Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Feature am Sonntag
Irtijal heißt Improvisation
Die Erfindung des Free Jazz im Libanon
Von Tobias Lehmkuhl
Sendung: Sonntag, 9. Oktober 2016, 14.05 Uhr
Redaktion: Walter Filz
Regie: Andrea Leclerque
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
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ATMO Hundegebell
O-Ton MAZEN 4’53
I have always asked myself if I was an adult in the civil war: Would I be able to
continue my job or to be an artist in a war, because you always ask yourself how you
would have reacted?
Spr2 Mazen:
Ich habe mich immer gefragt: Was hätte ich als Erwachsener im Bürgerkrieg
gemacht? Hätte ich meine Arbeit fortsetzen können, hätte ich Künstler bleiben
können? Wie hätte ich reagiert?
ATMO Verkehr 1
Spr1 Autorentext
Hupen, Hupen, Hupen. Scharfer armenischer Kebab, libanesischer Couscous, der
aussieht wie ein Haufen dicker weißer Erbsen, Schafskäse in neongrünem Olivenöl,
Sesampaste.
ATMO Trompete
O-Ton MAZEN
Of course the war for me and my generation is totally natural. We were born in it and
the sound of a bomb is something what you name from very young, something like a
table like an animal or whatever, so it is just something you live with it.
Spr2 Mazen
Für mich und meine ganze Generation ist der Krieg völlig normal. Wir wurden da
hineingeboren. Den Klang einer Bombenexplosion kannten wir von klein auf. Das
war uns so vertraut wie ein Tisch oder ein Tier oder was auch immer. Es war einfach
etwas, womit man gelebt hat.
ATMO Autoradio
Spr1 Autorentext
Hupen. Der wahnwitzige Verkehr. Rostige Peugeots, Renaults, Citroëns, ein wenig
wie Griechenland in den achtziger Jahren. Keine Plätze oder Parks, kein Ort für
Kinder, eigentlich kein Ort zum Leben.
ATMO Trompete 2
O-Ton MAZEN 5’30
So the question for my generation has always been, what if we had kids? We always
asked our fathers and mothers: How did you live through this civil war? For me
specifically being an artist: Is it possible continue working? Because both my parents
are artists and continued somehow to work during civil war.
2
Spr2 Mazen
So war die Frage für meine Generation auch immer: Was wäre, wenn WIR Kinder
hätten? Immer wieder fragten wir unsere Mütter und Väter: Wie habt ihr es geschafft,
während des Bürgerkriegs zu überleben? Gerade für mich als Künstler: Ist es
möglich, weiterzumachen? Meine beiden Eltern nämlich waren Künstler und haben
es während des Bürgerkriegs irgendwie geschafft, ihre Arbeit fortzusetzen.
ATMO Vögel
Spr1 Autorentext
Ein paar Katzen. Vögel in Käfigen. Viel Hundekacke, nur Pepsi, keine Cola. Beton,
Beton, Beton.
ATMO Bomben
O-Ton MAZEN 5’53
So somehow here it was the answer for me. So the war was happening and of
course you not only can continue working, it is difficult to admit, but you work even
better. You are really working under pressure and under the sense of emergency,
that ideas really come in a flow, that you don’t have enough time to draw everything.
At no point I will sit and think: What will I draw, or look for inspiration. The war itself
was inspiration.
Spr2 Mazen
Und da war dann plötzlich die Antwort für mich. Der Krieg fand statt und, es ist
schwierig das einzugestehen, man arbeitet nicht nur weiter, man arbeitet sogar
besser. Man arbeitet unter besonderem Druck, dem Gefühl der absoluten
Dringlichkeit, die Ideen fließen und man hat gar nicht genügend Zeit, all das
aufzuzeichnen. Keinen Moment lang saß ich da und dachte: Was mache ich jetzt?
Ich musste nicht nach Inspiration suchen. Der Krieg war die Inspiration.
ATMO Taxifunk
ANSAGE
Irtijal heißt Improvisation
Die Erfindung des Free Jazz im Libanon
Ein Feature von Tobias Lehmkuhl
Spr1 Autorentext
Der erste Tag in Beirut. Bald beginnt das Festival: Irtijal, das einzige Festival für
improvisierte Musik im Nahen Osten, in der arabischen Welt. Zur fünfzehnten
Ausgabe sind neben libanesischen Musikern vor allem Musiker aus Deutschland
geladen.
3
MUSIK BeinsKerbajVorfeld 1
O-Ton Vorfeld 0’26
Ich bin ja bisher nur über die Grenzlinie auf die andere Seite gegangen und da geht
man von hier über extrem zerstörtes Gelände, auch Niemandsland, hat mich fast so
ein bisschen an Berlin, ehemaliger Mauerstreifen erinnert.
Spr1 Autorentext
Michael Vorfeld, Percussionist.
ATMO Feuerwehr
O-Ton Vorfeld:
Und dann kommt man nach Hamra, und das wirkt alles sehr aufgeräumt, sehr agil,
so lebendig, sehr business-mäßig. Der erste Eindruck ist eine Stadt der starken
Gegensätze. Einerseits sehr locker, europäisch, es könnte fast Griechenland sein,
aber dann doch wieder diese krassen Spuren, die dieser ganzen Krieg, die Konflikte
hinterlassen haben.
ATMO Polizei
O-Ton Paed Conca 0’30
Es hat hier etwas, was dich anmacht, einen vibe irgendwie. Es hat was mit der Art zu
tun.
Spr1 Autorentext
Paed Conca, Klarinettist, lebt seit fünf Jahre in Beirut.
ATMO Würfelspieler
O-Ton CONCA:
Ich war schon an vielen Orten, der Libanon hat diese komische Diskrepanz zwischen
dieser Solidarität und dieses Helfen und Unterstützen und dem Hass, dem ganze
Bürgerkriegsmüll, den ganzen religiösen Clans, Verstrickungen, die auch politisch
sind. Diese Mischung ist extrem komisch, weil es ist nicht aufgesetzt, die
Unterstützung ist nicht aufgesetzt, die ist einfach normal, man hilft eben, und so was
habe ich noch nie irgendwo gesehen. Hier kann das extrem kippen, aber
grundsätzlich ist man immer füreinander da. Und trotzdem war der Bürgerkrieg zum
Beispiel möglich, so viel Grausamkeit, so viel Hass, das ist sehr speziell.
ATMO Rue Arax
Spr1 Autorentext
Der Bürgerkrieg dauerte von 1975 bis 1990 und hat eine ganze Generation geprägt.
Auch die beiden Gründer der Festivals, Mazen Kerbaj und Sharif Sehnaoui.
4
MUSIK Nashaz 1
O-Ton MAZEN 18’40
For me it was the most natural thing. I was born in 75 and until my 15th year there
was the war. Until my mid-teen-age it was very natural. And even later, for 2,3 years
we could’t believe because they told us so many times when we were young: Oh, the
war is over, but it was not over. It was abstract, what they told us.
Spr2 Mazen
Der Krieg war für mich vollkommen natürlich. Ich wurde 1975 geboren, und bis ich 15
Jahre alt war, herrschte Krieg. Und sogar noch zwei, drei Jahren später konnten wir
nicht wirklich glauben, dass der Krieg tatsächlich vorbei sein sollte. Man hatte uns
während unserer Kindheit so oft erzählt: Der Krieg ist vorbei. Aber er war nie vorbei.
Was man uns da erzählte, war völlig abstrakt.
O-Ton SHARIF 1’30
There were moments, especially connected to the political situation and the civil war
in the country where we could’t live in that house, and we cannot take the piano with
us. At points we would go to the mountains and there was no piano or would go to
cyprus, where we were waiting for things to get better and be able to come back, and
of course it was not possible to move the piano to cyprus and it was hard to get one
there.
Spr3 Sharif
Es gab Zeiten, je nach politischer und militärischer Lage, in denen wir nicht zuhause
wohnen konnten, und natürlich konnten wir das Klavier nicht mit uns nehmen.
Manchmal gingen wir in die Berge, dann wieder nach Zypern, wo wir auf bessere
Zeiten warteten. Und an ein Klavier war dort nicht zu kommen.
O-Ton MAZEN:
I don’t consider that the war influenced me badly. Of course maybe when I make an
analysis, maybe there is a trauma, probably, but I do not feel, that I got something
more or less then someone who lived outside. It was really… like we would
sometimes pray to Jesus or Mohamed or whatever you pray to: for having some
bombs tomorrow, but not to kill anybody but to miss the math-exam you have,
because when there is bombing there ist no school.
Spr2 Mazen
Ich glaube nicht, dass der Krieg einen schlechten Einfluss auf mich gehabt hat. Klar,
wenn ich eine Psychoanalyse machen würde, würde sich da bestimmt irgendein
Trauma finden, aber ich glaube nicht, dass es ein schlimmeres Trauma wäre als bei
jemandem, der irgendwo anders aufgewachsen ist. Es war, nun ja, manchmal
beteten wir zu Jesus oder Mohammed oder zu wem auch immer: Lass es morgen ein
paar Bomben regnen, nicht um jemanden zu töten, sondern damit die Matheprüfung
nicht stattfindet. Wenn Bomben fielen, war nämlich keine Schule.
ATMO Baustelle
5
Spr1 Autorentext
Kerbaj und Sehnaoui kommen beide aus christlichen, frankophonen Familien.
Anders als die Eltern von Sehnaoui waren Kerbajs Eltern Künstler und konnten es
sich nicht leisten, während der schlimmsten Zeit ins Ausland zu gehen.
MUSIK BeinsKerbajVorfeld 2
O-Ton MAZEN 16’14
I had a kid very early, and when you have a kid you don’t do military service. But
when I was younger, really young, I was very attracted to weapons of course and I
had some weapons at very early age. I remember when we were between 11 and 13
we were able to break down a Kalashnikov and who could do it faster and my cousin
could to it with his eyes closed. And we would laugh at kids which were 9 years and
playing with plastic Kalashnikov. We knew how to make it safe, we knew how to
remove the bullets, we knew all this, that is the worst part of it, that we knew how to
make it safe.
Spr2 Mazen
Ich bin sehr früh Vater geworden, und wenn man ein Kind hat, muss man im Libanon
keinen Wehrdienst leisten. Aber als ich jünger war, wirklich jung, war ich von Waffen
magisch angezogen, und ich besaß auch einige Waffen. Als wir elf, zwölf, dreizehn
Jahre alt waren, konnten wir eine Kalaschnikow auseinandernehmen, und wer am
schnellsten war, hatte gewonnen. Mein Cousin konnte das sogar mit verbundenen
Augen. Neunjährige, die bloß mit Plastik-Kalaschnikows spielten, lachten wir aus. Wir
wussten, wie man sie sichert oder wie man die Kugel herausnahm. Wir wussten
alles. Aber das war das schlimmste daran: Wir wussten, wie man sie sichert.
Spr1 Autorentext
Dennoch gab es auch eine Zeit, als die Sehnaouis sich in ihrem Haus im Beiruter
Stadtteil Achrafie verschanzen mussten. Das Haus hat einen großen Garten, einer
der ganz wenigen Gärten in der Stadt, und seine Bäume sind eine stadtbekannte
Attraktion. Eigentlich ist es nur ein Baum, eine Art Gummibaum, dessen Äste sich zu
Boden neigen und dort immer neue Wurzeln schlagen und aus dem Garten ein
rätselhaftes Labyrinth machen. Sharif Sehnaouis Mutter Leila zeigt den Garten.
MUSIK aus
O-Ton LEILA Sehnaoui 0’35
Look, ah, you cannot see. There was a huge building behind this one, were the
syrian had heavy artillery. And they were bombing all this area, because it was a
christian area. And we often had bombs and shells, small, medium and big ones,
falling on the house and on the whole surrounding here and in the garden. Someway
the trees protected the house, because the bombs would collapse, when they hit the
trees. We had a few bombs on the house, but like more than 30 on the garden. For
three months we were in the basement of the house, we could’t go out because of
the (shelling?). Three months later we come out and the garden was like a savage
jungle. You see those strings, I don’t know how could call them, in french it is „liane“.
We used to cut them before. During those three months the liane went down on the
ground and rooted and got thicker. The main tree is a small one, it is there in the
6
middle, it is just three meters high and 50 centimeters diameter and those liane
coming down made new trees, and the trees cover half of the garden. Since then,
when we need to grow the tree in one side, we leave the liane down, it makes a solid
tree, a heavy branch and it spreads. Look at this one: it was cut from its main branch
by a bomb and it rooted again.
SPRECHERIN:
Hier, das ist jetzt nicht zu sehen. Da war ein großes Gebäude hinter diesem Haus,
darin befand sich schwere syrische Artillerie. Sie haben hier die ganze Gegend
bombardiert, weil es ein christliches Wohnviertel ist. Sie schossen mit Bomben und
Granaten, großen, kleinen und mittleren, und die flogen auf das Haus und in den
Garten hier. Auf eine Weise schützten die Bäume das Haus, denn sie explodierten,
wenn sie mit den Bäumen in Berührung kamen. Ein paar Bomben trafen das Haus,
aber mehr als dreißig den Garten. Einmal saßen wir drei Monate im Keller fest und
konnten wegen der Bombardierung nicht raus. Danach kamen wir in den Garten und
sahen, dass aus ihm ein wilder Dschungel geworden war. Hier diese Lianen. Früher
wurden sie immer abgeschnitten. Aber während dieser drei Monate waren die Lianen
bis auf den Boden gewachsenen, hatten dort Wurzeln geschlagen und waren immer
dicker geworden. der Hauptstamm ist da in der Mitte zu sehen, er ist bloß drei Meter
hoch und fünfzig Zentimeter im Durchmesser. Die Lianen aber bildeten neue Bäume
und diese Bäume bedecken jetzt die Hälfte der Gartenfläche. Seitdem lassen wir
dort, wo wir einen neuen Baum haben möchten, eine Liane bis auf den Boden
wachsen, dann wird daraus ein neuer Stamm, der wiederum neue Äste treibt. Hier
der: der wurde von seinem Hauptast durch eine Bombe aufgetrennt und hat wieder
Wurzeln geschlagen.
ATMO Vögel
MUSIK BeinsKerbajVorfeld 3
O-Ton MAZEN 17’30
I had also handgranats, just the explosive inside was removed and I took it to school
and threw it, just to make a joke. Today, when you think of it, it is kind of outrageous.
But then again today when you talk about it in retrospect and realize as an adult how
trash it was the situation. But back then I would never exchange my youth against
any other youth in New York or whatever. It was a super, very happy youth. I am
fortunate, nobody of my family died in the war. And for the rest it was a big, big game
for us. Maybe not my older brother who was ten years when the war started.
Spr2 Mazen
Ich besaß auch Handgranaten. Nur der Sprengstoff darin war entfernt worden. Ich
nahm die mit in die Schule und warf sie dort, einfach aus Spaß. Wenn man heute
drüber nachdenkt ist das natürlich fürchterlich. Aber wenn du als Erwachsener darauf
zurückschaust, siehst du natürlich auch, wie beschissen die ganze Situation war.
Aber ich würde meine Jugend niemals gegen eine Jugend in New York oder sonstwo
eintauschen. Meine Jugend war toll, eine wirklich glückliche Zeit. Ich hatte auch
Glück, niemand aus meiner Familie starb im Krieg. Für uns Kinder war es einfach ein
großes Spiel. Vielleicht nicht für meinen älteren Bruder. Der war zehn Jahre alt, als
der Krieg begann.
7
ATMO Taxi
Spr1 Autorentext
Keine zwei Häuser, die nebeneinander stehen und die gleiche Höhe haben. Keine
Metro, keine Tram, keine Fahrräder. Im Taxi muss der Preis verhandelt werden. Und
wenn sonst auch jeder Englisch und Französisch spricht, geht es darum, ob man 10
Dollar oder 10 000 libanesische Pfund bezahlt, spricht mancher plötzlich nur noch
arabisch.
MUSIK Nashaz 2
O-Ton Vorfeld 2’15
Bei so Konzerten, wie ich sie hier auf dem Festival spiele, spielt das keine Rolle, ob
ich sie hier in Beirut oder in Berlin oder in New York oder Moskau, es hat da nicht
wirklich einen Einfluss drauf. Es kann natürlich einen Einfluss haben, wenn man mit
Leuten auf dem jeweiligen Land spielt, weil die jeweilige Ästhetiken haben, eigene
durch die mit dem Land verbundene Lebensweise beeinflusste Spielweise, aber der
Ort an sich nicht.
ATMO Fisherman
Spr1 Autorentext
An einer Ecke im armenischen Viertel sitzt ein Mann und verkauft Fisch. Die Wand
hinter ihm ist vollgeklebt mit Zeitungsausschnitten und Fotos, die ihn in jüngeren
Jahren zeigen, mit größeren Fischen, als denen, die jetzt vor ihm liegen. Aber auch
im Kostüm und auf der Bühne. Ein Komödiant, den sie Kalaschnikoff nannten.
ATMO Fisherman:
Bumm, Bumm, Bumm!
ATMO Begrüßung
MUSIK Schalmei
Spr1 Autorentext
Und dann beginnt das Festival. Schlagzeug-Legende Günther Baby Sommer aus
Dresden gibt zusammen mit dem Beiruter Elektromusiker Rabih Beaini das erste
Konzert, aber so richtig finden die beiden nicht zueinander, und am Ende bläst
Sommer sich und Beiani mit einer Schalmei den Marsch.
MUSIK Hummus
Spr1 Autorentext
Die Neuen Vocalsolisten aus Stuttgart treten auf und singen eine Hymne auf den
Hummus. Der libanesischer Komponist Zad Moultaka hat sie komponiert.
8
O-Ton NEUMANN 3’40
Natürlich, eine andere Stadt und andere Vibes machen schon was aus, aber wir
haben auch jetzt schon eine Geschichte mit der Band, mit dem Quartett,und ich weiß
jetzt nicht wie weit das so fragil ist, dass das mit reinspielt.
Spr1 Autorentext
Gemeinsam mit Sharif Sehnaoui, Michael Vorfeld und dem Klarinettisten Michael
Thieke bildet Andrea Neumann das Quartett Nashaz. Sie selbst spielt „Innenklavier“
und ist mit ihrem eigens für sie angefertigten Klavierrahmen angereist. Keine Tasten,
kein Korpus. Dafür die Möglichkeit elektronischer Verstärkung.
MUSIK Nashaz 3
O-Ton NEUMANN 0’10
Also diese Klangforschung ist sehr verknüpft mit meinem Instrument, was ja ein
Instrument ist, was es nicht gibt, das kannst du nicht kaufen, das wurde mir gebaut,
dieses Innenklavier. Seitenbespannter Rahmen mit Pick-ups, und allein die Wege,
das zu verstärken hat schon was zu tun mit Klangforschung, weil es macht ja einen
Riesenunterschied, ob du das verstärkst mit einem selbstgebauten Piezo-pick-up,
was ich am Anfang gemacht hat und noch so einen Gitarrenverstärker dazu nimmst,
der Klang ist ganz anders als wenn du Schertler-Kontaktmikrophone hast und die mit
Genelecs verstärkst. Die Verstärkung ermöglicht so eine mikroskopische
Untersuchung von Klängen, weil du ja feine Details, die du eigentlich nicht hörst,
ganz in den Vordergrund bringen kannst, zum Beispiel wenn du mit Stahlwolle auf so
einem Gitarren-Pick-up reibst und dann ist da nur so ein Fädchen von der Stahlwolle,
der da rübergleitet, den gäbe es ohne Verstärkung gar nicht, da steckt dann aber viel
drin in diesem Klang, viel Verschiedenes.
ATMO:
Vor dem Konzert
ATMO aus
O-Ton Thieke 0’46
Ich fand es erstaunlich ähnlich gegenüber vielen anderen Festivals…
Spr1 Autorentext
Michael Thieke nimmt bereits zum dritten Mal am Irtijal-Festival teil.
O-Ton Thieke weiter
… sehr schön zu entdecken an Musikern und auch an Publikum, die auch nicht
wahnsinnig anders daherkommt als in irgendwelchen europäischen oder
amerikanischen Großstädten, von daher würde ich jetzt nicht sagen, dass der Ort
einen besonderen Einfluss gehabt hätte.
O-Ton MAZEN 20’24
9
Of course saying this today I realize how provocative it may sound, but it is not,
unfortunately it is what kids live without noticing it. It is what kids are living today in
Syria, kids who are born in the last 6,7 years. It is the constant state you cannot
escape. And when you are kid, you are not afraid. Until my 9th or 10th year I wasn’t
even afraid of this thing. It was a big game you wouldn’t even realize that you could
die or that someone could die, it is really abstract. And being afraid of a bomb you
would pass as a sissy in front of your friends. It was really a big game.
Spr2 Mazen
Sicher weiß ich, wie provozierend das heute klingen mag, aber das soll es nicht. Es
ist genau das, was Kinder heute in Syrien erleben, Kinder, die in den letzten sechs,
sieben Jahren geboren worden sind. Es ist einfach ein Zustand, dem man nicht
entkommen kann. Und wenn man ein Kind ist, hat man keine Angst. Es war ein
großes Spiel, und uns war gar nicht klar, dass wir, dass irgendwer sterben könnte,
das war wirklich abstrakt. Und wenn man Angst vor den Bomben hatte, war man für
seine Freunde ein Schwächling. Es war wirklich ein großes Spiel.
MUSIK Neumann solo
O-Ton NEUMANN:
Wir kennen uns, wir kennen das Vokabular voneinander, die Gruppe hat schon einen
bestimmten Sound, den sie auch kennt, glaube ich, obwohl man dann auch innerhalb
von diesem Vokabular, was man dann so verwendet wie eine Präkonzeption, das
Vokabular, was alle mitbringen und was sie in der Gruppe verwenden ist wie eine
Präkonzeption oder Präkomposition. Zum Beispiel würde Michael Thieke niemals
einen Jazz-Lick spielen, was er in anderen Besetzungen sehr gut kann und tut, aber
in der Gruppe macht er das eben nicht.
O-Ton MAZEN 22’15
We are a lost generation as they say, but I don’t see that. I tend to thing I am a pretty
normal person. Today I have no real trauma, but then again I am talking about
myself, so I don’t know.
Spr2 Mazen
Es heißt, wir seien eine verlorene Generation, aber so sehe ich das nicht. Ich neige
dazu, mich als ziemlich normalen Menschen anzusehen. Ich bin nicht großartig
traumatisiert, aber gut, ich selbst spreche hier über mich, was weiß ich da schon.
ATMO TV
Spr1 Autorentext
Lange Gespräche mit Mazen Kerbaj über die Kindheit im Krieg, und wie dann eines
Tages der Krieg zurückkam, im Jahr 2006, als Israel 33 Tage lang Beirut
bombardierte.
10
O-Ton MAZEN 6’29
I think every artists put in a dangerous situation works differently at least. Maybe not
better or less good but works differently. An artist in jail works differently, an artist in a
war zone or in a natural catastrophe works differently.
Spr2 Mazen
Ich glaube, dass jeder Künstler in einer gefährlichen Situation zumindest anders
arbeitet als sonst. Vielleicht nicht besser oder schlechter, aber anders. Ein Künstler,
der im Gefängnis sitzt arbeitet anders, einer im Kriegsgebiet ebenso wie einer, der
mit einer Naturkatastrophe konfrontiert ist.
ATMO Trompete 3
Spr1 Autorentext
Kerbaj setzte sich, sobald die ersten Bomben des Tages fielen, auf seinen Balkon
und begann Trompete zu spielen, das heißt: die Trompete als Instrument zu
benutzen, mit dem sich Geräusche, Töne und Muster produzieren lassen, die wenig
mit dem gemein haben, was man unter klassischem Jazz versteht, nicht Melodie
oder Harmonie stehen im Vordergrund, sondern der Klang. Dazu schließt Kerbaj zum
Beispiel einen Gartenschlauch und ein Saxophonmundstück an die Trompete an,
oder auch einen Gummiballon, den er mit Sushi-Stäbchen zum Jaulen und Knattern
bringt. Oder er legt einen Plastikteller auf den Schalltrichter und lässt
Metallkügelchen darauf tanzen.
MUSIK BeinsKerbajVorfeld 4
O-Ton MAZEN 7’02
So after beginning to draw in my notebooks after the third day of the war, I said: I am
a musician also, why am I only drawing? I should try to record the war also. One
project from that time was finding music from the cicil war and playing music with it,
just to try: What is the influence of these sounds on my music? Because this are
really sounds which are most familiar sounds for us, for my generation living in
Libanon than any other sound, more than a car sound.
Spr2 Mazen
Nachdem ich bis dahin nur Zeichnungen gemacht hatte, sagte ich mir am dritten Tag
des Kriegs: Hey, ich bin auch ein Musiker, warum zeichne ich nur? Ich sollte den
Krieg auch aufnehmen. Eins meiner damaligen Projekte war: Aufnahmen aus der
Zeit des Bürgerkriegs zu suchen und mit denen dann musikalisch zu arbeiten. Um
herauszufinden: Inwiefern gibt es einen Einfluss dieser Klänge auf meine Musik?
Weil diese Klänge mir wirklich vertraut waren, für meine ganze Generation waren sie
vertrauter als zum Beispiel das Geräusch von Autos.
MUSIK Nashaz 3
O-Ton Vorfeld 6’40
Gleichzeitig bin ich jemand, der gerne rein im Klang arbeitet und dadurch mehr zu
rhythmischen oder musikalischen Strukturen kommt die zu so Begriffen wie
11
Maschine oder Maschinerie führen, weil es weniger sich so an rhythmischen Pattern
orientiert, die sich so mit afrikanischer Perkussion, mit südamerikanischer, mit
indischer, mit europäischer Schlagzeugmusik zusammenbringt oder mit typischen
Jazzsachen, sondern mehr sich aus motorischen Bewegungsmustern sich entwickelt.
Vorfeld 3’25
Es ist im Prinzip nichts abgesprochen, aber es gibt doch so ein grundsätzliches
Verständnis zum Beispiel zwischen uns dreien gestern bei dem Trio-Konzert gestern
mit Burkhard und Mazen, dass wir schon eine gemeinsame Vorstellung haben von
Klanggestaltung, grundsätzlich uns einig sind, dass wir klangliche Gebilde bauen
wollen, die sehr verzahnt wirken, wo es schwer auseinander zu halten ist, was die
Perkussionsinstrumente hervorbringen und was von Mazens Trompete da klanglich
passiert, wo das teilweise auch sowas wie merkwürdigere Maschinerien, klingende
Maschinen sind, die da immer wieder in neue Bewegungsabläufe reinbringen, in
neue Tempi in neue Interaktionen von verschiedenen Teilen dieser Maschine.
ATMO Presslufthammer
ATMO Feuerwerk
O-Ton MAZEN 8’00
Anyway I wanted to confront my music I do now, although I do not claim I do warinspired music at all. For me it is totally abstract and not related to any
representation. But the idea of confronting this other sound was very present for a
long time. So when I rethink of this in July 2006 I don’t need to continue bringing
sounds of the old war I have a new war, I have the sounds really present. And
somehow that is how it started.
Spr2 Mazen
Ich wollte mich mit diesen Klängen auseinandersetzen, auch wenn ich nicht sagen
würde, ich mache vom Krieg inspirierte Musik, ganz im Gegenteil, meine Musik ist
völlig abstrakt und steht in keiner eindeutigen Beziehung zu irgendeiner
außermusikalischen Wirklichkeit. Aber der Gedanke, mich mit den Klängen der
Kriegszeit auseinanderzusetzen war für mich lange Zeit sehr gegenwärtig. Im Juli
2006 brauchte ich dann nicht mehr auf Aufnahmen aus dem Bürgerkrieg
zurückzugreifen, es gab ja den neuen Krieg, und seine Geräusche und Klänge waren
überall. Und so fing es an.
ATMO TV 2
Spr1 Autorentext
Kerbaj aber nahm während des Libanonkriegs 2006 nicht nur sein von Explosionen
interpunktiertes Trompetenspiel auf, sondern auch Telefongespräche und
Unterhaltungen mit seiner späteren Frau vor dem Fernseher - und die Vögel am
frühen Morgen im Hinterhof.
ATMO Hinterhof
12
O-Ton MAZEN 9’00
The idea of being in action while the city was bombed was the most interesting one.
The fact of hearing the bomb and your brain being shifted not only shitting in your
pants, what is normal, but also trying to react as a musician, especially an
improvising musician in the moment. So ok you shit in your pants, but then you have
to put yourself together and continue the music you are doing or whatever, but you
have to react artistically and you are conscious, that your are recording music or
whatever.
Spr2 Mazen
Der Gedanke, etwas zu machen, während die Stadt bombardiert wurde, war extrem
reizvoll. Die Explosionen zu hören und das Hirn in Bewegung zu setzen, nicht nur in
die Hose zu scheißen. Schiss haben ist völlig normal, aber auch als Musiker zu
reagieren, vor allem als improvisierender Musiker, der aus dem Moment heraus
arbeitet, das war der Reiz. Also einerseits macht man sich in die Hose, andererseits
aber reisst man sich zusammen und macht Musik oder was auch immer, aber man
muss künstlerisch reagieren, und sich bewusst sein, dass man Musik aufnimmt.
MUSIK Ignaz Schick
O-Ton NEUMANN 5’19
Es geht schon auch darum, sich zu überraschen oder Dinge zu spielen, die einen
herausfordern. Ich war zum Beispiel jetzt extrem erstaunt, weil Sharif ist in etwas
Tonales gegangen, etwas Repetitives, etwas mit Pausen, was ich so noch nie von
ihm gehört habe, was ich aber extrem interessant fand und was mich gleich inspiriert
hat, das und das dazu zu machen, oder das so fortzuführen.
O-Ton SHARIF 3’20
Mazen and me met before he was playing music, I was already playing music but not
him. We met just on the basis, that we were both a bit trapped in this Lebanese
society which after the civil war in the late 90’ was very poor in terms of how much
culture you had access to or music, there was no internet, you cannot go online. We
were trapped in a very close circuit of friends and nightlife and going to the
mountains. I think what clicked, that we were both looking for something else than
what was around.
Spr3 Sharif
Mazen und ich haben uns kennengelernt, bevor er überhaupt Musik machte. Ich
machte schon Musik, er aber noch nicht. Wir haben uns kennengelernt als zwei
Jungs, die sich eingeengt fühlten in dieser libanesischen Gesellschaft der späten
neunziger Jahre. Die war künstlerisch ziemlich verarmt, es war schwer überhaupt an
Musik zu kommen, es gab kein Internet. Freunde, Nachtleben und Ausflüge in die
Berge, das war’s, was man damals machen konnte. Wir hielten beide Ausschau nach
mehr, nach etwas anderem.
MUSIK Haidar
O-Ton MAZEN 9’47
13
So it makes the moment much different. My girlfriend when they bombed would go to
the room, because it is safer, there are more walls, and I would run to the balcony,
what is totally stupid. But in a sense it makes it easier, being outside shitting in my
pants thinking of my music is easier than her just sitting inside shitting in her pants.
The whole work, the drawing and recording is keeping my own sanity. It is really very
difficult to accept these absurd reality, that bombs are falling, bombs of 20 tons, just
to accept this in your brain is not easy.
Spr2 Mazen
Man erlebt den Moment sehr unterschiedlich. Meine Freundin ging, sobald die
Bombardierung begann, in die Wohnung, weil es dort sicherer war, ich lief auf den
Balkon, was völlig bescheuert ist. Aber auf eine Weise machte es die Dinge
einfacher: Draußen zu sitzen, sich vor Angst in die Hosen zu machen und an meine
Musik zu denken ist einfacher als bloß drinnen zu sitzen und sich in die Hosen zu
machen. Die ganze Arbeit, die Zeichnungen wie die Musik, halfen mir, bei Verstand
zu bleiben. Denn es ist wirklich schwierig diese absurde Realität zu akzeptieren, die
herunterfallenden Bomben von zwanzig Tonnen. Das in deinem Kopf zu akzeptieren
ist wirklich schwierig.
O-Ton BEINS:
Der Raum wird zu einem Mitspieler, und zwar auch wenn man zwar weiß in welchen
Bereichen man sich bewegt, aber die Detailentscheidungen offen lässt, kann man
den Raum auch mit einbeziehen…
Spr1 Autorentext
Am zweiten Abend des Festivals gibt der Percussionist Burkhard Beins, gemeinsam
mit Mazen Kerbaj und dem Perkussionskollegen Michael Vorfeld, ein Konzert.
MUSIK BeinsKerbajVorfeld 5
O-Ton BEINS weiter
… dem Also wenn ein bestimmtes Material, was ich einsetze in einem Raum
besonders gut klingt oder die Resonanzen interessant sind, kann ich dem mehr Platz
geben oder dem mehr nachgehen und andere Dinge, die vielleicht nicht so gut
funktionieren dann eher verlassen. Das ist dann auch der Grund, warum ich die
Entscheidung über die Dauern, der Verhältnisse der Teile zueinander offen lasse und
nicht vorher vorkomponiere.
O-Ton MAZEN 10’49
You have to admit to yourself, that you find a certain nostalgia in these sounds.
Beside being very afraid, there is some morbid attraction to this sound, as for you
maybe this place where went every year for vacation, let’s say, and then you don’t go
for 20 years and then you go there again and a smell or a sound or a vision and you
are directly there again. It is that, it is awful to admit, but it is our youth.
Spr2 Mazen
Man muss sich eingestehen, dass man ein bisschen nostalgisch wird bei diesen
Klängen, den Explosionen. Neben der Angst geht davon eine gewisse morbide
Anziehungskraft aus, wie etwa die von diesem Ort, wo man immer in die Ferien hin
14
gefahren ist, und dann zwanzig Jahre lang nicht, und dann fährt man wieder da hin
und riecht, hört oder sieht eine Kleinigkeit und es ist wieder genau wie damals. Es ist
unschön das zuzugeben, aber es ist eben die eigene Jugend.
ATMO Verkehr 2
O-Ton SHARIF 7’03
Mazen got jealous that he cannot prepare the trumpet like I prepare the guitar, but he
found ways, he really thought, and so he found his own strategies and developed his
own preparations
Spr3 Sharif
Mazen war eifersüchtig, dass er seine Trompete nicht so manipulieren konnte wie ich
meine Gitarre, aber er hat viel nachgedacht und dann hat er tatsächlich Wege und
Strategien gefunden, sie auf seine ganz eigene Weise zu präparieren.
O-Ton MAZEN weiter
You are directly in it and you discover in yourself certain reflexes how to live in time
of war, where to sit in the building, what to bring in the house, because there won’t be
anymore, what stays in the house what not, what need electricity or fridge, etc. Small
reflexes you don’ think about in time of peace, if that ever existed in Libanon, I would
always call it in time between two wars, I don’t think there is a proper time of peace.
But so you get those reflexes and you realize that nostalgia and you almost are afraid
to admit it to yourself, it is a difficult fight you have to fight with yourself.
Spr2 Mazen
Man ist plötzlich mittendrin und entdeckt an sich selbst gewisse Reflexe: Wie verhält
man sich im Krieg, wo hält man sich am besten in einem Gebäude auf, was bringt
man mit nach Hause, was lässt man besser draußen, was braucht Strom oder
Kühlung, etc. Kleine Reflexe, über die man in Friedenszeiten nicht nachdenkt, falls es
so etwas im Libanon überhaupt einmal gegeben hat. Ich würde es immer die Zeit
zwischen zwei Kriegen nennen, eine eigentliche Friedenszeit gibt es hier nicht. Aber
man hat diese Reflexe, man realisiert die eigene Nostalgie und kann sie sich selbst
kaum eingestehen. Das ist ein schwieriger Kampf, den man da zu kämpfen hat.
MUSIK Neumann Solo 2
O-Ton NEUMANN 7’50
Die 90er Jahre, was ich so gehört habe, hat bleibenden Einfluss, und dazu gehört
eigentlich auch jemand wie Marc Ribot, New York Downtown oder auch John Zorn
mit seinen „Cobra“, seinen harschen Brüchen oder auch verschiedenen
Ausdrücken…
Spr1 Autorentext
Der dritte Abend. Andrea Neumann spielt ein Solo.
O-Ton NEUMANN weiter
15
…Ich bin auch geprägt von so einer Art Maschinenästhetik, das ist auch so im
Vergleich zum Free Jazz, wo es auch darum geht gestisch oder expressiv auf eine
bestimmte Weise zu spielen, da war dann schon eine Weile lang meine
Herangehensweise, das möglichst nicht zu tun, möglichst statische Klänge zu haben,
die abrupt abbrechen oder reinkommen, Mute-Tasten gehören dazu. Elektronische
Musik hat mich auch beeinflusst.
Spr1 Autorentext
Außerdem zupft der junge Libanese Salim Naffah melancholisch an seiner Gitarre.
MUSIK Salim Naffah
O-Ton MAZEN 12’20
Of course I don’t reject it. I have this kind of nostalgia and somehow I embraced it,
but I know there is this morbidity inside, your brain tells you it is not normal to be
nostalgic on things like that, but of course you cannot force it. After this two nights I
started record news an TV… All the discussions …
Spr2 Mazen
Ich weise das natürlich nicht zurück. Ich habe diese Nostalgie und auf eine Weise
umarme ich sie auch. Aber da steckt auch diese Morbidität drin, dass Hirn sagt
einem, es ist nicht normal, bei solchen Dingen Nostalgie zu empfinden, aber klar,
man kommt nicht dagegen an. Und nach zwei Tagen fing ich an,
Fernsehdiskussionen aufzunehmen, alle Diskussionen…
O-Ton VORFELD
Es gibt so eine gemeinsame Vorstellung, teilweise fast unausgesprochene
Vorstellung von dem, was da passiert, was sich aber nicht in konkreten Absprachen,
im Sinne von wir machen erst 10 Sekunden das, dann eine Minute das, etc, all das
bliebt natürlich völlig auf, es gibt aber schon eine gemeinsame Idee, eine
gemeinsame Vorstellung, die schon wenn man uns drei interviewen würden einzeln,
doch schon zu unterschiedlichen Ansichten führen könnte, aber im Prinzip gibt es
schon unausgesprochene Übereinstimmung oder unausgesprochene Absprachen.
ATMO Frauenstimme
O-Ton MAZEN 13’30
We always talk about what is on TV, there is Rasha, my girl friend, and her brother is
with us and we comment what is happening and most of the time they didn’t know I
was recording. The thing it is funny to realize how much there is nothing else. I mean
there is small things like the lack of beer or hot water, but everything revolves around
the situation. You are in sort of time and space bubble and nothing exists out of this.
Life stops, even your work, everybody, 90 percent of my friends were out of work,
everything is closed. Sometimes they would go to the office just to feel they are going
to…
Spr2 Mazen
16
Wir reden die ganze Zeit über diese Diskussionen im Fernsehen, meine Freundin
Rasha, ihr Bruder und ich, wir kommentieren alles, und meistens wussten sie nicht,
dass ich aufnehmen. Schon witzig, dass es um fast nichts anderes geht. Klar, kleine
Dinge wie, dass es kein Bier gibt oder kein heißes Wasser, aber alles dreht sich um
diese Kriegssituation. Man befindet sich in einer Art Zeit- und Raumblase, nichts
anderes existiert daneben. Das Leben wird eingestellt, die Arbeit, neunzig Prozent
meiner Freunde waren ohne Arbeit, alles war geschlossen. Manchmal gingen sie ins
Büro, nur für dieses Gefühl: Ins Büro zu gehen.
MUSIK Gratkowski
O-Ton SHARIF 11’04
The festival story is:
Mazen initially wanted to organize shows or do festivals, I said you are crazy, people
are going to kill us, no one will understand this music. Summer of 98 I went through
Nickelsdorf, this festival „Konfrontationen“ and during this festival I became obsessed
and really determined to make a festival in Libanon, and I went to Mazen and told
him, okay I have good news for you. And we started in 2001. It took us a few years to
understand how to do it.
Spr3 Sharif
Die Geschichte des Festivals geht so: Ursprünglich wollte Mazen Konzerte oder auch
ein Festival veranstalten, und ich sagte ihm: Die spinnst, die Leute werden uns an die
Gurgel springen, niemand wird unsere Musik verstehen. Im Sommer 1998 ging ich
dann auf das „Konfrontationen“-Festival in Nickelsdorf in Österreich, und von da an
war auch ich besessen von der Idee, ein eigenes Festival im Libanon zu machen.
Danach sagte ich zu Mazen: Gute Neuigkeiten. 2001 fand dann das erste Festival
hier statt. Aber wir brauchten noch ein paar Jahre, um wirklich zu verstehen, wie man
ein Festival macht.
O-Ton MAZEN 14’40
So somehow I consider myself lucky to be able to continue in this situation, to do it
not better but with much more energy than in any other period in my life. It is really an
extremely creative period. It is really, there is a sense of emergency that you cannot
escape. And I am not talking about myself only, some artists around were also
working. I pushed some to work, some other pushed me to work. Some pretty lame
artist also did very bad work.
Spr2 Mazen
Ich schätze mich glücklich, dass ich in dieser Situation weiterarbeiten konnte, nicht
besser, aber mit mehr Energie als in irgendeiner anderen Phase meines Lebens. Da
war wirklich ein Gefühl der Dringlichkeit, dem man sich nicht entziehen konnte. Und
ich rede jetzt nicht nur von mir, da waren auch andere Künstler, die weitergearbeitet
haben. Manche trieb ich zur Arbeit an, andere trieben mich an. Ein paar ziemlich
lahme Künstler machten auch ziemlich mieses Zeug.
MUSIK Beins solo
O-Ton SHARIF 12’30
17
Mazen and I were still trying to develop something, that was really not yet at an
consistent musical level. So it was hard for us to do a got show which was at least
interesting. It took years for the festival to become, what it is today. On one part for
people to start to appreciate this non-mainstream and contemporary ways of doing
music, but also for the lebanese scene to be at a consistent level so that we can
convince people that this is good music.
Spr3 Sharif
Mazen und ich versuchten damals immer noch etwas zu entwickeln, aber es war
noch längst nicht auf einem konsistenten musikalischen Niveau. Es war schwierig für
uns, ein Programm zu entwerfen, das zumindest interessant war. Es hat Jahre
gedauert, bis das Festival wurde, was es heute ist. Auf der einen Seite musste man
ein Publikum gewinnen, dass diese zeitgenössische, alternative Art zu musizieren
schätzte, aber auch die Musiker im Libanon mussten erst einmal ein Niveau
erreichen, das die Leute überzeugte, hier wirklich gute Musik zu hören.
O-Ton NEUMANN:
Es muss lebendig sein. In improvisierter Musik muss nicht die Form einen vom
Hocker hauen, aber die Musik muss so gespielt werden, dass die Klänge einen
ranzoomen, dass man immer wieder gespannt ist.
MUSIK Hout 2
O-Ton MAZEN 15’40
Many friends were trying to occupy themselves. We even went to a recording studio
to record music as a quintet. We never listened back to this music, but we said: Fuck,
we have plenty of free time, let’s do something. That is what I remember from this
time.
Spr2 Mazen
Viele Freunde versuchten sich irgendwie zu beschäftigen. Wir gingen sogar in ein
Aufnahmestudio, um eine Quintett-Aufnahme zu machen. Die haben wir uns nie
wieder angehört, aber wir sagten uns: Scheiße, wir haben einen Haufen Zeit, lass
uns etwas damit anfangen. Dass ist es woran ich mich erinnere.
Spr1 Autorentext
Vormittage in der Stadt:
Müllberge, Ferrarihändler, Schuhputzer, die die Schuhcreme mit den Fingern
verreiben, einem mehrere Blocks hinterherlaufen: He, ich bin aus Syrien, bitte hilf
mir.
ATMO Verkehr 3
Spr1 Autorentext
Fünfjährige Mädchen, die sich an die Djellabas dicker Männer hängen und bettelnd
die Hände aufhalten. Werden sie mit Gewalt abgeschüttelt, hüpfen sie davon, als
wäre all das nur ein Spiel und irre lustig.
O-Ton SHARIF 20’28
18
In general I try to get as much arab presence in the festival as possible, because one
of the missions we set to ourselves very early on was that we are struggling to be
able to accomplish, that we stretch out to the arab world. This is a huge topic.
Spr3 Sharif
Ich versuche so viele arabische Musiker für das Festival zu gewinnen wie möglich,
denn eines unserer Ziele war von Anfang an, die ganze arabische Welt
einzubeziehen. Das ist ein großes Thema, eine große Aufgabe.
O-Ton MAZEN 22’47
This we also asked as kids: How did you manage to live during the war, we lived it as
kids, but did you manage with three kids being artists also. Something I also realize
when I grew up that whiskey is not something like coffee. It is not normal to drink
every night 2,3,4 whiskey in front of the TV, every night. But when I was young, I see
my parents, and Oh, it is like cigarettes and coffee, it is for adult.
Spr2 Mazen
Das also war die Frage an unsere Eltern: Wie habt ihr es geschafft, den Krieg zu
überleben. Wir waren Kinder, aber wie habt ihr es geschafft, als Künstler mit drei
Kindern geschafft? Was ich als Erwachsener erkannte war, dass Whiskey nicht so
etwas ist wie Kaffee. Dass es nicht normal ist jeden Abend zwei, drei, vier Whiskey
vor dem Fernseher zu trinken, jede Nacht. Aber damals sah ich meine Eltern so und
dachte: Ach, das ist wie Zigaretten und Kaffee, das ist für Erwachsene.
ATMO Markt
Spr1 Autorentext
Mit Michael Vorfeld und Michael Thieke auf dem Sou El Ahad, einem riesigen
Freiluftmarkt: Kleider, Elektronik, Handwerkszeug zu Billigpreisen, dass meiste aus
China. Es ist eng und laut und die Ansagen und Anpreisungen kommen in
Endlosschleife vom Band. Geschmackvoll liegt eine tote Ratte in einem Louis
Vuitton-Schuhkarton. Plötzlich entdeckt einer der Händler das Aufnahmegerät mit
dem Mikro, schnappt es sich und wirft es zu einem Kollegen, der wirft es wieder
weiter, ein Riesenspaß, während dem Reporter das Herz in die Hose rutscht.
O-Ton MAZEN 23’20
Or the fact that all the neighbors are very friends and they are always visiting the
neighbors and the neighbors are coming to their place. Society is limited to
neighbors. There is no friends coming, the friends are the neighbors. And it is the
building that becomes the core of society. Because you live in the basement together
when there is bombing. The first cell is family, the second cell is the building.
Spr2 Mazen
Oder die Tatsache, dass man mit allen Nachbarn eng befreundet war und sie
besuchte oder sie ständig zu Besuch kamen. Die Gesellschaft ist im Krieg auf
Nachbarschaft begrenzt. Da kommen keine Freunde, da sind die Nachbarn die
Freunde. Das Haus, in dem man wohnt, wird zum Kern der Gesellschaft. Man lebt
zusammen im Keller, wenn die Bomben fallen. Die erste Zelle ist die Familie, die
zweite das Haus mit seinen Nachbarn.
19
ATMO Markt 2
Spr1 Autorentext
Schließlich landet das Aufnahmegerät wieder in den zitternden Händen des
Reporters. Lachende Verkäufer, fröhlicher Lärm, scheppernder Lautsprecher. Die
Musiker trinken Fanta, kaufen Schallplatten mit Arab-Pop aus den Siebzigern und
bunte Glühbirnen, die sich direkt in die Steckdose stecken lassen - drüben in Europa
längst verboten.
MUSIK Gratkowski 2
O-Ton SHARIF 21’54
It would be a dream that before I die, that there is a musical network, which stretches
from turkey to morocco, all around the mediterranean basin. I am not sure it will
happen, but I try to work in that direction. Today the situation is already better than
ten years ago.
Spr3 Sharif
Mein Traum ist, dass es, bevor ich sterbe, ein musikalisches Netzwerk gibt, das von
der Türkei bis nach Marokko reicht, rundherum ums Mittelmeer. Ich bin mir nicht
sicher, ob das klappen wird, aber ich arbeite daran. Heute ist die Situation auf jeden
Fall schon besser als vor zehn Jahren.
O-Ton MAZEN 24’30
Yes, somehow this 2006 war brought this kind of question back because I was a
father also, my son was 5 years, my first son back then and you can feel it in the
recordings when I talk to his mom with whom we are separated, she lives in the
mountains, that was more safer so I sent him there and he wouldn’t hear the war, he
would hear planes only, not the bombs on Beirut. It was on a remote mountain. But
then I would ask if we should go to Paris, because his mom is french, so we had the
possibility to escape with the french people, but this was driving me crazy, because I
couldn’t escape the situation for many reasons, it is not only stupid stubbornness. Or
pure „bravade“, like I am very strong I will stay. But in a sense being there is being
close - even in Beirut, I refused even to go to the mountain, because you know, being
in the middle of the thing is the only way to know what is happening.
Spr2 Mazen
Ja, 2006 tauchten all diese Fragen wieder auf, ich war jetzt selbst Vater, mein Sohn
war fünf Jahre alt, mein erstes Kind und das hört man auf den Aufnahmen, wenn ich
mit seiner Mutter telefonierte, von der wir getrennt lebten. Sie lebte in den Bergen
und ich schickte ihn zu ihr, damit er sicherer war und den Krieg nicht hörte, er hörte
höchstens die Flugzeuge, aber nicht die Bomben. Das war auf einem abgelegenen
Berg. Aber dann fragte ich mich, ob wir nach Paris gehen sollten, denn seine Mutter
ist Französin und wir hätten mit allen anderen Franzosen das Land verlassen
können. Aber diese Frage machte mich verrückt, weil ich ich aus vielen Gründen
nicht ausreisen wollte, das war nicht bloß Sturköpfigkeit, oder gar Wagemut. Aber ich
musste nahe dran bleiben, konnte nicht einmal in die Berge gehen, denn, weißt du,
mittendrin zu sein ist der einzige Weg zu sehen, was wirklich passiert.
20
MUSIK Tony Trio 1
O-Ton MAZEN weiter
Being far and seeing TV, we know from friends, they call you from Canada saying:
We saw this on TV, they say All Dead, you say: No, it was two neighborhoods away.
For you it is normal, because you are living it and you understand the energy, what is
happening, everything. When you go out you freak out, you are afraid much more
you have nothing to grasp. This is why I wouldn’t leave.
Spr2 Mazen
Weit entfernt zu leben und alles nur im Fernsehen zu sehen, das kannte wir von
Freunden, die riefen aus Kanada an und sagten: Wir haben dies und das im
Fernsehen gesehen und es heißt, alle seien tot. Man selbst sagt dann: Nein, nein,
das war zwei Blocks entfernt. Für einen selbst ist das normal, man lebt damit und
man versteht, warum manche Dinge geschehen, warum alles so ist, wie es ist. Wenn
man da abhaut, hat man keinen Bezug mehr und dreht vor Angst schließlich völlig
durch. Darum wollte ich bleiben.
ATMO Verkehr 4
Spr1 Autorentext
Der letzte Tag. Besuch beim zentralen Busbahnhof. Er liegt unter einer
Autobahnbrücke. Es ist dunkel, laut und schmutzig. Von hier aus fahren auch Busse
nach Rakka, der Hauptstadt des IS. Rückfahrkarten gibt es nicht.
O-Ton MAZEN 30’45
I always hated the country, the love and hate relationship with Beirut is typical, and I
have it and I work a lot on it in my work, and I hate the country and I want to leave it
but not under these condition, not when someone is obliging me by doing a war on
the country. This is when I become stubborn: No, fuck you, I am not leaving. I want to
leave but not today. Stop the war, then I will see if I leave or not. Somehow I become
really stupid, it is like when: You can say a lot about your mom in front of your friends,
but if one of your friends says something bad about your mom you kill him.
Spr2 Mazen
Ich habe das Land immer gehasst. Diese Hassliebe zu Beirut ist typisch, und ich
fühle die auch und sie hat auch Einfluss auf meine Arbeit. Ich hasste dieses Land
und wollte es verlassen, aber eben nicht unter dieser Bedingung, nicht wenn mich
jemand dazu zwingt, indem er Krieg führt gegen dieses Land. Da wurde ich wirklich
sturköpfig: Nein, zum Teufel, ich gehe nicht. Es war wie wenn du deinen Freunden
eine Menge unschöner Dinge über deine Mutter sagst, aber wenn dann einer deiner
Freunde etwas Unfreundliches über sie sagt, machst du ihn fertig.
MUSIK Ute Cookbook
Spr1 Autorentext
21
Das erste Konzert des letzten Tages findet schon zur Mittagszeit statt: Ute
Wassermann singt von Raed Yassin komponierte Kochrezepte.
O-Ton MAZEN 31’55
And also we feel as a big betrayal to leave. It is strange thing that your mind has to
manage, the fact of leaving. Your friends, your family are there, 2,3 million lebanese
are there, that makes it really difficult to do. When we were kids some friends would
go to Paris when the bombing would begin. They would make a year in Paris or in
Cyprus and come back. And when they come back we would insult them, Yeah, you
left the country and we were here, we were fighting, we were under the bombs.
Spr2 Mazen
Wir hätten es auch als Betrug empfunden, das Land zu verlassen. diesen Gedanken
muss dein Hirn erst einmal hinbekommen. Deine Freunde sind da, deine Familie ist
da, zwei, drei Millionen Libanesen sind da, da ist es wirklich schwierig, zu gehen. Als
wir Kinder waren, gingen manche Freunde nach Paris. Sie blieben ein Jahr in Paris
oder auf Zypern und kamen dann zurück. Da beschimpften wir sie, hey, ihr seid
geflohen und wir sind hiergeblieben, haben gekämpft, haben unter den Bomben
gelebt.
MUSIK Tony Trio 2
Spr1 Autorentext
Abends spielt der Beiruter Bassist Tony Elieh ein Solo. Danach setzt ein ebenfalls
libanesisches Duo Buzuq und Daholla unter Strom, und ein Italiener schlägt eine
halbe Stunde lang nichts als eine große Trommel.
O-Ton MAZEN2
They felt like traitors, and we made them feel like traitors, like Hey you fucking sissy,
you left and we were here. And when I grew up I had to admit to that friends that we
were very jealous and that I would have loved that my parents had enough money to
take me out, to Paris. But this is typical for the lebanese mentality, leaving others
behind makes you feel bad and almost as guilty as the one throwing the bombs by
fleeing the country.
Spr2 Mazen
Sie fühlten sich wie Verräter und wir sorgten dafür, dass sie sich wie Verräter fühlten.
Aber als ich erwachsen wurde, musste ich ihnen gegenüber zugeben, dass wir
eifersüchtig waren und gerne so viel Geld gehabt hätten, um nach Paris zu gehen.
Das ist typisch für die libanesische Mentalität, dass man sich, wenn man flieht,
ebenso schuldig fühlt wie die, die eigentlich die Bomben abwarfen.
MUSIK Senyawa
Spr1 Autorentext
Schließlich, das Highlight, der Hauptact des Abends: Senyawa, zwei Indonesier, der
eine mit einem selbstgebauten, phallusartigen, sicherlich auch als Waffe
einsetzbarem Saiteninstrument, der andere mit einer Stimme, die ungeheuer lieblich
22
klingen kann, dann aber auch so brutal, dass selbst Sumatra-Tiger vor Schreck
zusammenzucken würden.
O-Ton MAZEN2 2’02:
There is something I remember talking with friends with Email or on the phone back
then, I remember I with musicians if I am not wrong I have even an emailcorrespondence with Axel Dörner from Berlin who was a friend already back then,
where I tell him what is driving me crazy when I play with this bombs going down, I
am asking myself: Is it a good piece of music, what I recorded, did I play well or not.
Spr2 Mazen
Ich erinnere mich an eine Sache. Wenn ich damals mit Freunden sprach, am Telefon
oder wenn ich Emails schrieb, ich erinnere mich speziell an eine Mail an den
Trompeter Axel Dörner aus Berlin, da schrieb ich ihm, dass mich eine Sache verrückt
macht wenn ich spiele, während die Bomben runtergehen: Ich fragte mich da immer:
ist das gut, was ich hier spiele, habe ich jetzt gute Musik aufgenommen oder nicht?
MUSIK geht über in ATMO Nighlife 2
Spr1 Autorentext
Das Publikum tanzt ekstatisch. Nach dem Konzert, um zwei Uhr in der Nacht, sind
die Straßen im Viertel Mar Mikhael noch voller feiernder Menschen. Im Süden der
Stadt, im Reich der Hisbollah, sind schon längst die Lichter aus. In den
Flüchtlingslagern an der syrischen Grenze, kaum eine Stunde Autofahrt entfernt, gibt
es nicht einmal Licht. Extreme Gegensätze. Extremes Land.
ATMO geht über in ATMO Trompete und Bomben
O-Ton MAZEN weiter
…Just the fact that my brain is asking that question would drive me crazy like fucking
people died for real under this bomb and there is all the situation and there is my
brain still trying to understand if it is a good drawing or a good piece of music. And of
course fortunately it does, because that is what I have to do. I want to do a good
piece of music, I don’t just want to give testimony.
Spr2 Mazen
Allein die Tatsache, dass mein Hirn sich diese Frage stellt, während Leute unter
diesen Bomben sterben, machte mich verrückt. Dass es immer noch wissen will, ist
das eine gute Zeichnung, ist das gute Musik. Aber natürlich ist es gut, dass es das
fragt, denn das ist das, was ich tun muss. Denn ich will gute Musik spielen, ich will
nicht einfach nur Zeugnis ablegen.
MUSIK Mundharmonika
O-Ton MAZEN2 3’25
You also feel like a traitor, you feel guilty to think about your fucking piece of music
while people are dying. An interviewer from BBC called me back then in the middle of
this shit and he says: Don’t you think it is of bad taste to play music while people are
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dying under the bombs? I said: First of all it is bad taste to throw the bombs on
people. Second: Maybe you can leave your living room in London and come and we
discuss taste in Beirut around a coffee. Because when he asked me that I want to kill
the guy but when I ask myself it is valid. The answer of course is Yes. The bombs are
falling anyway.
Spr2 Mazen
Man fühlt sich auch als Verräter, man fühlt sich schuldig, wenn man über seine
beschissene Musik nachdenkt, während Leute sterben. Damals, mitten im Krieg, rief
mich dieser Mensch von den BBC an und sagte: Meinen Sie nicht, dass das von
schlechtem Geschmack zeugt, Musik zu machen, während Menschen durch Bomben
getötet werden. Ich sagte: Erst einmal zeugt es von schlechtem Geschmack,
Bomben auf Leute zu werden. Und zweitens. Vielleicht verlassen sie mal ihr
Londoner Wohnzimmer und kommen hierher und wir diskutieren die Frage hier bei
einer guten Tasse Kaffee. Als er mich das fragte, wollte ich ihn natürlich umbringen.
Aber ich fragte mich auch: hat das, was ich hier mache, einen Wert. Und die Antwort
lautet: ja. Die Bomben fallen so oder so.
MUSIK Salim Naffah 2
MAZEN2 4’36
In a sense I am very happy I did this, and as a conclusion to what I started by saying:
Is it possible to work, yes, it is possible, I am happy that this thing exists…but in the
same time also, because back then many people and many journalists said: He is
resisting in his own way, and it is art against war - all this is bullshit. In the war
between art and war I bet all my money on the war, I won’t even bet one cent on the
art. I don’t have this idealist towards art. I think art can - maximum - safe the sanity of
its creator and it doesn’t go further and I am not even sure of this. I think it can make
him also more insane. But, yeah, one has to do it. At least, I had to do it, and I am
very happy I had this mini-discs.
Spr2 Mazen
Auf eine Weise bin ich sehr glücklich, dass ich diese Aufnahmen gemacht habe, und
als Antwort auf die Frage zu Anfang: Ja, es ist möglich zu arbeiten, und ich bin froh,
dass es sie gibt … aber gleichzeitig… damals sagte viele Leute und auch viele
Journalisten: Er leistet auf seine Art Widerstand, es ist die Kunst gegen den Krieg. All
das ist Bullshit. In einem Krieg zwischen Kunst und Krieg würde ich all mein Geld auf
dem Krieg setzen, nicht einen Cent auf die Kunst. Ich bin da wenig idealistisch. Ich
glaube, das Kunst höchstens die seelische Gesundheit seines Schöpfers retten
kann, ehr nicht, und vielleicht nicht einmal das. Sie kann ihn auch noch kaputter
machen. Aber trotzdem, man muss es tun, ich wenigstens musste es tun, und ich bin
sehr froh, dass ich diese Mini-Disks hatte!
Absage
24