Die Cassirers 2016-4-026 Bauschinger, Sigrid: Die - H-Soz-u-Kult

S. Bauschinger: Die Cassirers
2016-4-026
Bauschinger, Sigrid: Die Cassirers. Unternehmer, Kunsthändler, Philosophen. München: C.H.
Beck Verlag 2015. ISBN: 978-3-406-67714-4;
464 S.
Rezensiert
Dresden
von:
Michael
Schellenberger,
Es herrscht wahrlich kein Mangel an historisch bedeutenden Familien in Deutschland
und ebenso wenig an familienbiographischen
Publikationen. Groß ist dabei die Spannbreite in Anspruch, Konzeption und stilistischer
Umsetzung und keineswegs ist es so, dass
nur eingefleischte Historiker essentielle Bücher dieser Art verfassen könnten, noch dass
sich Faktenvermittlung, neue Einsichten und
eine unterhaltende oder gar mitreißende Erzählweise nicht verbinden ließen. Vielleicht
liegt ohnehin der größte Gewinn, den ein
Historiker aus einem Sachbuch nichtzünftlerischer Herkunft ziehen kann, gerade im Fortfall fachwissenschaftlicher Termini und dem
Einsatz von Emotionen anstatt der Ausbreitung methodischer Überlegungen. Die Neugier auf eine solche Familiengeschichte ist
dann noch umso größer, wenn sie mit großen Namen und Einblicken in unterschiedliche Kultur- und Lebensbereichen lockt. Das
tut ohne Zweifel das Vorhaben der Germanistin Sigrid Bauschinger, die sich der Geschichte der deutsch-jüdischen Familie Cassirer annimmt. Mit ihrem Buch ergänzt Bauschinger
eine ganze Reihe vorhandener Studien und
Publikationen zu einzelnen Cassirers, insbesondere zu den berühmtesten Vertretern dieser Familie, nämlich dem Philosophen Ernst
Cassirer sowie den Kunsthändlern und Verlegern Paul und Bruno Cassirer. Sie selbst hat
bereits den Briefwechsel zwischen Rainer Maria Rilke und der Literatin Eva Cassirer editiert und sich intensiv mit der Dichterin Else
Lasker-Schüler beschäftigt, deren Werke von
Paul Cassirer verlegt wurden. Mit ihrer „Geschichte einer Familie“ geht sie nun biographisch in die Breite und stellt die Familie von
den Anfängen bis zur Generation der letzten
vor 1933 in Deutschland geborenen Cassirers
vor.
Die Erwartungshaltung gegenüber Bauschingers Buch ist demnach groß und wird
noch durch das Wissen um das Vertreibungs-
schicksal der Familie verstärkt, liegt doch in
einer solchen Erzählung immer noch eine besondere Herausforderung. Daher ist es leider umso enttäuschender, wenn keine der Erwartungen wirklich erfüllt wird. Vor allem
scheitert das Buch an seiner wenig inspirierenden Erzählweise, die den Leser nie wirklich in den Bann zieht. Das heißt nicht, dass
sich die Autorin in gewisser Weise nicht doch
um die Sache verdient gemacht hätte. Allein das Vorhaben an sich und die intensive
Quellenarbeit verdienen Anerkennung. Und
es ging Bauschinger sicher auch nicht allein
darum, die Erinnerung an die Familie und
deren vielfältigen Errungenschaften wach zu
halten (S. 415), sondern wie sie es im Vorwort
schreibt, in die „Fülle des Materials“ einzutauchen, „an einzelnen Stellen in die Tiefe zu
gehen“ (das bezieht sich fraglos auf einzelne
Familienmitglieder) und Neues zu entdecken
(S. 8). Doch liegt wohl gerade in diesem Ansatz die Krux des Vorhabens, denn es fehlt an
einer These, einem erzählerischen Ausgangsmoment respektive einem erkenntnisleitenden Rahmen. Die vielen Fakten, Anekdoten
und keineswegs fehlenden allgemeinhistorischen Betrachtungen finden leider nicht zu einer anregenden Erzählung zusammen.
Freilich versucht die Autorin mehr als
nur eine Aneinanderreihung individualbiographischer Erzählungen, wie sich schon in
der Gliederung zeigt. Diese folgt zwar vornehmlich, aber nicht allein der Chronologie.
Den Auftakt bildet eine kurze Einleitung, die
sich den schlesischen Ursprüngen der Familie zuwendet und mit Blick auf den wichtigsten Ort der Familiengeschichte bis 1933, Berlin, endet. Das erste Kapitel nimmt mit dem
Unternehmer Max Cassirer die „Zentralfigur“
der ersten Berliner/Charlottenburger Generation der Familie in den Blick, um im folgenden Kapitel die „zweite Generation: Kunst
und Wissenschaft“ vorzustellen. Hauptpersonen sind hier neben dem Musiker und
Schriftsteller Fritz Cassirer vor allem Ernst,
Paul und Bruno Cassirer. Bauschinger geht
in diesem Teil auch auf einigen Seiten explizit dem Zusammenhang von Kunstförderung
und -sammlung als einem Familienkennzeichen nach. Anschließend steht Edith GeheebCassirer, die Frau des Gründers der Odenwaldschule Paul Geheeb, ganz im Mittel-
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punkt. Das vierte Kapitel nimmt sich der Frage von „Familie und Judentum“ an, im fünften Kapitel wird das Exilleben betrachtet, vor
allem das von Ernst und Max Cassirer sowie
das Leben von Edith Geheeb-Cassirer und ihre Bemühungen um die Ecole d’Humanité in
der Schweiz als Nachfolgerin der Odenwaldschule. Auch die „dritte Generation“ wird vor
allem mit drei Vertretern im Exil behandelt:
dem Philosophen Werner Falk, dem Journalisten Henry Cassirer und dem Ingenieur und
Kunstförderer Wilfred Cass. Das sechste Kapitel wendet sich jenseits der Chronologie
explizit „drei Frauen“ zu, die durch Heirat
in die Familie gelangten: zuerst der gefeierten Schauspielerin Tilla Durieux, der zweiten Ehefrau von Paul Cassirer, wegen der er
sich 1926 das Leben nahm; dann der Schriftstellerin Eva Cassirer-Solmitz, eben die mit
Rainer Marie Rilke korrespondierte und vor
dem Zweiten Weltkrieg Lehrerin sowie danach Leiterin der Odenwaldschule war; und
schließlich einer weiteren Schriftstellerin, Nadine Gordimer, die sich in ihrem Heimatland
Südafrika entschieden gegen die Apartheitspolitik einsetzte. Eine abschließende Bilanz
zu all diesen Lebensläufen und Betrachtungen fehlt dann, doch lässt sich der Beginn
des Nachwortes als eine solche lesen: Nicht
nur seien kaum mehr Spuren von den Cassirers in Deutschland zu finden, selbst die Idee
und das Werk der Odenwaldschule habe die
Nachwelt zerstört (S. 414).
Diese abschließende Bemerkung kennzeichnet das Buch insofern, als die vielen
„Erfolgsgeschichten“ letztendlich als eine
Verlustgeschichte vor allem für die deutsche
Heimat der Cassirers gelesen werden muss.
Bauschinger erliegt der Faszination dieser
deutsch-jüdischen Familie, was nachvollziehbar ist, aber man vermisst dennoch eine
kritische Distanz. Die Charakterisierungen
der einzelnen Individuen bleiben daher
immer blass. Selbst das ausführliche Porträt
von Tilla Durieux (sie „lebte, spielte und
schrieb dramatisch“, S. 327) bleibt zu dicht
an den autobiographischen Stilisierungen der
berühmten Schauspielerin. Zudem erzählt
es wenig Neues über Paul Cassirer und
trägt nicht zur Biographisierung der Familie
Cassirer bei.
Bestimmt wird das Buch in Aufbau und
Darstellung von einigen Grundintentionen,
die im Laufe des Textes immer wieder zum
Vorschein kommen. Da sind zum Ersten Fragen nach der Bedeutung der Familie für die
Einzelmitglieder und der Basis auf der sich
der Familienverband konstituierte. Was also
„ist das spezifisch ‚Cassirerische‘“ (S. 224)?
Bauschinger findet die Antwort darauf in
der ausgesprochen „Bürgerlichkeit“ der Familie, ja diese begründe überdies den Aufstieg der bedeutenden Familienpersönlichkeiten (in der Regel „waren gerade die erfolgreichsten Cassirers zugleich die bürgerlichsten“, S. 226). Hinzu kam ein markantes „Bewusstsein der Zusammengehörigkeit“ (ebd.),
das durch Familienfeste und -treffen, Korrespondenzen und wohltätige Einrichtungen
wie die 1890 gegründete Familienstiftung gepflegt wurde, und eine fast adelsstolze Selbstwahrnehmung. Dieses Ergebnis überrascht
zwar nicht, es bestätigt aber grundlegende Befunde der Bürgertumsforschung. Ebenso verhält es sich mit einer zweiten Grundintention der Autorin, der Suche nach dem ‚spezifischen Judentum‘ der Familie, wie es vor
allem im Kaiserreich am ehesten zu fassen
ist. Bauschingers Antwort ist die Skizze einer Familie, die sich weitestgehend zu ihren jüdischen Wurzeln bekannte und von einigen Ausnahmen abgesehen die Taufe ablehnte, aber auch nicht religiös lebte. Die ehelichen Verbindungen blieben noch stark auf
den familiären bzw. jüdischen Kontaktraum
konzentriert, während sich die Verkehrskreise keineswegs mehr auf das jüdische Milieu beschränkten. Die Cassirers können damit als ein Paradebeispiel einer (groß-)bürgerlich deutsch-jüdischen Familie gelten. Durch
die sehr gut nachvollziehbare Charakterisierung der Familie geht gleichwohl das spezifisch „Cassirerische“ ganz im Allgemeinen
auf. Doch genau bei einer solchen Erkenntnis
muss man nicht stehen bleiben, vielmehr gilt
es, das ohne Frage noch große Forschungspotential offenzulegen. Das Bemerkenswerte
an dieser Familie ist mit der Erkenntnis einer
exponierten Bürgerlichkeit oder einer mehr
oder weniger zufälligen Ballung individueller
Talente sicher nicht zu erfassen. Um auf die
Spur des tatsächlich „Cassirerischen“ zu kommen, bedarf es mindestens vergleichender Betrachtungen, für die das Buch Bauschingers
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S. Bauschinger: Die Cassirers
nun allerdings eine Grundlage bietet.
Eine weitere Grundintention der Autorin
ist es, die Familiengeschichte nicht als eine männliche Geschichte zu erzählen. Die
Cassirer-Frauen, ob eingeboren oder angeheiratet, bekommen zu Recht viel Raum, und es
ist ganz nachvollziehbar, dass nicht anders als
bei den männlichen Mitgliedern vor allem deren Prominenz über den jeweiligen erzählerischen Umfang mitbestimmt, ist dies doch
auch eine Frage von Quellenumfang und Forschungsstand. Dabei fällt auf, dass Bauschinger nicht nur an den intellektuellen, künstlerischen und pädagogischen Leistungen weiblicher Familienmitglieder großes Interesse hat,
sondern sie nicht minder an den Kontakten
interessiert ist, den diese zu anderen Größen der Zeit pflegten (neben Eva CassirerSolmnitz etwa Edith Geheeb-Cassirer zu Indira Gandhi); vergleichbares ließe sich auch zu
den Cassirer-Männern sagen. Das alles zeigt
den großen kulturellen Kosmos, in den man
die Familie Cassirer vor allem in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts einordnen muss
und zu dessen Ordnung sie Wesentliches beitrug. Gleichwohl macht Bauschinger auch in
dieser Frage viel zu wenig deutlich, was all
das für die Familie zu bedeuten hatte. Ohne gleich eine gendergeschichtliche Methodik
einfordern zu wollen, hätte man doch gern etwas mehr über den weiblichen Einfluss auf
die Cassirerische Männerwelt erfahren. Und
so lässt Bauschingers Buch viele spannende Fragen offen. Aber vielleicht liegt gerade darin die versteckte Stärke dieses Buches.
Es ist nicht die Bilanz einer Familienhistorie,
sondern eine Fundgrube, wenn nicht gar die
Grundlage für einen neuen Blick auf die Biographie der Familie Cassirer.
HistLit 2016-4-026 / Michael Schellenberger
über Bauschinger, Sigrid: Die Cassirers. Unternehmer, Kunsthändler, Philosophen. München
2015, in: H-Soz-Kult 14.10.2016.
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