Arbeitsinklusion, Nachrichten des "Humanus Haus"

Inklusionsprojekt
Provisorium 46 – Innovatives Gastronomie-Pilotprojekt
Gespannt verfolgen die Gäste das EM-Spiel.
Ins Zentrum rücken, Selbstbewusstsein fördern, Fähigkeiten erweitern, Wahlmöglichkeiten im Arbeits-, Freizeit- und Wohnbereich
schaffen: Junge Menschen mit Behinderung
sollen durch ein ganzheitliches Projekt der
Förderorganisation Blindspot die Möglichkeit erhalten, selbstbestimmt an der Gesellschaft Teil zu haben. Eine Partnerschaft
zwischen Blindspot und dem Humanushaus
ermöglichte den Einsatz von Philomena und
Stefan in der Testphase des innovativen
Inklusionsprojektes.
Junge Menschen stehen bis auf die
Strasse in Grüppchen zusammen, halten
Getränke oder ein Spiesschen in der Hand,
einige von ihnen sitzen auf Stühlen, welche
sie von zu Hause mitgebracht haben, da auch
die letzte Sitzgelegenheit vergeben ist. Passanten und Quartierbewohner werfen neugierige
Blicke auf die handgezimmerte und mit bunten Lichterketten dekorierte Aussenbar und
die aufgestellten Bildschirme. Die Stimmung
an diesem lauen Sommerabend mitten im
Berner Studenten- und Trendquartier Länggasse ist festlich und entspannt. Auf einem
beleuchteten Schild steht der Namen des
Gastronomie-Betriebes: Provisorium 46.
Die fehlenden Chancen bergen verschiedene
Problematiken. Sie stehen im Widerspruch
zur UNO-Behindertenrechtskonvention, welche 2014 von der Schweiz ratifiziert wurde.
Unter anderem, weil diesen Menschen das
Recht auf Selbstbestimmung und Selbstentfaltung genommen wird.
Dabei bewies die Testphase eben das,
was Blindspot bereits in anderen Inklusionsprojekten erlebt hat: Inklusion ist ein Mehrwert für alle Beteiligten. Die Mitarbeitenden
mit Behinderung schätzten es, Teil eines lebhaften Teams mit und ohne Behinderung zu
sein und ihre Arbeits- und Sozialkompetenzen
zu erweitern.
Die Teammitglieder ohne Behinderung
waren begeistert über die gegenseitig entstehende Empathie und den Zusammenhalt,
welche direkt auf die Vielfalt innerhalb des
Teams zurückgeführt wurde. Und die Wirkung der positiven Stimmung innerhalb des
Teams zeigte sich auch gegen aussen: Viele
Gäste unterstrichen die auffallende Lockerheit und Freundlichkeit aller Mitarbeitenden.
Vielfalt wird mit Offenheit verbunden
Hinter der Bar frittiert die 25-jährige
Philomena selbst gemachte Pommes-Frites:
«Ich arbeite sehr gerne hier, denn im Provisorium 46 bin ich unter vielen anderen
Leuten». Während der sechswöchigen Testphase, welche während der Fussball-Europameisterschaft im Juni / Juli 2016 stattfindet,
ist sie Teil eines 12-köpfigen professionellen
Gastronomieteams, drei davon mit einer Behinderung.
Ein funktionierendes Team, wo sich
Menschen mit und ohne Behinderung auf
Augenhöhe begegnen und gegenseitig voneinander lernen? Dies gibt es in der Schweiz
fast nirgends – Menschen mit Behinderung
haben noch wenig Zugang zu öffentlichen,
attraktiven Arbeitsmöglichkeiten.
Reger Betrieb an der Provisorium-Bar.
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Testen von Theorien und Ansätzen
Ziel des Pilotprojektes war es unter anderem, Hypothesen und Verfahren in der Arbeitsinklusion sowie Resultate aus ersten
Umfragen zu überprüfen.
Die Arbeitsinklusion hatte nach gewissen Missverständnis-Situationen und ersten
individuellen Anpassungen überraschende
Effekte und konnte erfolgreich realisiert
werden. «Eine Herausforderung ist dabei
aber immer die Gratwanderung bezüglich
Begleitung der Mitarbeitenden mit Behinderung: wie viel ist nötig, wie wenig ist möglich, damit es zu einer Förderung und nicht
zu einer Überforderung kommt?» bemerkt
Jonas Staub, Geschäftsleiter von Blindspot
und Projektleiter. Anja Reichenbach, agogische Mitarbeiterin mit Sehbehinderung, welche ebenfalls im Gastrobetrieb mitarbeitete,
ergänzt: «Weiterentwicklungsmöglichkeiten
zeigten sich natürlich auf verschiedenen Ebenen, wie zum Beispiel bezüglich strukturierten Arbeitsabläufen, welche für die meisten
Mitarbeitenden mit Behinderung nötig und
für Mitarbeitende ohne Behinderung oftmals
eine Herausforderung sind. Die Testphase
war auf jeden Fall sehr wertvoll und wir sind
auf dem richtigen Weg».
Das Projekt und die Trägerschaft
Nur wenn die Themen Behinderung und
Inklusion sichtbar und ungezwungen erlebbar sind, wird es von einer breiten Bevölkerung als selbstverständlicher Teil der
Gesellschaft wahrgenommen. Gleichzeitig
wird das Selbstbewusstsein und die Selbstbestimmung der jungen Menschen gefördert, indem sie Wahlmöglichkeiten erhalten
und ihre Fähigkeiten im Bereich Arbeit und
Sozialraum erweitern.
An zentralster Lage im Berner Trendund Universitätsquartier Länggasse entsteht
ein vielschichtiges Inklusionsprojekt im Bereich Arbeit, Wohnen und Sozialraum.
Die Einsatzmöglichkeiten in verschiedenen Berufsbereichen schlagen Brücken
zwischen dem zweiten und ersten Arbeitsmarkt. Die Arbeitsbedingungen und -Einsätze werden der körperlichen, kognitiven und
psychischen Verfassung angepasst. Gleichaltrige ohne Behinderung arbeiten ebenfalls in
allen Bereichen mit.
Das Gesamtprojekt in seinen drei Phasen
ist für insgesamt vier bis fünf Jahre angesetzt.
Es startete mit einem Pilotprojekt als EM-Bar
im Rahmen der Fussball-Europameisterschaft
und eröffnet mit den gesammelten Erkenntnissen als Restaurant / Bar / Kulturbetrieb im
Oktober 2016, wobei gewisse Bereiche von
Menschen mit und ohne Behinderung selbständig verwaltet werden. Zu einem späteren
Zeitpunkt wird die gesamte Liegenschaft unter dem Aspekt «Design for all» umgebaut
und durch einen Wohnintegrationsbereich
ergänzt.
Das Projekt arbeitet lokal, national
und international vernetzt, sensibilisiert eine
breite Bevölkerung – unter anderem durch
eine aktive Öffentlichkeitsarbeit – und ist auf
Kopierbarkeit ausgerichtet.
Kastanienhaus
Erlebniswoche im Tessin
Unsere gemeinsame Erlebniswoche führte
uns vom 22. bis 26. Juni ins Malcantone Tal im
Tessin, das Zuhause von Valentin Wehrli. Bei
Sonnenschein und hohen Temperaturen kommen wir in Miglieglia an.
Am 23. Juni machten wir einen Rundgang auf den Monte Lema und am Nachmittag wanderten wir entlang des Flusses
Magliasina (Maglio) durch Kastanienwälder
von Novaggio nach Miglieglia.
Am 24. Juni war Johanni und der Geburtstag von Marianne Stärkle. Nach einem
ausgiebigen Geburtstags Frühstück bereiteten wir unser Picknick für den Erlebnistag am
Maglio vor. Nach einem Bad im Fluss gestalteten verschiedene Gruppen Landart-Objekte
im Wasser, im Sand oder mit Heuhaufen.
Alle hatten Spass und liessen ihrer Phantasie
freien Lauf. Nach der kreativen Phase gab es
die wohlverdiente Bratwurst und Siesta unter
den alten Bäumen. Danach gings nochmals
ins kühle Nass.
Blindspot ist eine nationale Förderorganisation für junge Menschen mit und ohne
Behinderung. Seit 2005 setzt sie sich durch
ihre Projekte für eine Gesellschaft ein, in
der Inklusion in allen Strukturen als Selbstverständlichkeit gelebt wird. Menschen mit
einer Behinderung sollen ebenso wie Menschen ohne Behinderung selbstbestimmt
und aktiv am Leben teilhaben.
Weitere Informationen
www.blindspot.ch
www.provisorium46.ch
Meret Reiser
Mitarbeitende Kommunikation bei Blindspot
Landart mit Steinen im Fluss.
Der Höhepunkt unserer Woche war eine
Überraschung von Valentins Eltern am
Abend des Johannitages. Wir sollten um
21 Uhr zum grossen Spielplatz oben im
Dorf kommen. Nach anfänglichen Spielen
und Zirkusartistik erklärte uns Frau Wehrli,
dass wir jetzt alle lernen könnten, wie man
Feuer spuckt. Alle waren begeistert. Nach
der Einführung von Frau Wehrli hat jede
Person grosse, wunderschöne Feuerflammen
in den Tessiner Nachthimmel gespuckt. Es
war für alle ein einmaliges Erlebnis, das so
schnell niemand vergessen wird.
Am Samstag sind wir nach dem Frühstück mit dem Zug nach Ponte Tresa gefahren
und haben auf dem Wochenendmarkt regionalen Spezialitäten aus dem Tessin und Italien
probiert und eingekauft. Am Abend feierten
wir Abschied von Valentin Wehrli und Anna
Zeilstra (Auszubildende) auf dem Dorfplatz.
Philomena Heinel serviert selbstgemachte Pommes-Frites.
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