Eine komplexe Herausforderung

Flechten im Klimawandel:
Eine komplexe Herausforderung
Naturschutz
S
eit Beginn der Industriealisierung war ein dramatischer
Artenrückgang wegen der
Luftverschmutzung zu verzeichnen,
bis hin zu sogenannten Flechtenwüsten, in denen nur noch extrem
SO2-resistente Flechten überlebten.
Maßnahmen zur Schadstoffreduzierung führten schließlich wieder zu
einer Verbesserung der Luftqualität
und zur Wiederbesiedlung durch
Flechten. Gleichzeitig ist die Staubige
Kuchenflechte (Lecanora conizaeoides), die lange Zeit das Bild an den
Baumstämmen in Saarbrücken oder
Völklingen als einzige Art bestimmte,
extrem selten geworden. Diese und
weitere Arten leiden nicht unter der
sauberen Luft, sondern unter der
Kombination der neuen Einflüsse,
der Eutrophierung im Sinne einer
Überdüngung und der Erwärmung.
K
limaveränderungen und Klimafluktuationen konfrontieren
uns dabei keineswegs mit einem
neuartigen Phänomen. Die Veränderung der Flechtenvegetation in
sogenannten Reinluftgebieten legen
davon Zeugnis ab. Vermehrt werden
in jüngerer Zeit alpine Arten wie die
Rußige Nabelflechte (Umbilicaria
deusta) bis in die planare Höhenstufe beobachtet. Erklärbar ist das
Auftreten solcher Arten durch ihre
Anpassung an schnellen Wechsel
zwischen Feuchtigkeit und extremer
Trockenheit. Historische Angaben
zum Vorkommen alpiner Arten im
Gebiet wurden gelegentlich angezweifelt. Jetzt kehren manche Arten
zurück.
Z
weifellos ist auch die Verbesserung der Luftqualität Bedingung
dafür, dass empfindliche Arten zurückkehren, oder gar neu einwandern. Selbst in ehemals extrem belasteten Gegenden wie in Völklingen
wurden jüngst Arten nachgewiesen,
deren Überlebenschance man hier
früher für ausgeschlossen gehalten
hätte. Die Raue Schüsselflechte
(Melanohalea exasperata) galt 1996
nach der Roten Liste der Flechten
in Deutschland noch als direkt vom
Aussterben bedroht. Heute muss
sie im Saarland als ungefährdet
eingestuft werden. Wie diese sind
viele der neu eingewanderten Arten
im Mittelmeergebiet beheimatet
und dort häufig und weit verbreitet.
Andere weiten lokal ihr Areal aus (z.
B. Flavoparmelia caperata, Parmotrema perlatum). Auf den Rückgang
der SO2-Immissionen ist auch das
zunehmende Wachstum diverser
Flechten auf Eisen zurückzuführen.
Foto: Dr. Volker John
Komplex ist die Beschäftigung mit Flechten allein schon auf Grund ihrer Anatomie, Morphologie, Chemie und Physiologie. Seit einigen Jahren kommen noch ihre molekulargenetischen
Eigenheiten hinzu. Damit nicht genug. Als Bioindikatoren sind die Flechten zwar seit 150
Jahren bekannt, doch die aktuelle Dynamik, mit der einige Flechtenarten und ganze Flechtengesellschaften auf die Veränderungen ihrer Umwelt reagieren, ist nicht mehr auf einen
einzigen Faktor zurückzuführen, wie es Jahrzehnte lang unter dem Einfluss von Schwefeldioxid als Leitgas möglich war.
E
on dem Wandel der Artenzusammensetzung ist auch ein
Rückgang sehr häufiger bis extrem
seltener Arten betroffen. Das Isländische Moos (Cetraria islandica) ist
im Saarland ausgestorben. Bemerkenswert ist, dass die Röhrige Blasenflechte (Hypogymnia tubulosa)
etwa in gleichem Maße zunimmt, wie
die Gewöhnliche Blasenflechte (Hypogymnia physodes) seltener wird.
inige wärmeliebende Arten wie
Mehlige Schüsselflechte (Flavoparmelia soredians) und die Sternenhimmel-Punktflechte (Punctelia borreri) waren früher aus Deutschland
nicht bekannt. Ihre Arealgrenze verschiebt sich wie auch die Verdrehte
Schüsselflechte (Parmelia submontana) nach Norden. Ein solcher Gradient des vermehrten Auftretens der
wärmeliebenden Klimawandelzeiger
im südlichen Landesteil gegenüber
dem Hochwald lässt sich selbst im
Saarland beobachten.
E
B
V
in Dilemma bei der Suche nach
den Ursachen für das Auftreten
und Verschwinden bestimmter Flechten ergibt sich aus der Beobachtung,
dass Stickstoffverbindungen und
Klimaveränderung gleichzeitig auftreten und die betroffenen Flechten
gleichzeitig eutrophierungstolerant
und wärmeeliebend sind. Für die
Wirkung von Stickstoff spricht das
massenhafte Auftreten von Trentephlia-Arten, rötlichbrauner Luftalgen,
und fadenförmiger Grünalgen sowie
die Massenentfaltung der extrem
stickstofftoleranten Wand-Gelbflechte (Xanthoria parietina) oder
der Kreisförmigen Schwielenflechte
(Phaeophyscia orbicularis). Da sich
stickstofftolerante und Stickstoff
meidender Arten in gleichem Maße
ausbreiten, kann die Eutrophierung
nicht alleinige Ursache für die Veränderung sein.
eim Vergleich der ökologischen
Ansprüche der in Veränderung
begriffenen Flechten hat sich herausgestellt, dass neben Stickstoff und
Wärme auch die Sonneneinstrahlung
eine besondere Wirkung auf die
Flechten hat. Im Zusammenhang
mit der Klimaverschiebung stellt sich
der Lichtfaktor als entscheidender
heraus als die Temperatur.
W
as können wir in Zukunft tun?
Die Entwicklung der Flechten
beobachten und dokumentieren,
beispielsweise in Baumkronen, sowie
Fortschreibung und Erstellung von
Arteninventaren. Offizielle Anleitungen auf nationaler und internationaler Ebene sind verfügbar. Nur eins
ist nicht erforderlich: die Flechten
zu entfernen, weder von Bäumen,
noch von Steinen!
Dr. Volker John
Umweltmagazin Saar 2/2016
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