Die Dämonen - Kunstmuseum Basel

vom 05.10.2016
Jackson Pollock: „The Water Bull“, 1946 (Ausschnitt)
FOTO: COLLECTION STEDELIJK MUSEUM AMSTERDAM
Die Dämonen
Das Kunstmuseum Basel zeigt die Ausstellung „Der figurative Pollock“
Ist nicht alles gesagt? Ist er nicht schon
gänzlich ausgeleuchtet? Pollock, der Matador des Action Painting, der die Farbe
rinnen und tropfen ließ. Dies flächendeckende Dripping steht als kunsthistorische Leistung da. Man identifiziert Jackson Pollock (1912–1956) mit der aufsehenerregenden Methodik und abstraktformalen Ästhetik. In Basel ist der Held
der amerikanischen Nachkriegskunst
nun aber von einer andern Seite zu sehen.
Was die berühmten Drip Paintings betrifft, begnügt sich die Ausstellung im
Kunstmuseum mit wenigen Andeutungen. Ausführlich dargestellt ist die Vorgeschichte und was den wenigen Jahren der
frei fließenden Abstraktionen noch folgte.
„Der figurative Pollock“ liefert mehr als
eine Ergänzung zum Werküberblick. Die
Ausstellung erklärt den Maler grundsätzlich und lässt im Licht der Figurenbilder
auch die hier ausgesparten Hauptstücke
des Abstrakten Expressionismus anders
sehen. Wo man „Brüche“ wahrnahm,
wagt die Kuratorin Nina Zimmer von
„Kontinuität“ zu sprechen.
Wie Pollock geschichtlich verwurzelt
ist, stellt sich am Anfang dar. Der werdende Aktionist schaut auf die Alten Meister.
Die Ausstellung ist dicht bestückt mit Studien. Wir sehen den Zeichner durch die
wilden Landschaften der Gewandfalten El
Grecos wandern, der nicht von ungefähr
eine Entdeckung des Expressionismus
war. Von seinem New Yorker Lehrer Thomas Hart Benton – dem Erzähler US-amerikanischer Alltagsgeschichten – ist Pollock ein Bildraum ohne Ruhezonen, die
Fläche als dynamisches Relief vertraut.
Gebündelte Kraft mag man selbst
schon in der bildhauerischen Fingerübung des kaum Zwanzigjährigen entde-
cken. Aus der selben frühen Zeit kommt
„Woman“, eine düster mythisierte Frauenfigur: Erdmutter und große Hure. Im
Atelier des jungen Pollock hing eine Reproduktion des „Prometheus“ des mexikanischen Wandmalers José Clemente
Orozco. Die vom Marxismus bewegten
Mexikaner mit ihren monumentalen Formaten, ihrer aufrührerischen Attitüde,
interessierten ihn brennend. David Alfaro Siqueiros regte ihn zu ersten malmethodischen Experimenten an. Pollock
ging daran, dem Aufstand auf Papier und
Leinwand eine Form zu suchen. Was ihm
Stoff für Jahre gab, war Picassos AntiKriegsbild „Guernica“, das er 1939 in
New York sah. Figürliche Chiffren des Leidens und vitaler Protest – mit „Guernica“
sprach Picasso ihm aus dem Herzen.
Sehnsucht und
Sinnsuche
Der verletzlichen Malerseele, dem
Kraftmann und Klienten der Psychotherapie, wurde das sogenannte Unbewusste
zur Quelle. Das sollte sein bildnerischer
Zapfhahn sein. „Wenn man aus dem Unbewussten malt, müssen zwangsläufig Figuren hervortreten“, war Pollock sich sicher. In sein Figurengewölle vermengen
sich Sehnsucht und Sinnsuche. Seine Faszination für die Mythen der nordamerikanischen Indianer erklärt sich aus dem Bedürfnis, in Regionen vorzustoßen, die der
pragmatische American Way of Life nicht
erreicht. Bilder wie „The Moon Woman
Cuts the Circle“ oder „Totem Lesson“
operieren mit der Fiktion des Rituellen,
suggerieren einen dunklen Weltgrund.
Im anspruchsvollen Großformat inszeniert sind auch die „Hüter des Gehei-
men“. Pollock malt sein eigenes Drama
des Ungenügens und der Heilserwartung.
Als Gestaltungsbasis spielen Figuren –
Götter und Dämonen – selbst auch in den
dann scheinbar rein gestischen Arbeiten
eine untergründige Rolle. Nina Zimmer,
die als Direktorin jetzt ins Kunstmuseum
Bern und Zentrum Paul Klee rochierte
und mit Pollock ihren Basler Abschied gestaltet, weist auf aktuelle „faszinierende“
Forschungen hin. Und die Ausstellung
zeigt, wie der Maler vor seinem frühen
Tod auch wieder offen auf die Figuren zurückkommt. Es war kein „Rückfall“.
Im Dickicht der „Black and White Paintings“ lässt er 1951 aus der Malspur eine
bedrohlich ungewisse Figurenwelt entstehen. „Number 11“ wirkt mit dem bleckenden Weiß des Malgrunds wie eine
riesenhafte, zerfetzte Liegende. Aus
„Number 21“ starrt ein Totenschädel. Im
ozeanischen Grau („Ocean Greyness“,
1953) rekurriert Pollock auf seine Idee
von „Geburt“ und macht daraus eine strudelnde Untergangsszene. „Du kannst
mich nicht von meinen Bildern trennen“,
sagt er. Er lebt eine finale Krise. Der tödliche Autounfall, im volltrunkenen Zustand, ist von fataler Folgerichtigkeit.
Pollocks Bilder sind ein grandioser –
ein grandios misslungener Heilzauber.
Der entfesselte Tänzer mit Farbe entblößt
sich darin als Schmerzensmann. Der auf
die „glory years“ der Drip Paintings fokussierte Blick blendet Angst, Unglück und
die Suche nach Rettung als Motiv der Arbeit aus. An der Stelle setzt „Der figurative Pollock“ mit der fälligen Korrektur an.
Volker Bauermeister
–
Kunstmuseum Basel. Bis 22. Januar, Di
bis So 10-18, Do bis 20 Uhr.
m i t t wo c h , 5. o k t o be r 2016
kultur
•
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badische zeitung
wirtschaft
11
kultur
w w w. b a d i s c h e - z e i t u n g . d e / k u l t u r
Mäanderndes Wanderbuch
Wandernder Punk
Sport: Fußball-WM mit 48 Teams?
Wirtschaft: Paris springt ein
Der Brite Robert Macfarlane erkundet „Alte
Wege“ – und die Geschichte der menschlichen
Begegnung mit der Natur.
Seite 13
Der Verleger Klaus Bittermann geht mit seinem
wunderbaren Ausreißerroman auf eine Zeitreise
in die Achtzigerjahre.
Seite 13
Der neue Fifa-Chef Gianni Infantino will,
dass 48 statt der bisher 32 Teams an der Endrunde
der Fußball-WM teilnehmen.
Seite 15
Weil der französische Staat und die Staatsbahn
Züge beim Alstom-Konzern bestellen, schließt
der sein Werk in Belfort nicht.
Seite 20
Filmemacherin in
einem Land der Verbote
PORTRÄT:
Jackson Pollock: „The Water Bull“, 1946 (Ausschnitt)
FOTO: COLLECTION STEDELIJK MUSEUM AMSTERDAM
Die Dämonen
Das Kunstmuseum Basel zeigt die Ausstellung „Der figurative Pollock“
Ist nicht alles gesagt? Ist er nicht schon
gänzlich ausgeleuchtet? Pollock, der Matador des Action Painting, der die Farbe
rinnen und tropfen ließ. Dies flächendeckende Dripping steht als kunsthistorische Leistung da. Man identifiziert Jackson Pollock (1912–1956) mit der aufsehenerregenden Methodik und abstraktformalen Ästhetik. In Basel ist der Held
der amerikanischen Nachkriegskunst
nun aber von einer andern Seite zu sehen.
Was die berühmten Drip Paintings betrifft, begnügt sich die Ausstellung im
Kunstmuseum mit wenigen Andeutungen. Ausführlich dargestellt ist die Vorgeschichte und was den wenigen Jahren der
frei fließenden Abstraktionen noch folgte.
„Der figurative Pollock“ liefert mehr als
eine Ergänzung zum Werküberblick. Die
Ausstellung erklärt den Maler grundsätzlich und lässt im Licht der Figurenbilder
auch die hier ausgesparten Hauptstücke
des Abstrakten Expressionismus anders
sehen. Wo man „Brüche“ wahrnahm,
wagt die Kuratorin Nina Zimmer von
„Kontinuität“ zu sprechen.
Wie Pollock geschichtlich verwurzelt
ist, stellt sich am Anfang dar. Der werdende Aktionist schaut auf die Alten Meister.
Die Ausstellung ist dicht bestückt mit Studien. Wir sehen den Zeichner durch die
wilden Landschaften der Gewandfalten El
Grecos wandern, der nicht von ungefähr
eine Entdeckung des Expressionismus
war. Von seinem New Yorker Lehrer Thomas Hart Benton – dem Erzähler US-amerikanischer Alltagsgeschichten – ist Pollock ein Bildraum ohne Ruhezonen, die
Fläche als dynamisches Relief vertraut.
Gebündelte Kraft mag man selbst
schon in der bildhauerischen Fingerübung des kaum Zwanzigjährigen entde-
cken. Aus der selben frühen Zeit kommt
„Woman“, eine düster mythisierte Frauenfigur: Erdmutter und große Hure. Im
Atelier des jungen Pollock hing eine Reproduktion des „Prometheus“ des mexikanischen Wandmalers José Clemente
Orozco. Die vom Marxismus bewegten
Mexikaner mit ihren monumentalen Formaten, ihrer aufrührerischen Attitüde,
interessierten ihn brennend. David Alfaro Siqueiros regte ihn zu ersten malmethodischen Experimenten an. Pollock
ging daran, dem Aufstand auf Papier und
Leinwand eine Form zu suchen. Was ihm
Stoff für Jahre gab, war Picassos AntiKriegsbild „Guernica“, das er 1939 in
New York sah. Figürliche Chiffren des Leidens und vitaler Protest – mit „Guernica“
sprach Picasso ihm aus dem Herzen.
men“. Pollock malt sein eigenes Drama
des Ungenügens und der Heilserwartung.
Als Gestaltungsbasis spielen Figuren –
Götter und Dämonen – selbst auch in den
dann scheinbar rein gestischen Arbeiten
eine untergründige Rolle. Nina Zimmer,
die als Direktorin jetzt ins Kunstmuseum
Bern und Zentrum Paul Klee rochierte
und mit Pollock ihren Basler Abschied gestaltet, weist auf aktuelle „faszinierende“
Forschungen hin. Und die Ausstellung
zeigt, wie der Maler vor seinem frühen
Tod auch wieder offen auf die Figuren zurückkommt. Es war kein „Rückfall“.
Im Dickicht der „Black and White Paintings“ lässt er 1951 aus der Malspur eine
bedrohlich ungewisse Figurenwelt entstehen. „Number 11“ wirkt mit dem bleckenden Weiß des Malgrunds wie eine
riesenhafte, zerfetzte Liegende. Aus
„Number 21“ starrt ein Totenschädel. Im
ozeanischen Grau („Ocean Greyness“,
1953) rekurriert Pollock auf seine Idee
von „Geburt“ und macht daraus eine strudelnde Untergangsszene. „Du kannst
mich nicht von meinen Bildern trennen“,
sagt er. Er lebt eine finale Krise. Der tödliche Autounfall, im volltrunkenen Zustand, ist von fataler Folgerichtigkeit.
Pollocks Bilder sind ein grandioser –
ein grandios misslungener Heilzauber.
Der entfesselte Tänzer mit Farbe entblößt
sich darin als Schmerzensmann. Der auf
die „glory years“ der Drip Paintings fokussierte Blick blendet Angst, Unglück und
die Suche nach Rettung als Motiv der Arbeit aus. An der Stelle setzt „Der figurative Pollock“ mit der fälligen Korrektur an.
Sehnsucht und
Sinnsuche
Der verletzlichen Malerseele, dem
Kraftmann und Klienten der Psychotherapie, wurde das sogenannte Unbewusste
zur Quelle. Das sollte sein bildnerischer
Zapfhahn sein. „Wenn man aus dem Unbewussten malt, müssen zwangsläufig Figuren hervortreten“, war Pollock sich sicher. In sein Figurengewölle vermengen
sich Sehnsucht und Sinnsuche. Seine Faszination für die Mythen der nordamerikanischen Indianer erklärt sich aus dem Bedürfnis, in Regionen vorzustoßen, die der
pragmatische American Way of Life nicht
erreicht. Bilder wie „The Moon Woman
Cuts the Circle“ oder „Totem Lesson“
operieren mit der Fiktion des Rituellen,
suggerieren einen dunklen Weltgrund.
Im anspruchsvollen Großformat inszeniert sind auch die „Hüter des Gehei-
Kunstmuseum Basel. Bis 22. Januar, Di
bis So 10-18, Do bis 20 Uhr.
Für sechs Euro in
die Elbphilharmonie
Neue Intendantin für die
Berliner Philharmoniker
Verfahren um
Kreuzworträtsel eingestellt
Am Dienstag startete der Ticketverkauf
für die Elbphilharmonie-„Konzerte für
Hamburg“. Die rund 60 000 Karten für
die einstündigen Konzerte sind schon für
6, 12 beziehungsweise 18 Euro erhältlich. „Wir wollen die Elbphilharmonie als
klingendes Erlebnis zugänglich machen“,
so NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock. Tickets unter t040/35766666,
Mo bis Sa von 10 bis 18 Uhr.
dpa
Die Kulturmanagerin Andrea Zietzschmann soll neue Intendantin der Berliner
Philharmoniker werden. Sie soll am Donnerstag offiziell vorgestellt werden und
tritt die Nachfolge des 2017 scheidenden
Amtsinhabers Martin Hoffmann an, berichteten der Tagesspiegel und die Berliner Morgenpost am Dienstag. Die 46-Jährige leitet derzeit die fünf Musikensembles des NDR.
epd
Nachdem eine Rentnerin ein Kreuzworträtsel-Kunstwerk in einem Nürnberger
Museum ausgefüllt hat, hat die Staatsanwaltschaft das gegen sie erhobene Verfahren eingestellt. Der Fall sei „mit der gebotenen Gründlichkeit geprüft“ und wegen
geringer Schuld eingestellt worden, sagte
eine Sprecherin am Dienstag. Das Museum bestand nicht auf einer Ahndung. Der
Fall sorgte im Juli für Schlagzeilen. dpa
Volker Bauermeister
–
Die Kant-Weltbürger-Preisträgerin Haifaa Al Mansour
Sie hat das Unmögliche vollbracht: Mit
der deutsch-saudischen Koproduktion
„Das Mädchen Wadjda“ (2012) hat Haifaa
Al Mansour den ersten komplett in SaudiArabien gedrehten Spielfilm geschaffen –
die Regiearbeit einer Frau im sunnitischen Königreich, in dem Frauen quasi
unsichtbar sind, lebenslang männlicher
Vormundschaft unterworfen, einer besonders rigiden Auslegung der Scharia
ausgesetzt. Gemeinsam mit dem im Iran
inhaftierten Filmregisseur Jafar Panahi
(„Taxi Teheran“) wurde Haifaa Al Mansour jetzt in der Aula der Freiburger Universität mit dem mit 15 000 Euro dotierten Immanuel-Kant-Weltbürger-Preis der
Freiburger Kant-Stiftung ausgezeichnet.
Haifaa Al Mansour, 1974 in eine kinderreiche Familie hinein geboren, erweist sich im Gespräch mit der BZ als
energiegeladene, hellwache, empathische Frau von berückender Ausstrahlung
und quirligem Temperament, die differenziert zu formulieren weiß. Im „extrem
konservativen“ Saudi-Arabien, in dem eine allgegenwärtige Religionspolizei „die
Einhaltung moralischer Gebote“ überwacht und damit für Frauen „nur Hindernisse“ aufbaut, hat sie sich immer wieder
„fast gelähmt“ gefühlt. Im Land gilt
strengste Geschlechtertrennung; undenkbar, dass eine Frau in der Öffentlichkeit mit Männern am Filmset arbeitet.
Jede anklägerische Attitüde liegt ihr
fern – Haifaa Al Mansour legt großen Wert
auf die Klarstellung, dass sie mit ihrem
Film „nicht provozieren“, sondern „eine
Geschichte in Bildern erzählen“ will. Sie
will, im Bewusstsein des kulturellen
Reichtums Saudi-Arabiens und eines Fundus wertvoller Traditionen, „Brücken öffnen“ und einen „Dialog führen“; nicht etwas harsch verurteilen, sondern etwas
sensibel auf der Leinwand zeigen, dies
scheint ihre Devise zu sein, im besten Fall
etwas Verborgenes sichtbar zu machen.
Bevor die deutsche Produktionsgesellschaft Razor Film Interesse signalisierte
(und Norddeutscher sowie Bayerischer
Rundfunk in die Projektfinanzierung einstiegen), hatte sie sich für ihr Drehbuch
reihenweise Absagen eingehandelt. Einmal realisiert, machte „Das Mädchen
Wadjda“ 2012 bei den Filmfestspielen in
Venedig Furore und wurde 2013 für den
Oscar nominiert. Dass dieser Film vollendet werden konnte, bleibt ein Wunder, er
scheint zu bestätigen, was für Al Mansour, die heute in Los Angeles lebt, eine
kardinale biographische Erfahrung geworden ist: „Freiheit wird nicht als Geschenk verteilt, man muss darum kämpfen“. Und sie fügt hinzu: „Es geht nicht
darum zu warten, bis Gesetze sich ändern, auch Frauen sind dafür verantwortlich, soziale Realitäten zu verändern“.
Kritische Reflexion: Haifaa Al Mansour vor dem Spiegel
Bei den Dreharbeiten zu „Das Mädchen Wadjda“ hat sie bei Szenen im öffentlichen Raum aus einem geschlossenen Lieferwagen heraus über Monitore
und Funkgeräte Regieanweisungen gegeben; auch der Dreh in Innenräumen ist
„nicht erlaubt, aber es sieht niemand“.
Immer wieder kommt sie auf diese überall präsenten und doch nirgends klar definierten roten Linien einer Verbotswelt zu
sprechen, in der sich das kategorisch und
das nur etwas Verbotene, das immer und
das nur von Fall zu Fall Verbotene gegenüberstehen und durchdringen.
In einem Land, in dem Kinos verboten
sind und in dem es keine cineastische Infrastruktur gibt, konnte sie bei der Suche
nach Schauspielern auf keine Castingagenturen bauen. Ihre hinreißende Hauptdarstellerin Waad Mohammed hat sie
„durch puren Zufall“ gefunden. Zwar hat
Haifaa Al Mansour mit einem eigenen, detaillierten Drehbuch gearbeitet, trotzdem
hat sie den Eindruck, dass in dem Film die
Akteure eher „eine Person verkörpern“,
zu einem unverwechselbaren Charakter
auf der Leinwand werden als dass Schauspieler hier eine Rolle übernehmen.
FOTO: SEEGER(DPA)
In einem Land, in dem Frauen nicht
Auto fahren und Mädchen nicht Fahrrad
fahren dürfen, wünscht sich das Schulmädchen Wadjda ein Fahrrad – und sie
wird es bekommen. Dieses vermeintliche
Nichts an Handlung, dieses – mit Rainer
Werner Fassbinder zu sprechen – bisschen Realität, das sie braucht, baut Al
Mansour zu einem berührenden Drama
auf, in dem familiäre Strukturen, zementierte Geschlechterrollen, soziale Codes
wie groteske Hierarchien innerhalb einer
feudalen, anachronistischen Monarchie
kenntlich werden. Angesichts der Beharrungskräfte, die Saudi Arabien prägen,
vertraut Al Mansour auf eine junge Generation, die, „mehr als sonst irgendwo“,
mit dem Internet großgeworden ist und
die Zensurauflagen zu unterlaufen weiß.
Als Studentin der Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Amerikanischen
Universität in Kairo ist sie mit dem Werk
Immanuel Kants in Berührung gekommen; der Immanuel-Kant-WeltbürgerPreis bedeutend ihr viel. Und wenn nicht
alles täuscht, dann hat die Freiburger
Kant-Stiftung mit ihr eine überaus glückliche Wahl getroffen. Hartmut Buchholz