Stellungnahme der Bundesarbeiterkammer vom 3. Oktober 2016

Bundesministerium für Inneres
Sektion III - Recht
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1010 Wien
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Bearbeiter/in
BMI-
AMI-GStBAK-wi Johannes Peyrl
Tel
501 65 Fax 501 65 Datum
DW 2687 DW 42474 03.10.2016
LR1330/0013III/1/c/2016
Asylwesen – Verordnung der Bundesregierung zur Feststellung der Gefährdung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der
inneren Sicherheit
1. Inhalt und Analyse des Entwurfes
Seit Mai 2016 ist im Asylgesetz die Möglichkeit verankert, bei Vorliegen einer Gefährdung
der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sowie des Schutzes der inneren Sicherheit
weite Teile des Asylverfahrens außer Kraft zu setzen. In den meisten Fällen hat dies zur
Folge, dass ohne inhaltliche Prüfung der Asylanträge den Schutzsuchenden die Einreise
verweigert wird. Ungeprüft bleibt dann auch, ob diese in anderen Staaten ein faires Asylverfahren erhalten können.
In der gegenständlichen Verordnung – die inhaltlich nur aus einer Bestimmung besteht –
erklärt die Bundesregierung, dass ein solcher Notstand vorliege, dass also ab dem Inkrafttreten der Verordnung die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sowie der Schutz der
inneren Sicherheit in Österreich als gefährdet anzunehmen sei.
In den Erläuterungen (EB) werden Probleme in folgenden Bereichen angeführt, denen zufolge in Österreich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren
Sicherheit ernsthaft gefährdet seien:
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Asylwesen.
Gesundheitsbereich.
Bildungsbereich.
Arbeitsmarkt.
Staatshaushalt.
Sicherheits- und Strafvollzug.
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Eine Problemanalyse dieser Bereiche ergibt folgendes Bild:
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Asylwesen: Der Zustrom von 89.000 AsylwerberInnen 2015 hat die Asylbehörden
zweifellos überfordert. Durch das starke Engagement der Zivilgesellschaft, der mittlerweile erfolgten Einstellung des Asylwesens auf die gestiegenen Herausforderungen, die auf EU-Ebene erfolgte Eindämmung der Asylzuwanderung und der Schaffung eines Durchgriffsrechts des Bundes zur Beistellung von Asylquartieren wurde
die Situation aber wesentlich entschärft. Sie ist mit jener des Jahres 2015 nicht mehr
vergleichbar.
Gesundheitsbereich: Der Entwurf verweist in den EB auf die durch die Flüchtlinge
verursachten Zusatzkosten von acht Mio Euro für 2016. Das ist zweifellos nicht unbeachtlich, stellt aber mit einem Anteil von 0,03% der Gesamtkosten von 27 Mrd Euro keinen Finanzierungsnotstand dar.
Bildungsbereich: Im Pflichtschulbereich beträgt der Anteil schutzsuchender Kinder
nunmehr 2 %, im Bereich von AHS/BHS sind es 0,6%. Das sind keine vernachlässigbaren Größen, weil zu bedenken ist, dass keine gleichmäßige Verteilung der
SchülerInnen gegeben und daher die Konzentration in bestimmten Schulen eine
höhere ist. Dennoch werden durch diese Größenordnungen die bekannten Probleme im Bildungsbereich weder ausgelöst noch unlösbar.
Arbeitsmarkt: Die Situation auf dem österreichischen Arbeitsmarkt ist sehr angespannt und hat mit 5,7% (Eurostat) 2015 einen Höchststand in der zweiten Republik
erreicht. Allen Prognosen zufolge wird die Arbeitslosigkeit auch im kommenden Jahr
weiter ansteigen. Die wesentlichen Ursachen dieser Problemlage stehen allerdings
unzweifelhaft nicht mit der Flüchtlingssituation in Zusammenhang sondern – wie von
den Wirtschaftsforschungsinstituten einhellig festgestellt wird – mit der anhaltenden
Wachstumsschwäche als Folge der immer noch unbewältigten Finanzkrise
2008/2009 und dem Überangebot an Arbeitskräften, bedingt vor allem durch die
Zuwanderung aus den neuen EU-Staaten. Auch die Anhebung des Pensionsantrittsalters und die erfreuliche Steigerung der Frauenbeschäftigungsquote spielen eine relevante Rolle. Dass auch 27.000 AsylwerberInnen als arbeitsuchend vorgemerkt sind (August 2016), verschärft die Problemlage zwar, stellt jedoch im Gesamtkontext nur einen Mosaikbaustein der Problemlage dar.
Staatshaushalt: Laut Strategiebericht der Bundesregierung wird das geplante
strukturelle Defizit für das Jahr 2016 – 0,4% exklusive der Flüchtlingskosten und –
0,9% inklusive der Flüchtlingskosten betragen und somit regelkonform sein. Nicht
beachtet ist dabei noch, dass die Ausgaben im Asylbereich (2016: zwei Mrd Euro)
stark konjunkturwirksam sind. Laut Österreichischer Nationalbank werden sie das
BIP für 2016 um 0,3 Prozentpunkte und bis 2017 um 0,7 Prozentpunkte erhöhen.
Dadurch und durch den Rückfluss von Steuern wird ein relevanter Teil der Kosten
gegenfinanziert. Laut Berechnung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung finanzieren sich in Deutschland solcherart die Ausgaben um bis zu 50
Prozent von selbst.
Sicherheit und Strafvollzug: Laut vorgelegten Zahlen steigt derzeit die Zahl der
Tatverdächtigen mit dem Merkmal „AsylwerberInnen“ an, was allerdings nicht losgelöst von der erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber gerade dieser Gruppe gesehen
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werden kann. Gleichzeitig ist die Gesamtkriminalität zwischen 2006 und 2015 deutlich gesunken (von 588.000 Anzeigen auf 518.000 Anzeigen), sodass von einer aktuell erhöhten Gefährdung der Sicherheit nicht gesprochen werden kann.
2. Zusammenfassende Einschätzung:
Es ist offenkundig, dass ein erneut hoher Zustrom wie im Jahr 2015 für den Staat Österreich
und seine Bevölkerung eine große Herausforderung oder auch Überforderung darstellen
würde. Es ist auch nicht der Fall auszuschließen, dass Zuwanderung aus Fluchtgründen ein
solches Ausmaß erreichen kann, dass Änderungen im Asylverfahren notwendig werden.
Die aktuelle Problemlage in den im Entwurf genannten Bereichen Asylwesen, Gesundheit,
Bildung, Arbeitsmarkt und Sicherheit ist zwar äußerst herausfordernd, die Analyse zeigt jedoch dass sie , abgesehen vom Asylwesen, nicht durch die Fluchtzuwanderung verursacht
ist und auch nicht das Ausrufen eines Notstands rechtfertigt.
Die Bundesarbeitskammer verkennt nicht, dass angesichts dieser Fluchtbewegungen in der
Bevölkerung berechtigte Sorgen und Ängste auftreten, ob und wie diese Herausforderungen
bewältigt werden können. Diese Ängste und Unsicherheiten durch eine überzeichnete Einschätzung der Problemstellung noch weiter zu schüren, erschwert aus Sicht der Bundesarbeitskammer jedoch das Zustandekommen tragfähiger Lösungen. Aus Sicht der Bundesarbeitskammer sind aktuell jedenfalls trotz der schwierigen Problemlage weder die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung noch der Schutz der inneren Sicherheit ernsthaft gefährdet,
sodass das Erlassen der geplanten Verordnung derzeit als unverhältnismäßig erscheint.
3. Rechtliche Beurteilung des Verordnungsentwurfes : Europarechtliche Bedeutung des Begriffs „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ und des
„Schutzes der inneren Sicherheit“
Grundlage der §§ 36ff AsylG sowie auch des gegenständlichen Verordnungsentwurfs ist Art
72 AEUV, in dem es heißt, dass die Bestimmungen über die gemeinsame Migrations- und
Asylpolitik nicht die „Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit berühren“ würden. Daraus wird seitens des Gesetzgebers abgeleitet, dass in Fällen, in denen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit gefährdet bzw nicht mehr möglich ist,
die Mitgliedstaaten das Recht haben, einseitig EU-Sekundärrecht (insbesondere die EUAsylverfahrensRL) nicht mehr anzuwenden.
Der Regelungsumfang dieses Art 72 AEUV ist in der Literatur umstritten, jedenfalls aber ist
das Abstellen auf die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit nur unter außergewöhnlichen Umständen und mit stichhaltiger Begründung zulässig: Der EuGH verlangt für die
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche
Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Ferner umfasst der Schutz der inneren Sicherheit die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und
seiner wichtigen öffentlichen Dienste.
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Die Bundesarbeitskammer ist der Ansicht, dass aktuell kein „Notstand“ in diesem Sinne vorliegt, der eine rechtlich ausreichende Begründung für das Erlassen einer derartigen Verordnung darstellen könnte.
4. Vorschlag für ein nachhaltiges Gesamtpaket
Aus integrations-, bildungs- und arbeitsmarktpolitischer Sicht ist jedenfalls zu gewährleisten,
dass die Asylanträge so rasch wie nur möglich bearbeitet werden.
Die Sozialpartner haben dazu der Bundesregierung Vorschläge vorgelegt und auch in ihrer
Erklärung von Bad Ischl 2016 diese Vorschläge erneuert und weitere Maßnahmen angeregt.
Diese Vorschläge umfassen ua:

Bessere Prozesse zur raschen und guten Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt.
 Bereits bei Beginn der Grundversorgung ist auf eine sinnvolle räumliche
Verteilung entsprechend der Möglichkeiten am Arbeitsmarkt zu sorgen.
 Eine rasche Arbeitsmarktintegration setzt eine Straffung aller Verfahrensschritte ab der Registrierung voraus und erfordert die möglichst frühzeitige
Kooperation insbesondere zwischen Bundesministerium für Inneres, Ländern, Gemeinden, Arbeitsmarktservice und NGOs ab der Registrierung als
potenzielle AsylwerberInnen.

Qualifikationen und Kompetenzen
 Durchführung von Qualifikations- und Kompetenzerhebung und Einbeziehung in professionelle Deutschkurse für AsylwerberInnen mit hoher Bleibewahrscheinlichkeit sowie laufende Qualitätssicherung der angebotenen
Deutschkurse (Differenzierung nach Sprachniveau, Koppelung mit beruflich-fachlichen Ausbildungen, Erfolgskontrolle).
 Bestmögliches Ausschöpfen des Potenzials der mitgebrachten Qualifikationen auf dem heimischen Arbeitsmarkt, Anerkennen von im Ausland erworbenen beruflichen Qualifikationen und, wenn erforderlich, deren Anpassung
an die Erfordernisse des österreichischen Arbeitsmarktes.
 Anerkennung und Validierung der Kompetenzen von AsylwerberInnen mit
hoher Anerkennungswahrscheinlichkeit.

Zugang zum Arbeitsmarkt
 Zugang zum Arbeitsmarkt für AsylwerberInnen ab dem sechsten Monat
nach Antragstellung auf Asyl mit Ersatzkraftstellung (Arbeitsmarktprüfung).
 Öffnung des Dienstleistungsschecks für AsylwerberInnen.
 Bereitstellung der Ressourcen für eine Early-Intervention-Politik für Flüchtlinge.
 Ermöglichen einer anrechnungsfreien Zuverdienstmöglichkeit in der Grundversorgung bis zur monatlichen Geringfügigkeitsgrenze.
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
Zugang zu Lehrstellen
 Zugang zu Lehrstellen in allen Berufen für jugendliche AsylwerberInnen mit
hoher Anerkennungswahrscheinlichkeit ab dem 15. Lebensjahr, Ausweitung
der Ausbildung bis 18 auf diese Personengruppe.
 Sinnvoll und notwendig ist in vielen Fällen auch eine Begleitung der Lehrlinge. Dazu soll auch das Lehrlingscoaching - wie auch bereits in Pilotprojekten zur über-regionalen und regionalen Lehrstellenvermittlung angewandt eine wichtige Schnittstellen- und Betreuungsfunktion vor Ort einnehmen. Die
Betreuungssysteme der Länder sollen sich eng mit dem Lehrlingscoaching
abstimmen.

Sprachförderung
 Sprachförderung soll beginnend im Kindergarten über alle Schulstufen sowohl integrativ als auch additiv (je nach Bedarfsfall) und schulautonom erfolgen.

Anerkennung von Qualifikationen und Validierung von Kompetenzen
 Es ist möglichst rasch ein umfassendes und bundeseinheitliches System der
Validierung von informell bzw. non-formal erworbenen arbeitsmarktbezogenen Kompetenzen zu entwickeln und einzusetzen.
 Die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen von MigrantInnen gehört zum Kernbereich bildungs- und arbeitsmarktpolitischer Integrationsmaßnahen. Deshalb soll Menschen mit ausländischen Qualifikationen
und Berufsabschlüssen die Anerkennung ihrer Zertifikate möglichst rasch,
einfach und kostengünstig ermöglicht werden.

Erreichen von Bildungszielen
 Insgesamt muss sich die Zeit, die man im Pflichtschulwesen verbringt, an
den erreichten Bildungszielen orientieren und nicht am bloßen Absitzen von
Schuljahren („Bildungs- und Schulstufenpflicht statt Schulpflicht“).

Bekämpfung der Fluchtursachen an der Quelle
 Die EU muss durch eine gemeinsame und zielgerichtete Außenpolitik zur
Befriedung der Situation in den Herkunftsländern beitragen und durch einen
fairen Handels- und Wirtschaftsaustausch, sowie durch eine engagiertere
Entwicklungspolitik, die ökonomische und soziale Stabilisierung dieser Länder unterstützen.

Ausbau der gemeinsamen Asylpolitik
 Für Asylgewährung, Asylverfahren sowie Versorgung und Unterbringung der
AsylwerberInnen bzw. Flüchtlinge muss es EU-weit garantierte, einheitliche
Standards und Kriterien geben. Dabei sind die Sozialpartner einzubeziehen.
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
Bereitstellung finanzieller Mittel auf EU-Ebene
 Die Aufnahme und Integration von AsylwerberInnen bzw. Flüchtlingen in den
Mitgliedstaaten muss auch in höherem Ausmaß durch Mittel des EUBudgets unterstützt werden. Jene Mitgliedstaaten, die mehr Flüchtlinge aufnehmen als durch das Verteilungssystem vorgesehen, sollen durch zusätzliche Fördermittel unterstützt werden.
Die Bundesarbeitskammer ersucht abschließend um Berücksichtigung ihrer Stellungnahme.
Rudi Kaske
Präsident
F.d.R.d.A.
Alice Kundtner
iV des Direktors
F.d.R.d.A.