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Perspektiven_Kunst
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Energie sichtbar gemacht
Jackson Pollocks Frühwerk „Mural“ gilt als eines der bedeutendsten Werke
der amerikanischen Moderne. Eine Ausstellung in der Deutsche Bank KunstHalle
spürt seiner Entstehung und seinen Einflüssen nach
Spontane Kraft? Was wie
hingeworfen wirkt,
war für Pollock oft Ergebnis
langer Vorbereitung
„Mural“ mischte er nun die New Yorker Kunstszene
gründlich auf: rhythmisch pulsierende Formen in
pulsierenden Farben, das Ganze mehr als sechs Meter lang und fast zwei Meter fünfzig hoch. Oft wurde
„Mural“ mit einem Wirbelsturm verglichen; einer
wild gewordenen Herde, die über die Prärie jagt und
alle überkommenen Vorstellungen von Malerei zu
Staub zermalmt. Nur dass die Rasenden hier keine
Bisons oder Mustangs darstellen, sondern biomorphe Zeichen, die entfernt an die Strichmännchen
prähistorischer Höhlenmalerei erinnern.
Lebemann und Selbstzerstörer
Dieses Bild war die Initialzündung für den kometenhaften Aufstieg des Künstlers unter den Fittichen seiner engagierten Sammlerin und Mäzenin.
Im Paris der Zwanzigerjahre hatte Peggy Guggenheim die Avantgarde-Kunst kennen- und manche
Künstler aus dem Kreis der Surrealisten lieben
gelernt, in London 1938 ihre erste Galerie aufgemacht. Nach der Flucht aus dem Frankreich des
Vichy-Regimes 1941 widmete sie sich in ihrer Heimatstadt New York nun der „Art of This Century“,
wie ihre neue Galerie hieß, richtete Pollock 1943 die
erste Soloschau aus und nahm ihn für 150 Dollar im
Monat unter Vertrag. In der losen Künstlergruppe
der New Yorker Schule, die unter dem (ungeliebten)
Etikett „Abstrakte Expressionisten“ Furore machte,
hielt sie ihn für den begabtesten.
„Energy made visible“. Diese drei Wörter hatte der Künstler Ende der Vierzigerjahre auf
FOTO: MARTHA HOLMES/THE LIFE PICTURE COLLECTION/GETTY IMAGES
BILD: POLLOCK-KRASNER FOUNDATION/VG BILD-KUNST, BONN 2015
E
r war schon zu Lebzeiten eine Ikone der
amerikanischen Malerei. Genial, rebellisch,
aber auch von Selbstzweifeln gequält:
Jackson Pollock (1912–56), erster US-Künstler von
Weltruhm und Erfinder des Action Painting, ist bis
heute ein Mythos – und „Mural“, sein monumentales Wandbild von 1943, eines der bedeutendsten
Kunstwerke des 20. Jahrhunderts. Jetzt ist das epochale Gemälde in der Deutsche Bank KunstHalle in
Berlin zu Gast – als frisch restauriertes Herzstück
der Ausstellung „Energy Made Visible“ und umringt
von einer erlesenen Auswahl an Bildern und Fotografien, die sowohl den Einfluss als auch den persönlichen und kunsthistorischen Kontext dieses
Werks beleuchten.
„Tagelang saß er davor, völlig uninspiriert, und
versank in tiefen Depressionen.“ So schildert Peggy
Guggenheim, die ebenso exzentrische wie kunstsinnige New Yorker Millionärin, die Genese des
riesigen Wandbildes, das sie 1943 bei dem noch
unbekannten Jackson Pollock in Auftrag gegeben
hatte. „Eines Tages, nach wochenlangem Zögern,
begann er plötzlich Farbe auf die Leinwand zu
spritzen. Drei Stunden später war das Bild fertig …
In einem rhythmischen Tanz reihten sich blaue,
gelbe und weiße abstrakte Figuren aneinander.“
So war die Geschichte vom Genie, das über
Nacht Großes schafft, geboren. Dieser Art Geschichten gibt es mehrere. Pollock war für seine
schlechten Manieren und seine Alkoholsucht ebenso bekannt wie für sein Ausnahmetalent – und mit
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„Jack the Dripper“
wurde Jackson
Pollock genannt:
Die Farbe ließ
er direkt auf seine
großformatigen
Werke tropfen
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Jackson Pollocks „Mural“ ist
eines der wichtigsten
Bilder des 20. Jahrhunderts.
Frisch restauriert, steht
das 1943 entstandene Werk im
Zentrum der Ausstellung
einem Skizzenblatt notiert. Als ob er sich
selbst noch mal bestätigen wollte, was ihn bis
zur Besessenheit an- und umtrieb: physische und
psychische Energie. Und die war unweigerlich
mit Aktion verbunden: vor und zurück, hin und
her. Das gilt für die gezielt gesetzten Pinselstriche auf „Mural“ ebenso wie für seine berühmten
„Drip Paintings“, bei denen er die am Boden liegende Leinwand wie ein Derwisch umrundete,
in den Händen Pinsel, Stöcke, Tuben oder Eimer,
aus denen er sein virtuoses Farbgeflecht auf die
Fläche spritzte, schleuderte, schüttete, tröpfelte.
Schon während des Studiums hatte sich Pollock mit Sigmund Freud und C. G. Jung beschäftigt,
später eine Psychotherapie gemacht, um vom Alkohol wegzukommen, Ängste und Aggressionen
in den Griff zu kriegen. Kunst war für ihn auch Mittel der Heilung und der Erkenntnis. „Malerei ist
Selbstentdeckung“, sagte er einmal. Und: „Wenn
ich in meinem Bild bin, ist mir nicht bewusst, was
ich tue. Erst nach einer Phase des Kennenlernens
erkenne ich, was ich gemacht habe.“
Offenbar flossen in die aus dem Unbewussten
geschöpften Bilder jedoch nicht nur Biografie
und Probleme ein. Wie die aufschlussreiche Ausstellung in Berlin vor Augen führt, manifestierten
sich in ihnen auch äußere Einflüsse: die verheerende Energie der Bomben, Panzer und Geschosse.
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Die USA waren nach dem Angriff der Japaner auf
Pearl Harbor im Dezember 1941 in den Zweiten
Weltkrieg eingetreten.
Fotografie als Inspiration
Betrachtet man die Fotografien der Kriegsreporter
aus dem renommierten „Life“-Magazine im September 1943, fallen sofort Parallelen zu Pollocks
berühmten Bildern ab 1947 auf.
Wenn der Künstler nach seinen Vorbildern gefragt wurde, nannte er Joan Miró und Pablo Picasso;
ebenso die Bildsprache der nordamerikanischen
Indianer. Fotografie kam nur indirekt zur Sprache:
„Es scheint mir, dass ein moderner Maler diese
Zeit – die Flugzeuge, die Atombomben, das Radio – nicht in den alten Formen der Renaissance
oder irgendeiner vergangenen Epoche ausdrücken
kann. Jedes Zeitalter findet seine eigene Technik.“
Und die war unverkennbar von der Fotografie
beeinflusst. Seit ihrer Erfindung versuchten unzählige Künstler und Fotografen, Bewegung des
menschlichen Körpers und von Elektrizität auf
die Platte zu bannen. Die Ausstellung in Berlin
zeigt eine ganze Reihe eindrücklicher Beispiele – von Fotopionier Étienne-Jules Marey über
Picasso und László Moholy-Nagy bis hin zu Aaron
Siskind, Herbert Matter und Gjon Mili. Keiner jedoch konnte Dynamik so eindrucksvoll einfangen
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BILD: POLLOCK-KRASNER FOUNDATION/VG BILD-KUNST, BONN 2015; FOTO: BARBARA MORGAN
Abstrakt – oder nicht? Die
Ausstellung spürt den realen
Vorlagen der Bilder Pollocks
nach, zum Beispiel Tanzbildern
der Fotografin Barbara Morgan
wie die US-Fotografin Barbara Morgan mit ihren
grandiosen Tanzbildern. Ihre Aufnahme der durch
die Luft wirbelnden Humphrey Weidman Group
in Lynchtown 1938, dieser wilde, fliegende Haufen von Körpern und Gliedmaßen, erscheint aus
heutiger Sicht wie die (spiegelverkehrte) figurative
Vorwegnahme von „Mural“.
Nur sechs Jahre nach seiner ersten New Yorker
Soloschau widmete das „Life“-Magazine „Jack the
Dripper“ eine Riesenstory und stellte die (eher
rhetorische) Frage: „Ist er der größte lebende Maler
der Vereinigen Staaten?“
Klar, das war er 1949 bereits. Seine „Drip Paintings“ hatten das Staffeleibild überwunden und
maßgeblich dazu beigetragen, Amerikas Nationalstolz zu stärken: Bis zum Zweiten Weltkrieg
war die „École de Paris“ der Nabel der Kunstwelt
gewesen; mit Pollock als bedeutendstem Protagonisten übernahm die „New York School“ diese
Rolle und löste die europäische Avantgarde ab.
Ein Politikum in der heißen Phase des Kalten Krieges: Der Abstrakte Expressionismus stand nun für
(Ausdrucks)freiheit, Fortschritt und Humanismus
der westlichen Welt.
Und „Mural“? Fast 70 Jahre lang hielt sich die
Mär vom über Nacht entstandenen Jahrhundertwerk und beflügelte die Vorstellung vom gleichsam göttlich erleuchteten Künstlergenius. 2012,
als das Wandbild aus der Universität von Iowa (ihr
hatte es Peggy Guggenheim 1951 geschenkt) nach
Los Angeles reiste und im Getty Conservation Institute gründlich gereinigt und untersucht wurde,
stellte sich heraus, das die erste Ölschicht zwar
nass in nass gemalt wurde, die weiteren Aufträge
jedoch trocken waren, bevor sie wieder ergänzt
wurden. Und wie lange Öl trocknet, weiß jeder, der
einmal damit gemalt hat.
In einer Nacht hatte Pollock lediglich die Grundzüge angelegt, die weitere Ausführung nahm wohl
Wochen in Anspruch. Zumindest teilweise aber
stimmt der Mythos eben doch: Denn die erste
Schicht aus vier hoch verdünnten Farben ist in
mehreren Bereichen des Bildes gut zu sehen.
Die eigentliche Bedeutung dieses Wandgemäldes, das (nach Venedig und vor Málaga und
London) nun wohl zum einzigen Mal in Berlin zu
sehen ist, liegt weder in der angeblichen Kürze
seiner Entstehung noch in der spektakulären
Größe. Dieses Werk markiert vielmehr einen
entscheidenden Wendepunkt in der Kunstgeschichte: „Mural“ war das erste abstrakte Bild
Pollocks und „brach das Eis“ für den Abstrakten
Expressionismus, wie Willem de Kooning einmal
feststellte. Mit anderen Worten: Erst „Mural“
machte Pollock zu Pollock.
IS ABEL L E H OFMANN
„Jedes Zeitalter findet
seine eigene
Technik“
WEITERE INFORMATIONEN
„Jackson Pollock’s ‚Mural‘: Energy
Made Visible“ in der Deutsche Bank
KunstHalle, Unter den Linden 13–15,
10117 Berlin, bis 10. April 2016
www.deutsche-bank-kunsthalle.de