er gründete Akademien der Wissenschaften in
Berlin, Wien und Sankt Petersburg. Vertraut mit
allen Wissenschaftsbereichen seiner Zeit verband
er gemäß seinem Motto »theoria cum praxi« theoretische Forschung mit praktischer Anwendung.
Er konstruierte eine mechanische Rechenmaschine, entwarf Pläne für ein Unterseeboot und
beschäftigte sich lange mit der Verbesserung der
Grubenentwässerung im Harz-Bergbau. Die von
ihm – unabhängig von Isaac Newton – entwickelte
Integral- und Differentialrechnung mit dem Hauptsatz der Infinitesimalrechnung ist eine der Grundlagen der neuzeitlichen Mathematik, sein binäres
Zahlsystem Basis moderner Computertechnologie.
Leibniz stand in Kontakt zu unzähligen Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft in Europa.
Sein Briefwechsel, Bestandteil seines in Hannover
aufbewahrten Nachlasses, umfasst rund 15.000
Briefe mit annähernd 1.100 Korrespondenten an
160 verschiedenen Orten in 16 Ländern. Er wurde
2007 als Teil des kulturellen Gedächtnisses in das
UNESCO-Weltdokumentenerbe aufgenommen.
Doch die Ideen von Leibniz sind nicht nur durch
seine Korrespondenz oder seine wissenschaftlichen
und philosophischen Schriften bis heute tradiert;
eine unkonventionelle Form der Auseinandersetzung mit seiner Person und seinem Denken sind
zahlreiche zeitgenössische Cartoons und Comics.
Die Bildgeschichten befassen sich – oft in englischer Sprache – spielerisch mit Leibniz’ Werk und
Wirken, häufig speziell mit dem Prioritätsstreit
zwischen Leibniz und Newton um den Vorrang
der Entwicklung der Integral- und Differenzialrechnung. In Deutschland wurde Leibniz zwischen 2007
und 2011 zur Hauptfigur einer Serie des bekannten
Comic-Magazins »Mosaik«. Die 1955 gegründete
Zeitschrift ist das älteste deutsche Comicmagazin,
das seit 1957 monatlich erscheint. Als Nachfolger
der »Digedags« begannen 1974 die Abenteuer der
Abrafaxe – Abrax, Brabax und Califax. Die drei
pfiffigen koboldartigen Wesen reisen voll Aben-
Leibniz-Figur im Mosaik
Bild: MOSAIK – Die Abrafaxe 2016
Leibniz und Newton
Bild: MOSAIK – Die Abrafaxe 2016
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Zeitpunkte
Leibniz und die Abrafaxe. Titelblatt zu: Abenteuer Wissenschaft – Die Abrafaxe unterwegs mit Gottfried Wilhelm Leibniz. Berlin: MOSAIK, 2016
Bild: MOSAIK – Die Abrafaxe 2016
teuerlust und umgeben von einem »Hauch Abrakadabra« durch die Zeiten und alle Regionen der
Welt2. Die besondere Anziehungskraft der Reihe
gründet sich sowohl auf den eigenwilligen Charakteren der Helden, den draufgängerischen Abrax,
den klugen und erfinderischen Brabax und den gewitzten, eher gemütlichen Califax, als auch auf die
Vielfalt der liebevoll und detailreich ausgestalteten
Szenerien. 2009 beginnt die Serie »Gold und große
Geister«: Hier trifft das Universalgenie Gottfried
Wilhelm Leibniz in den 24 Heften Nummer 406 bis
429 auf die drei »größten Abenteurer aller Zeiten«
(Mosaik), und sie erleben auf ihrer Reise durch das
barocke Europa zahlreiche Abenteuer. So begegnet
Leibniz mit Brabax als Privatsekretär Zar Peter dem
Großen von Russland, der in den Niederlanden als
Zimmermann in die Lehre geht, sie haben in Paris
eine Audienz bei Ludwig XIV. und konstruieren
eine Fontäne im Garten von Schloss Herrenhausen
im Auftrag von Herzog Ernst August von Braunschweig-Calenberg und dessen Frau Sophie von der
Pfalz, Prinzessin von England und Schottland. In
London treffen sie auf den britischen Architekten
und Astronom Christopher Wren und den Universalgelehrten Robert Hooke, Leibniz versucht seinen
Streit mit Isaac Newton beizulegen – und scheitert.
Die Ausstellung »Leibnix – das Universalgenie im
Mosaik« gibt einen Einblick in die Leibnizsche Lebenswelt des ausgehenden Barockzeitalters, die von
den Mosaik-Zeichnern mit Wort- und Bildwitz gestaltet wurden, und zeigt zugleich die Entstehung
der Comic-Geschichten von der Anlage der Figuren
über die zeichnerische Umsetzung bis zum fertigen
Heft – illustriert durch zahlreiche Entwürfe und
Originalzeichnungen aus dem Verlagsarchiv.
Die Kabinettausstellung im Tresor des Deutschen
Buch- und Schriftmuseums findet in Kooperation
mit dem Wilhelm Busch Museum für Karikatur in
Hannover statt, kuratiert von Dr. Georg Ruppelt,
dem ehemaligen Direktor der Gottfried Wilhelm
Leibniz Bibliothek Hannover. Begleitend zur Ausstellung erschien der Sonderband »Abenteuer Wissenschaft – Die Abrafaxe unterwegs mit Gottfried
Wilhelm Leibniz« mit den Mosaik-Bildgeschichten
und einem Essay des Leibniz-Kenners Georg Ruppelt.
Die Kabinettausstellung wird am 13. November 2016,
11 Uhr eröffnet und ist bis zum 2. April 2017 im
Deutschen Buch- und Schriftmuseum zu sehen.
Anmerkungen
1 <http://www.talk-walks.de>
2 <http://www.abrafaxe.com>
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
63
Zeitpunkte
Jesko Bender
Was ist eigentlich Heimat?
Comicworkshop am 23. Mai 2016
im Deutschen Exilarchiv
1933 – 1945 im Rahmen der
Initiative »Kultur öffnet Welten«
Wenn heute von Heimat gesprochen wird – zumal in politisch mitunter aufgeheizten Debatten –,
klingt das häufig nach zugeschlagenen Türen, nach
etwas, das gegen das »Fremde« abgegrenzt werden
und sich nicht verändern soll.
Aber was ist das überhaupt, Heimat? Kann man es
benennen, beschreiben oder gar definieren? Welche
Bilder und welche Geschichten kommen einem in
den Sinn, wenn man Heimat beschreiben will? Und
in welchem Zusammenhang stehen diese Bilder
und Geschichten zu Vorstellungen von Fremde?
Diesen komplexen Fragen stellten sich die Schülerinnen und Schüler einer 10. Klasse der Frankfurter Ernst-Reuter-Schule II während des ganztägigen
Workshops »Heimat – Bilder – Geschichten« am
23. Mai 2016 in der Deutschen Nationalbibliothek
(DNB) in Frankfurt am Main. Der Workshop wurde vom Deutschen Exilarchiv 1933 – 1945 der Deutschen Nationalbibliothek veranstaltet und fand im
Rahmen der bundesweiten Projektwoche der Initiative »Kultur öffnet Welten« statt.
Geleitet wurde der Workshop von der US-amerikanischen Comiczeichnerin Ali Fitzgerald, die seit
einigen Jahren in Berlin lebt und dort unter anderem Comicworkshops für Flüchtlinge veranstaltet.
Gemeinsam mit ihrer Kollegin Courtney O’Connell nahm sie die oben formulierten Fragen zum
Ausgangspunkt, um mit den Schülerinnen und
Schülern zeichnerisch auf die Suche nach der »Heimat« zu gehen.
Aber warum soll ausgerechnet über das Medium
Comic eine besondere Auseinandersetzung mit
Vorstellungen von Heimat möglich sein? Heimat,
so lautete die Ausgangsüberlegung für den Workshop, lässt sich als ein Zusammenspiel von (Vorstellungs-)Bildern und Geschichten begreifen, die ein
Gefühl von Vertrautheit erzeugen. Heimat ist also
nichts von Natur aus Gegebenes, etwas, das einfach
64
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Ali Fitzgerald (links, stehend) und Courtney O’Connell (rechts, stehend) erläutern
den Schülerinnen und Schülern die Zeichenstile verschiedener historischer Comics.
Foto: Deutsche Nationalbibliothek, Stephan Jockel
da ist, sondern etwas Gemachtes, Veränderliches –
also Kultur. Der Comicworkshop ermöglichte es
den Schülerinnen und Schülern, sich ganz konkret
mit dieser kulturellen Ebene von Heimat-Bildern
und Heimat-Geschichten zu befassen.
Dass eine Reflexion der Vorstellung von Heimat
gar nicht an den »großen« Kategorien ansetzen
muss, sondern sich an sogar kleinsten Begebenheiten entwickeln kann, zeigte sich gleich in der ersten
Phase des Workshops. Frau Fitzgerald begab sich
mit den Schülerinnen und Schülern auf eine Mikroebene: Nachdem sie ein Brainstorming zu ihren
Vorstellungen von Heimat und Fremde gemacht
hatten, bat Frau Fitzgerald die Schülerinnen und
Schüler, einzelne, voneinander unabhängige Bilder
zu zeichnen, beispielsweise eine Begebenheit vom
morgendlichen Schulweg; etwas sehr Nettes, das
ihnen jemand gesagt hat; ein besonders schlimmes
Ereignis. Im Anschluss daran verbanden die Schülerinnen und Schüler diese Einzelbilder zu kleinen
narrativen Sequenzen, indem sie sie nebeneinander
legten.
Vier, fünf aneinander gereihte Bilder erzählen so
plötzlich eine »Heimat-Geschichte«: Vom Bus, den
man auf dem Weg zur Schule verpasst, von den
Supermärkten, an denen man jeden Morgen vor-
Zeitpunkte
Die Schülerin Miriam zeichnet eine Bilderfolge für die Abschlusspräsentation.
Foto: Deutsche Nationalbibliothek, Stephan Jockel
beifährt, über das Kompliment einer Freundin auf
dem Schulhof, bis hin zur Berichterstattung über
Krieg und Terror, die nachmittags zu Hause im
Fernseher läuft. Spannend an diesen Geschichten
ist, dass die aufgeladenen Debatten um Flüchtlinge,
Fremde, Integration und Leitkultur in ihnen keine
Rolle spielen.
Im weiteren Verlauf des Workshops wurden – in
Ergänzung zu den eben beschriebenen Mikrogeschichten – auch immer wieder die Berührungspunkte von Heimat und größeren historischen
Zusammenhängen besprochen. Die vom Deutschen Exilarchiv 1933 – 1945 verantwortete virtuelle Ausstellung »Künste im Exil«1 lieferte dafür
anschauliche Beispiele. Anhand eines Blicks auf
die Biografien und Werke von Künstlerinnen und
Künstlern, die vor dem nationalsozialistischen Regime aus Deutschland geflohen sind, konnten die
Schülerinnen und Schüler einen Eindruck davon
bekommen, wie sich die Erfahrung des Exils auf
das künstlerische Schaffen und auf die Vorstellungen von Heimat auswirkt.
Auf den Fotografen Hans Günter Flieg kam der
Workshop gleich zweimal zu sprechen. Erstens
durch einen Ausschnitt des Negativstreifens, der
sich während der Flucht in Fliegs Kamera befand:
Dieser Negativstreifen zeigt das letzte Bild Fliegs
in seiner Heimatstadt Chemnitz und, direkt darauf
folgend und nur durch einen schmalen schwarzen
Streifen getrennt, das erste Bild nach seiner Ankunft im brasilianischen São Paulo.2 Hinter dem
schwarzen Streifen liegt die Geschichte der Emigration von Deutschland nach Brasilien verborgen,
tausende Kilometer, zusammengeschrumpft auf einen schmalen Strich. Er erzählt vom Abschied aus
der vertrauten Umgebung, dem letzten Blick aus
dem Fenster der Familienwohnung auf dem Chemnitzer Kaßberg, er verweist schließlich aber auch
auf die Ankunft im Exil, wo der Blick des Fotografen als erstes auf eine mit Orchideen gefüllte Blumenvase fällt. Der Negativstreifen Fliegs illustrierte
auch als historisches Dokument die Verbindung
von Einzelbildern zu einer (narrativen) Sequenz,
die die Schülerinnen und Schüler als ein zentrales
Merkmal von Comics kennengelernt haben.
In einem Interview, das Hans Günter Flieg im Jahr
2013 für »Künste im Exil« gab und das der zweite
Anknüpfungspunkt im Workshop war, erläuterte er
seine Haltung zur Vorstellung von Heimat: »Vielleicht sollte man das Wort Heimat ausschalten und
einfach davon sprechen, wie dicht man an den Sachen dran ist. Es lässt sich durch nichts, durch keinen Hitler, durch keinen Marx und kein gar Nichts
auslöschen die Tatsache, wo man geboren ist, wo
die ersten Eindrücke herkommen, die ersten Menschen, die man kennengelernt hat, die Umgebung,
die man gehabt hat. Im positiven und negativen
Sinne. Und Positiv und Negativ finden sie überall
auf der Erde.«3
Fliegs kritischer Blick auf den Begriff Heimat wurde während des Workshops auch auf die gegenwärtigen Debatten um Flucht- und Migrationsbewegungen bezogen: Denn er impliziert, dass es vor
allen Dingen die ersten Eindrücke, die Erinnerungen sind, die man an einen neuen Ort mitnimmt.
Eine demokratische, offene Gesellschaft sollte
daher Formen der kulturellen Teilhabe etablieren,
die es geflüchteten Menschen ermöglichen, ihre
Vorstellungen von Heimat in die kulturellen Aushandlungsprozesse ihres neuen Lebensortes einzubringen. Eine solche Kultur der Teilhabe öffnet
Welten.
Anmerkungen
1 <www.kuenste-im-exil.de>
2 Das Bild ist abrufbar unter: <www.kuenste-im-exil.de/fluchtweg>
3 Das Interview ist abrufbar unter: <www.kuenste-im-exil.de/flieg-interview>
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
65
Zeitpunkte
Veranstaltungsvorschau
bis 26. März 2017
Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
Eintritt in die Ausstellung frei
19. Oktober 2016, 19.30 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt am Main
Eintritt: 10 Euro/ermäßigt 8 Euro
Kartenbestellung unter: [email protected] oder
Telefon 069 1525-1101
20. Oktober 2016, 14 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
Eintritt frei
Nächster Termin: 10. November 2016, 14 Uhr
(Thema: Martinslaternen)
21. Oktober 2016, 19.30 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt am Main
Eintritt frei
Anmeldung: [email protected] oder
Telefon 0611 324020
22. Oktober 2016, 15 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
Eintritt frei
Nächster Termin: 26. November 2016, 15 Uhr
(Thema: Adventliches Origami)
27. Oktober 2016, 19 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
Eintritt frei
2. November 2016, 19 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
Eintritt frei
Anmeldung: [email protected] oder
Telefon 0341 2271-286
13. November 2016 bis 2. April 2017
Eröffnung: 13. November 2016, 11 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
Eintritt in die Ausstellung frei
66
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Präsentation:
»Verlage im ›Dritten Reich‹«
Präsentation des Deutschen Buch- und Schriftmuseums der Deutschen Nationalbibliothek
Buchpräsentation:
»m4 Mountains, die vierte Dimension«
Buchpräsentation mit den Autoren Stefan Dech,
Nils Sparwasser und Reinhold Messner
In Kooperation mit dem Piper Verlag
Kreativwerkstatt:
»Paperballs«
Mitmachaktion für Familien im Deutschen
Buch- und Schriftmuseum
Lesung und Gespräch:
Christoph Scheuermann im Gespräch mit
Wolfgang Niess (SWR) zum Thema »Die Briten,
der Brexit und wir«
In Kooperation mit der Deutschen Verlags-Anstalt,
der Deutsch-Britischen Gesellschaft Rhein Main e. V.
und der Hessischen Landeszentrale für politische
Bildung
Do it yourself:
»Schablonieren«
Kreatives für Jung und Alt im Deutschen Buch- und
Schriftmuseum
Lesung und Gespräch:
Nicol Ljubić – Chamisso-Preisträger
»Grenzen Nieder Schreiben«
Moderation: Dr. Katrin Schumacher, MDR
Eine Veranstaltung des 20. Leipziger Literarischen
Herbst in Kooperation mit der Deutschen Nationalbibliothek, mit freundlicher Unterstützung der
Robert Bosch Stiftung
Präsentation des Hörbuchfeatures:
Jochanan Shelliem »Im Namen des Volkes«.
Hinter den Kulissen des Nürnberger Prozesses
Eine Veranstaltung des Deutschen Exilarchivs
1933 – 1945 / Anne-Frank-Shoah-Bibliothek
der Deutschen Nationalbibliothek
Ausstellung:
»LEIBNIX – das Universalgenie im Mosaik«
Kabinettausstellung im Tresor des Deutschen
Buch- und Schriftmuseums der Deutschen
Nationalbibliothek
Zeitpunkte
16. November 2016, 18 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
Eintritt: 5 Euro/ermäßigt 4 Euro
Kartenbestellung unter: [email protected] sowie Abendkasse
18. November 2016, 9, 10, 11 und 14 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
Eintritt frei
19. November 2016, 19 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
Eintritt frei
Wir bitten um Anmeldung unter: www.notenspur-leipzig.de/hausmusik
25. November 2016, 19.30 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt am Main
Eintritt frei
Wir bitten um Anmeldung unter: [email protected] oder
Telefon 069 1525-1905
29. November 2016, 10 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
Eintritt frei
6. bis 20. Dezember 2016
Eröffnung: 6. Dezember 2016, 19 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt am Main
Eintritt in die Ausstellung frei
Wir bitten um Anmeldung unter: [email protected] oder
Telefon 069 1525-1905
9. Dezember 2016 bis 23. Juli 2017
Eröffnung: 8. Dezember 2016, 19.30 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
Eintritt in die Ausstellung frei
Szenische Lesung:
»Kleine Schule der Beweisführung«
Adaption des Bühnenstücks zum Leibniz-Jahr
Eine Koproduktion von Julian Rauter mit LOFFT –
Das Theater, gefördert von der Stadt Leipzig,
Kulturamt. Veranstaltung in Kooperation mit der
Deutschen Nationalbibliothek
13. Bundesweiter Vorlesetag:
Lassen Sie sich während unseres Geschichtenmarathons im Deutschen Buch- und Schriftmuseum
von unserer Vorleselust begeistern und anstecken.
2. Notenspur-Nacht der Hausmusik – Musik zu
Hause in Leipzig:
Jazziger Hausmusikabend mit Jam-Session im Deutschen Musikarchiv der Deutschen Nationalbibliothek
In Kooperation mit dem Notenspur-Förderverein e. V.
Podiumsgespräch:
Gedächtnis verbindet. Ein Podiumsgespräch über
kulturelle Teilhabe und kulturelles Gedächtnis in der
Einwanderungsgesellschaft.
Podiumsgäste u. a. Micha Brumlik und Özlem Topçu,
Moderation: Michel Friedman
Eine Veranstaltung des Deutschen Exilarchivs
1933 – 1945 der Deutschen Nationalbibliothek
Mit freundlicher Unterstützung der Gesellschaft
für das Buch e. V.
60PLUS:
Sternefalten zum Advent
Gestalten für Senioren im Deutschen Buch- und
Schriftmuseum
Ausstellung:
»DEUTSCH UND JÜDISCH«
Das Deutsche Exilarchiv 1933 – 1945 der Deutschen
Nationalbibliothek präsentiert eine Wanderausstellung
des Leo Baeck Instituts New York|Berlin
Ausstellung:
»Sensation – Propaganda – Widerstand.
500 Jahre Flugblatt: von Luther bis heute«
Wechselausstellung des Deutschen Buch- und Schriftmuseums der Deutschen Nationalbibliothek
16. bis 18. Januar 2017
Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt am Main
Symposium:
Wissenschaftliches Symposium zu Werk und Wirkung
Ludwig Meidners
Eine Kooperation des Jüdischen Museums Frankfurt
a. M. und des Deutschen Exilarchivs 1933 – 1945 der
Deutschen Nationalbibliothek
13. Februar 2017, 19.30 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt am Main
Buchpräsentation und Gespräch:
Jakob Augstein und Nikolaus Blome »Links oder
rechts«. Antworten auf die Fragen der Deutschen
In Kooperation mit dem Penguin Verlag und der
Hessischen Landeszentrale für politische Bildung
Eintritt frei
Wir bitten um Anmeldung unter: [email protected] oder
Telefon 0611 324020
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
67
Zeitpunkte
28. Februar 2017, 19 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt am Main
Eintritt frei
Wir bitten um Anmeldung unter: [email protected] oder
Telefon 069 1525-1905
Lesung:
Kristine von Soden »Und draußen weht ein
frischer Wind«. Über die Meere ins Exil
Eine Veranstaltung des Deutschen Exilarchivs
1933 – 1945 der Deutschen Nationalbibliothek
Führungen
16. Oktober 2016
Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
Weitere Termine für die Bibliotheksführung (Eintritt 2 Euro) und den
Familiensonntag: An jedem dritten Sonntag im Monat um 11 Uhr
18. Oktober 2016, 15 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
Eintritt: 6 Euro/ermäßigt 3 Euro
Nächster Termin: 10. November, 11 Uhr
28. Oktober 2016, 19 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
Eintritt: 6 Euro/ermäßigt 3 Euro
Nächster Termin: 9. November, 19 Uhr
2. November 2016, 15 Uhr
Deutsche Nationalbibliothek Frankfurt am Main
Eintritt: 8 Euro/ermäßigt 6 Euro
Nächster Termin: 7. Dezember 2016, 18 Uhr
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Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Sonntagsführung:
11 Uhr Führung durch die Deutsche Nationalbibliothek
Familiensonntag:
11 Uhr Aktion für Kinder und Jugendliche
im Deutschen Buch- und Schriftmuseum
Führung:
»Depotgeflüster – von Maschinen, Schreibfedern
und Stampftrögen«. Führung durch das Magazin
der Kulturhistorischen Sammlung des Deutschen
Buch- und Schriftmuseums
Führung:
Abendführung durch die Dauerausstellung des
Deutschen Buch- und Schriftmuseums »Zeichen –
Bücher – Netze: Von der Keilschrift zum Binärcode«
Führung:
Das Gedächtnis der Nation – die Deutsche
Nationalbibliothek
In Kooperation mit der Kulturothek Frankfurt
www.kulturothek-frankfurt.de
Zeitpunkte
Barbara Fischer
Nachgelesen –
Ein Veranstaltungsrückblick
Lumpen und Wasserzeichen
Woodstock der Literatur
»Es kann im wahrsten Sinne aus dem Vollen schöpfen: In seiner neuen Sonderschau widmet sich das
Deutsche Buch- und Schriftmuseum der weißen
Kunst der Papiermacher, ohne die die schwarze der
Buchdrucker wohl nicht existieren könnte. Unter
dem Titel ›Bahnriss?! Papier | Kultur‹ bekommt
der Besucher eine Ahnung davon, was für Schätze
dieser ›weißen Magie‹ in den Sammlungen schlummern«, schwärmt die Leipziger Volkszeitung. »Die
Ausstellung zeigt, dass die digitale Welt nicht ohne
Papier auskommen wird. In welchen Formen und
in welcher Haptik, das bleibt abzuwarten. Ein Blick
zurück und pointiert in die Gegenwart lohnt daher
auf jeden Fall«, urteilt der kreuzer. »In ›Bahnriss‹
habe ich Papier gesehen, gehört und gefühlt. … Die
Ausstellung wirft einen Blick zwischen die Zeilen:
auf das pure Papier«, so wird auf schraeglesen.de
das eindrückliche Besuchserlebnis geschildert und
der Sachsen Sonntag sagt es kurz und bündig:
»Eine großartige Ausstellung«.
»›Leipzig liest‹ begann in Umbruchzeiten eher bescheiden – und ist heute das Markenzeichen der
Buchmesse. In diesem Jahr feiert Europas größtes
Lesefest 25. Geburtstag«, erinnert das Börsenblatt.
Das Lesefestival hat viele attraktive Veranstaltungsorte zu bieten, doch für den kreuzer zählt die Nationalbibliothek zu den »schönsten Leseorten der
Buchmesse«. Und die Begründung ist umfassend:
»Deutscher Platz 1 – was für eine Adresse! Nicht
weniger imposant gibt sich das Gesamtensemble
der Deutschen Nationalbibliothek, Funktionsbauten sehen anders aus. Es ist nicht überraschend,
sondern geradezu selbstverständlich, dass sich der
Bücherhort auch als Leseort öffnet.« Das tat er –
selbstverständlich – auch im Jubiläumsjahr von
»Leipzig liest« und lud gleich zu sechs Veranstaltungen ein. So wurde etwa die »sensationelle Entdeckung aus dem Nachlass von Siegfried Lenz: ein
Roman über den Irrsinn des Krieges« im Rahmen
des Lesefestivals präsentiert, hebt die Sächsische
Zeitung Dresden hervor. Der Schauspieler Burghart Klaußner las vor vollem Haus aus dem bei
Hoffmann und Campe erschienenen Roman »Der
Überläufer«.
Eröffnungsabend der Ausstellung »Bahnriss?! Papier | Kultur«
im Deutschen Buch- und Schriftmuseum.
Foto: PUNCTUM, Alexander Schmidt
Burghart Klaußner signiert den von ihm gelesenen Roman »Der Überläufer«
von Siegfried Lenz.
Foto: PUNCTUM, Peter Franke
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
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Zeitpunkte
»Wie stellt man jemanden gebührend vor, der eigentlich längst keine Vorstellung mehr benötigt?«,
fragt die Leipziger Volkszeitung und berichtet weiter: »Vor dieser Herausforderung stand Stephanie
Jacobs, Leiterin des Deutschen Buch- und Schriftmuseums in Leipzig. Klaus G. Saur hat es zu einem
der wichtigsten Wissenschaftsverleger Deutschlands
gebracht und war wohl kaum jemandem im vollen Lesesaal des Museums am Deutschen Platz
unbekannt.« Sein Vortrag über »Verlage im ›Dritten Reich‹« eröffnete die gleichnamige Schau, die
noch bis Januar eine Auswahl von zeitgenössischen
Verlagspublikationen, unter anderem Tarnschriften
und NS-Literatur zeigt.
Auch der Lesesaal verwandelte sich bei »One Day in Life« in einen Konzertsaal:
Pierre-Laurent Aimard spielt Schubert-Sonaten.
Foto: Deutsche Nationalbibliothek, Stephan Jockel
Unbedingt nachlesen
»Die Jahre können Elisabeth Raabe kaum etwas
anhaben. In der stilvoll renovierten Deutschen
Nationalbibliothek in Leipzig erzählte sie genauso schwungvoll und fordernd aus ihrem Leben als
Verlegerin des legendären Arche Verlags, als wäre
seit dem Verkauf (2008 an Oetinger) kaum ein Tag
vergangen. Friedrich Dürrenmatt, Maarten t’Hart,
Zürich, Hamburg, die Literaturmüdigkeit und die
Filialisten: Raabe hatte alle Details parat«, resümiert
das Börsenblatt anerkennend und rät eindringlich:
»unbedingt nachlesen in: ›Eine Arche ist eine Arche
ist eine Arche‹, Edition Momente.«
Einer von 18 ungewöhnlichen Konzertorten bei »One Dayin Life«: das Magazin
der Deutschen Nationalbibliothek.
Foto: Deutsche Nationalbibliothek, Stephan Jockel
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Dialog mit Bibliotheken 2016/2
One Day in Life
»Er ist bekannt für seine expressiven Bauten, begeistert die Menschen rund um den Globus: In Frankfurt hat US-Stararchitekt Daniel Libeskind jetzt ein
24-Stunden-Konzertspektakel auf ungewöhnliche
Bühnen gebracht. Musik trifft auf den Atem der
Großstadt«, meldet die dpa. »Irre, fantastisch!«
nennt die Bild das in Kooperation mit der Alten
Oper Frankfurt stattfindende Konzertprojekt »One
Day in Life«. »Im unterirdischen Büchermagazin
der Deutschen Nationalbibliothek wurde am einen
Ende der endlos wirkenden Gangfluchten zwischen
den Kolonnen von Regalsystemen das 5. Madrigalbuch Claudio Monteverdis gesungen, während
gleichzeitig am anderen Ende einige Sätze aus Peter
Ablingers ›Voices and Piano‹ gespielt wurden: der
eine Klangpunkt sacht in den anderen hineintönend. Dazwischen die Millionen von Bücher als
Transkriptionen von Gedanken in Texte: Weit unter
der Erde eine wahrhaft tiefe Erfahrung«, erlebte der
Rezensent der Frankfurter Rundschau. Und auch
die Frankfurter Allgemeine Zeitung entdeckte eine
geradezu metaphysische Ebene bei diesem Konzerterlebnis: »Im Magazin der Deutschen Nationalbibliothek, 36 Stufen unter der Erde, wo jeden Tag an
die 2000 Bücher neu einsortiert werden, übertönen
die fünf Stimmen der ›Vocal Connection‹ mit ihren
verzaubernden Monteverdi-Madrigalen Hunderttausende Stimmen von Stimmen, die in Form von
stummen Bänden in den Regalen ruhen.«
Zeitpunkte
Frankfurt liest
»Längst stellt dieses große Lesefest seinen Titel in
den Schatten. ›Frankfurt liest ein Buch‹: Das ist nur
die halbe Wahrheit. Die mehr als 80 Veranstaltungen greifen weit in die Region und nach Hessen
aus«, hebt die Frankfurter Rundschau hervor. »Mit
viel Vorleseprominenz wurde in der Deutschen Nationalbibliothek gestern Abend die 7. Auflage des
Lesefestivals eröffnet.« (Börsenblatt) Zum Auftakt
des Literaturfestes, das sich in diesem Jahr um den
Roman »Frankfurt verboten« von Dieter David
Seuthe dreht, »gibt es erst einmal einen politischen
Appell gegen rechts«, berichtet die Frankfurter
Rundschau: »Es ist ein Auftritt, der aufhorchen
lässt. Rainer Weiss, der Verleger des WeissbooksVerlages, nutzt die Eröffnung für einen politischen
Appell. Und erntet großen Beifall von den 400
prominenten Ehrengästen in der Deutschen Nationalbibliothek.« Einige Wochen später konnte sich
das Lesefest auch noch über den »Preis für kulturelle Bildung 2016« der Staatsministerin für Kultur
und Medien freuen.
Gefundene Wörter
»Politische Klarsicht und Schärfe unstaatstragender
Art ist bei Herta Müller immer im Spiel«, weiß die
Frankfurter Rundschau. »In der Deutschen Nationalbibliothek erinnert Müller zum Abschluss des
Frankfurter Festivals ›LiteraTurm‹ an Grenzen, die
man innerhalb des Schengen-Raumes nur allzu
leicht vergisst, wenn man darüber redet, wie durchlässig die Grenzen zwischen dem literarischen Text
und anderen Kunstgattungen inzwischen geworden
Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller signiertihre Wortcollagen.
Foto: Deutsche Nationalbibliothek, Stephan Jockel
sind.« (Frankfurter Allgemeine Zeitung) Die Aussage
spielt auf das Motto »Der entgrenzte Text« des vom
Kulturamt Frankfurt am Main organisierten Literaturfestivals an. Mit Ernest Wichner, Leiter des Berliner Literaturhauses, sprach die Wörtersammlerin
dann über ihre Wortcollagen und über die »sinnliche Sphäre der Wörter«: Über »die unerträglichen,
unbenutzbaren (›mächtig‹), die schönen, die Herta Müller immer und überall ausschneiden würde
(›Karussell‹) und die schweren Wörter, wie ›Grenze‹,
denen man ›keine Leichtfüßigkeit mehr beibringen‹
könne«, erzählt die Frankfurter Rundschau von der
Lesung der Literaturnobelpreisträgerin.
Eine Übersicht der kommenden Veranstaltungen in der
Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig und Frankfurt am
Main finden Sie auf den Seiten 66 bis 68 in diesem Heft.
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Notizen
Personelles
Elisabeth Niggemann im Senat der DFG
Foto: Deutsche Nationalbibliothek, Stephan Jockel
Foto: Deutsche Nationalbibliothek, Stephan Jockel
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Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Die Generaldirektorin der Deutschen Nationalbibliothek Dr. Elisabeth Niggemann wurde mit
sieben weiteren neuen Mitgliedern in den Senat
der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG),
der größten Forschungsförderorganisation für die
Wissenschaft in Deutschland, gewählt. Der Senat,
dem insgesamt 39 Mitglieder angehören, ist das
zentrale wissenschaftliche Gremium, in dem über
alle Angelegenheiten der DFG von wesentlicher Bedeutung beraten und beschlossen wird. Elisabeth
Niggemann wurde auf den neu geschaffenen und
damit erstmals besetzten Senatsplatz »Wissenschaft
und Gesellschaft« gewählt.
Zum 1. Mai 2016 hat Constanze Schumann die
Leitung der standortübergreifenden Abteilung Erwerbung und Formalerschließung an der Deutschen Nationalbibliothek übernommen. Sie ist seit
September 2010, zunächst als Sachgebietsleiterin
und später als Leiterin des Referates Monografien –
Formalerschließung, in der Abteilung tätig. Neben
dem RDA-Projekt hat sie in dieser Zeit an weiteren Projekten unterschiedlichen Inhalts gearbeitet.
Nach ihrem Studium der Bibliothekswissenschaft
und Neueren und Neuesten Geschichte war sie unter anderem im Verlag De Gruyter in Berlin tätig.
Sie erreichen Frau Schumann telefonisch unter
0341 2271-416 oder 069 1525-1315 und per E-Mail
unter [email protected]
Notizen
Personelles
Renate Behrens hat zum 1. Januar 2016 die Leitung
der Arbeitsstelle Regelwerke in der Arbeitsstelle für
Standardisierung übernommen. Sie hat in den vergangenen Jahren das RDA-Implementierungsprojekt im deutschsprachigen Raum geleitet und im
Frühjahr 2016 die europäische Vertretung im RDA
Steering Committee (RSC) übernommen. Darüber
hinaus ist sie Mitglied in der European RDA Interest
Group (EURIG) und leitet dort das EURIG Editorial Committee, das die Weiterentwicklung des Standards RDA für Europa betreut.
Frau Behrens ist langjährige Mitarbeiterin der Deutschen Nationalbibliothek in verschiedenen Arbeitsbereichen und hat in den vergangenen Jahren das
Sekretariat der Arbeitsgemeinschaft der Verbundsysteme und zuletzt auch die Geschäftsstelle des Standardisierungsausschusses betreut.
Sie erreichen Frau Behrens telefonisch unter 069
1525-1523 und per E-Mail unter [email protected]
Edith Röschlau hat zum 1. Juni 2016 die Geschäftsstelle des Standardisierungsausschusses und
das Sekretariat der Arbeitsgemeinschaft der Verbundsysteme in der Deutschen Nationalbibliothek
übernommen. Die Diplom-Bibliothekarin arbeitet
seit einigen Jahren in der Arbeitsstelle für Standardisierung, zunächst im RDA-Projekt, zuletzt in der
Arbeitsstelle Regelwerke.
Dort ist sie unter anderem für die Betreuung der
deutschsprachigen Bibliothekscommunity bei der
Weiterentwicklung von RDA und die fachliche
Betreuung des D-A-CH-Konsortiums zuständig.
Davor war sie lange Jahre im Nationalen ISSN-Zentrum für Deutschland tätig.
Frau Röschlau tritt die Nachfolge von Renate Behrens an.
Sie erreichen Frau Röschlau telefonisch unter 069
1525-1425 und per E-Mail unter [email protected]
Foto: Deutsche Nationalbibliothek, Stephan Jockel
Foto: Deutsche Nationalbibliothek, Stephan Jockel
Dialog mit Bibliotheken 2016/2
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Notizen
Neue Veröffentlichungen
Deutsche Nationalbibliothek 2025:
Strategischer Kompass
Seit unserer Gründung 1912 passen wir uns an Publikationsformen und an neue Erwartungen unserer Nutzerinnen und Nutzer an.
Trends verändern die Gesellschaft heute schnell.
Mittelfristige Ziele bieten dabei Orientierung und
Navigationshilfe. Die Beschäftigung mit zukünftigen Herausforderungen trägt dazu bei, Entwicklungsschritte frühzeitig planen und umsetzen zu
können.
Erstmals hat die Deutsche Nationalbibliothek nun
ihre mittelfristigen Strategieziele formuliert und
veröffentlicht.
Bestellungen für diese Publikation richten Sie bitte an
Doris Köhler, Telefon: 069 1525-1101,
E-Mail: [email protected]
Erhältlich auch als PDF zum Download unter:
http://www.dnb.de/DE/Aktuell/Neues/neues_node.html
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Dialog mit Bibliotheken 2016/2
Notizen
Neue Veröffentlichungen
Jahresbericht 2015
Der Jahresbericht der Deutschen Nationalbibliothek 2015 ist erschienen. Von den Bereichen Erwerbung, Erschließung, Benutzung und Bestandserhaltung bis zur zentralen Rolle von Metadaten fasst er
wichtige Themen und Projekte, Entwicklungen und
Fakten des vergangenen Jahres zusammen. Die Einführung des neuen Standards RDA, das deutsch-israelische Kooperationsprojekt zur Digitalisierung
von Kulturgütern und die Arbeit des Deutschen
Musikarchivs zählen zu den Schwerpunktthemen.
Darüber hinaus gibt es eine Rückschau auf die
fachlichen und kulturellen Aktivitäten, auf unsere
Veranstaltungen und Publikationen und nicht zuletzt auf die herausragenden Erwerbungen für unsere Sondersammlungen. Informieren Sie sich über
alles Wichtige, das Erreichte und unsere Ziele.
Bestellungen für diese Publikation richten Sie bitte an
Doris Köhler, Telefon: 069 1525-1101,
E-Mail: [email protected]
Erhältlich auch als PDF zum Download unter:
http://www.dnb.de/DE/Aktuell/Neues/neues_node.html
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Notizen
Fachveranstaltung
Zugang gestalten
Die Digitalisierung des kulturellen Erbes hat in den
letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Doch
angesichts der rasanten technologischen Entwicklung der elektronischen Medien, der Projektorientierung von Kulturförderung und der Flüchtigkeit
digitaler Kommunikation gewinnen Fragen nach
der Nachhaltigkeit an Bedeutung. Auf der sechsten internationalen Konferenz »Zugang gestalten!
Mehr Verantwortung für das kulturelle Erbe //
Nachhaltigkeit« sollen am 17. und 18. November
2016 die damit zusammenhängenden Aspekte erörtert werden. Die Deutsche Nationalbibliothek
ist Mitveranstalterin der Berliner Konferenz. Veranstaltungsort: Hamburger Bahnhof, Museum für
Gegenwart, Berlin. Veranstaltungsleitung: Dr. Paul
Klimpel.
In diesem Heft inserieren
Deutsche Nationalbibliothek, Leipzig, Frankfurt am Main, U 2
Gesellschaft für das Buch, S. 2
Image Access GmbH, Wuppertal, U 4
Land SoftwareEntwicklung, Oberasbach, S. 47
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Dialog mit Bibliotheken 2016/2
ZUGANG
GESTALTEN!
Mehr Verantwortung
für das kulturelle Erbe
//Nachhaltigkeit
Kontakt
BESUCHEN SIE UNS!
Auf der Frankfurter Buchmesse
vom 19. bis 23. Oktober 2016
Dr. Elisabeth Niggemann
Generaldirektorin
Telefon +49-69-1525-1000
E-Mail [email protected]
Michael Fernau
Ständiger Vertreter der
Generaldirektorin in Leipzig
Telefon +49-341-2271-227
E-Mail [email protected]
Ute Schwens
Ständige Vertreterin der
Generaldirektorin in Frankfurt
Telefon +49-69-15 25-1100
E-Mail [email protected]
Dr. Britta Woldering
Marketing und
Kommunikation
Telefon +49-69-1525-1541
E-Mail [email protected]
Stephan Jockel
Pressesprecher
Telefon +49-69-1525-1005
E-Mail [email protected]
Dr. Kurt Schneider
Digitale Dienste
Telefon +49-69-1525-1066
E-Mail [email protected]
Bibliografische Auskunft
Leipzig
Telefon +49-341-2271-453
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Bibliografische Auskunft
Frankfurt am Main
Telefon +49-69-1525-2500
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Erscheinungsweise: Zweimal jährlich. Jahresabonnement: EUR 15,00. Einzelexemplar: EUR 7,50
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28. Jahrgang
ISSN 0936-1138