Bericht der Kulturstiftung des Kantons Thurgau 2015 1 4 2 1 26 84 alle 1 Vorwort Fragen Behauptungen Zitat Antworten Projekte Zahlen Impressum 25 Ja h re Kulturstiftu ng 00 / Vorwort 4. .. 5 weis von Frauenfeld nach Berlin, von Rom nach Marseille oder von Wien nach Warschau reist, wird anderen Menschen die freie Bewegung verwehrt. Die Schweiz pflegt im Herzen Europas seit jeher ein besonderes Verhältnis zu ihren Grenzen. Bilder der Schweiz als Insel oder als Festung sind auch 2016 noch präsent. Ja, es scheint, als würden sie gegenwärtig wieder mehr bemüht denn je. Debatten um das Aufkünden der Personenfreizügigkeit oder der Menschen«Culture sans frontières» ist das Leitmotiv des Berichtes 2015 der rechte orientieren sich an der Grenze als ein nationalstaatliches und Kulturstiftung des Kantons Thurgau, der als dialogisches Lesebuch kulturelles Trennmoment, das das «Eigene» über den Ausschluss konzipiert ist. Drei Worte in französischer Sprache, die ohne ein Fra- des «Anderen» konstruiert. Als Grenzkanton ist der Thurgau un- gezeichen dastehen, eine Behauptung also, vielleicht eine Vision. Sie mittelbar mit diesen Tendenzen konfrontiert. Die Welt «ennet» der sollen anregen, nachzudenken über die Grenze zwischen Nationen Grenze ist in Sichtweite. Bemühungen um Nähe und Distanz sind und Kulturen, über die Grenzen in unseren Köpfen und über die Möglichkeiten der Kunst und der Kultur in diesem Gefüge. ........ Die brisanter als anderswo. Die von der Grenzlinie forcierten Bewe- europäische Grenzpolitik ist in den letzten Monaten in den Fokus Menschen mit vollgepackten Einkaufstüten zurück und die deut- gerückt. Nach Jahren der Bestrebungen, die innereuropäischen schen Grenzbeamtinnen und Grenzbeamten klagen über schmer- Grenzen abzuschaffen, richten europäische Staaten wieder Grenz- zende Hände vom Abstempeln der Formulare für die Mehrwertsteu- kontrollen ein, derweil die EU-Aussengrenze mit Militär und Stachel- er-Rückerstattung. Derweil späht die Grenzpolizei am Bahnhof drahtzäunen befestigt wird. Die Grenze fungiert als kartografischer Kreuzlingen nach jenen vereinzelten Menschen, die ihren Weg meist Trennwert und politisches Machtinstrument zur Strukturierung und mit weniger Gepäck, dafür mit umso schwerer wiegenden Geschich- Legitimierung von Gesellschaften und Nationen. Während sich eine ten und Hoffnungen in die Schweiz gefunden haben. Die Kulturstif- privilegierte Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern ungeachtet die- tung des Kantons Thurgau agiert in diesem politischen und gesellschaftlichen Kontext. ........ Mit dem vorliegenden Lesebuch ser Entwicklungen in Europa frei bewegt und ohne Identitätsaus- gungsrhythmen sind sichtbar: Mit den Zügen aus Konstanz kehren 6. .. 7 lassen wir Kunst- und Kulturschaffende, Künstlerinnen und Künstler dass wir die Bewegungen über Grenzen hinweg fördern und anre- aus dem Thurgau zu Wort kommen. Im Gespräch mit der Journalis- gen, dass wir den Künstlerinnen und Künstlern geografische Mobi- tin und Stiftungsrätin Kathrin Zellweger haben sie über Zusammen- lität und Gedankenreisen ermöglichen. Es heisst weiter, dass wir hänge zwischen nationalen und kulturellen Grenzen nachgedacht kritische, auch unbequeme künstlerische Projekte unterstützen, oder die Relevanz von Grenzen für die eigene künstlerische Praxis die drängende Fragen nach den gegenwärtigen politischen Tenden- reflektiert. Sie haben sich zu Ängsten vor der Grenze und zur Be- zen zur Abschottung stellen, die hinüberschauen über die Gren- deutung nationalstaatlicher Grenzen in einer globalisierten Kunst- zen und auf der anderen Seite Dialog und Austausch suchen. Es welt geäussert. Dabei hat sich gezeigt, dass die Auseinander- heisst schliesslich auch, dass wir am Ausspruch «Culture sans fron- setzung mit realen und psychischen Grenzen von zentraler Bedeu- tières» festhalten, ihn mit einem Ausrufezeichen versehen und als tung ist. Das Stossen an oder das Überwinden von Grenzen treibt zu verwirklichende Vision denken. Culture sans frontières! künstlerisches Arbeiten an. Zugleich ist das Moment der Bewegung über nationalstaatliche Grenzen hinweg den Biografien vieler Kunstschaffenden immanent. Gerade im Jahr des Dada-Jubiläums – eine künstlerische Strömung, die weitgehend von Immigrantinnen und Immigranten getragen wurde – ist daran zu denken, dass Kunstschaffende in der Schweiz und anderswo immer auch Fremde sind, denen entsprechend begegnet wird. Es ist daran zu denken, dass Künstlerinnen und Künstler immer wieder konfrontiert sind mit nationalen Grenzen, mit kulturellen Grenzen, mit Grenzen im eigenen Kopf und mit Grenzen in den Köpfen anderer. Für die Kulturstiftung des Kantons Thurgau, die zeitgenössisches künstlerisches Schaffen fördert und eigene Projekte initiiert, bedingt dies eine erhöhte Sensibilität gegenüber Grenzen aller Art. Es heisst, Gioia Dal Molin Beauftragte der Kulturstiftung des Kantons Thurgau 01 / Frage Sind nationale Grenzen auch kulturelle Grenzen? 8. .. 9 01/1 «… Küsschen links, rechts, je nach Ge- wohnheit, links, rechts, links oder nur rechts …» (aus: Jan, Janka, Sara und ich), so können nationale Unterschiede aussehen. Nicht nur in diesem Buch beziehe ich mich auf die Unterschiede, die mal erheiternd, mal störend sind. Meine Antwort lautet also: ja und nein. Im Thurgau greifen wir – weil wir zum gleichen Kulturraum gehören – auf ähnliche sprachliche Begriffe und Gepflogenheiten zurück wie ennet der Grenze. Oder vielleicht gehören wir zum gleichen Kulturraum, weil wir ähnliche Begriffe verwenden. Doch selbst zwischen dem südlichen Deutsch und dem Thurgauischen gibt es relevante Unterschiede. Besonders bei emotionalen Reaktionen werden landesübliche Abweichungen offensichtlich: Man lacht über unterschiedliche Dinge, klagt und bedankt sich auf je andere Weise. Ratsam wäre, an den Landesgrenzen sein ursprünglich gelerntes Witzpaket, Emotionspaket abzugeben und das landesübliche vom Zöllner zu erbitten. ........ Was eine nationale Grenze ist, habe ich in meiner Kindheit physisch erlebt. Als 10-Jährige war ich auf der Flucht mit meinen Eltern zu Fuss unterwegs, aus Ungarn nach Österreich. Ich weiss, was Stacheldraht und Mienen bedeuten. ........ Welche Nationalität ich habe? Da heute oft von Nationalitäten die Rede ist, bin ich aus Trotz, aber auch aus Zuneigung vor allem Europäerin. Für das persönliche Leben braucht niemand Staatsgrenzen. Dass es diese Grenzlinien gibt, ist eine Tatsache. Für verwaltungs- technische Angelegenheiten sind sie wohl unabdingbar. Im Laufe ist an sich nicht falsch. Denn ohne sie hiesse das im Umkehrschluss, meines Lebens haben sich meine Ansichten zum Thema Grenzen mehrfach verändert. ........ Bei der Rezeption meiner Bücher gibt dass überall das Gleiche zu finden ist. Unterschiede sorgen für es erstaunliche kulturelle Grenzen. Am häufigsten werden sie in der Schweiz besprochen, gefolgt von Österreich, das Schlusslicht ist Spannung, die man aushalten muss. Denn jede Veränderung trägt in 10 .. . 11 sich das Potential, Abwehr und Angst zu erzeugen. Im Idealfall aber führen Abweichungen zu einem prüfenden und vergleichenden Deutschland. Nicht wenigen Schweizer Autorinnen und Autoren geht Nachdenken. Solche Reflexionen sind nicht selten Initialzündungen es ähnlich. für Unbekanntes und Ungeahntes. Ich denke, dass bei Kultur- Zsuzsanna Gahse wurde 1946 in Budapest geboren. Sie ist deutsch-schweizerische Doppelbürgerin. Sie lebt als freie Schriftstellerin in Müllheim. schaffenden diese Angst weniger vorhanden ist, weil ein Künstler per se etwas Neues schaffen will und daher offen, neugierig und aufnahmebereit ist. Künstler sind selbst Teil dieser Veränderung. ........ Die Schweiz, so denke ich, hat allen Grund, über den Tellerrand hinauszuschauen. Wir sind es uns zwar gewohnt und schaffen es auch, innerhalb unseres Landes die kulturellen Grenzen zu überwin- 01/2 den. Manchmal aber sind wir zu sehr auf uns selbst fixiert. Dadurch entgeht uns die grosse Vielfalt um uns herum. Wenn wir den (kulturellen) Rest der Welt nicht an uns heranlassen, vergeben wir uns Im Grundsatz bejahe ich die Frage. Trotzdem ist es mir mit dieser pauschalen Antwort nicht ganz wohl. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass Konflikte entstehen können, wenn nationale Grenzen mit den kulturellen nicht deckungsgleich sind. Andererseits können nationale Grenzen über die Zeit hinweg zu kulturellen Unterschieden führen und damit zu kulturellen Grenzen werden – wie damals bei der Teilung Deutschlands. Diese beiden Grenzen sind in ihrer Wertigkeit nicht gleich: die nationalen sind scharf und unumstösslich, die kulturellen eher eine Art Gradient. Mit Genugtuung stelle ich aber fest, dass kulturelle Grenzen immer wieder und immer schon mit Gewinn überwunden wurden – ungeachtet der nationalen Grenzen. ........ Dass es kulturelle Grenzen gibt, damit eine Chance. Die Chance uns bereichern zu lassen. Severin Schwendener wurde 1983 in Münsterlingen geboren. Der Biologe und Autor lebt in Märstetten. 02 / Frage Was ist schwieriger zu überwinden: die Grenzen in sich oder die Grenzen um sich? 12 ... 13 02/1 Für mich eine hypothetische Frage; denn beide Grenzen haben miteinander zu tun und beeinflussen einander. Äussere Grenzen wie: Habe ich als Gitarrist ein gutes, unbeschädigtes Instrument, einen Ort zum Üben, habe ich die Zeit und auch das Geld, um mich meiner Musik widmen zu können? sind für mich als Musiker vordergründig banale, nichtsdestotrotz wichtige Fragen. Die inneren Grenzen dagegen haben mit dem künstlerischen Ausdruck zu tun: Was will ich, was suche ich, was darf ich, was kann ich erreichen in musikalischer und technischer Hinsicht? Wenn ich auf zu viele äussere Einschränkungen stosse, rückt die Frage nach den inneren Schranken in den Hintergrund. Dennoch würde ich nicht sagen, dass die äusseren Grenzen die dominanteren sind; prioritär sind sie wohl lediglich bezüglich Zeit. ........ Es gibt hingegen innere Grenzen, die mir immer mal wieder punktuell zu schaffen machen – wie es wahrscheinlich bei jedem Künstler der Fall ist. Beim Üben oder Komponieren kann es geschehen, dass ich irgendwann nicht mehr weiterkomme und ich mir sowohl inhaltliche wie grundsätzliche Fragen stellen muss: Wird aus diesem Stück etwas oder ist es zum Scheitern verurteilt? Gibt es denn Leute, die sich das anhören möchten? Kann ich das, was ich gerade übe, überhaupt in einen musikalischen Kontext einbauen? Ist Kultur vom Grundsatz her etwas Wichtiges? Oder braucht es uns Künstler gar nicht? ........ Mittlerweile weiss ich, dass es für den künst- lerischen Prozess und meine Entwicklung förderlich ist, dass ich an innere Stabilität zu erreichen. Ist ein Mensch innerlich instabil, agiert solche innere Grenzen stosse, dass es aber ebenso wichtig ist, dass er meist auch gegen aussen instabil und richtet damit Schaden an. ich über sie hinwegkomme und sie wieder hinter mir lasse. Ich kann Ein innerlich stabiler Mensch hingegen ist nicht leicht zu beeindru- mir nicht vorstellen, dass ich mit und in der Musik je an eine unüber- cken und schwierig zu manipulieren. Er ist gefasster und kann an- windbare Grenze stossen könnte. Die Musik ist für mich ein sicherer deren eine Stütze sein. Innere Stabilität ist die Voraussetzung für äussere Stabilität. Es ist die Problematik unserer westlichen Gesell- Wert, die Nummer 1 für meine seelische Befindlichkeit. Noam Szyfer, 1988 in Frauenfeld geboren, ist Schweizer mit costa-ricanischen Wurzeln. Der Musiker lebt in Zürich. 14 .. . 15 schaft, dass die Innenwelten nicht kultiviert und gefördert werden, auch nicht in der Schule. Unserer Politik fehlt der philosophische Bezug. Von Benjamin Franklin stammt der kluge Satz: «Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende alles verlieren.» ........ Innere Stabilität muss jeder auf seine Art finden, zum Beispiel mit Hilfe von Meditation, Religion, Philosophie, Kunst. Mein 02/2 Weg ist es, mir mit Kunst ein Refugium zu schaffen. Als Künstler ist es wichtig, sich nicht beeindrucken zu lassen und eine eigenständige Position einzunehmen. In meiner Kunst versuche ich GrenÄussere Grenzen – die Landesgrenzen und Sprachgrenzen, die Gesetze und die Kultur, in der jemand aufgewachsen ist – sind real und für alle erfahrbar. Sogar die Kräfte des eigenen Körpers setzen uns Grenzen. Innere Grenzen hingegen sind subjektiv. Sie sind ebenfalls geprägt vom kulturellen Hintergrund einer Person; beeinflussend sind aber auch der Charakter, die Bildung und die gesellschaftlichen Stellung. ........ Äussere Grenzen können nicht überwunden werden, man kann nur lernen, mit ihnen umzugehen und sie allenfalls durch persönliches Engagement zu verändern. Die inneren Grenzen auferlegen wir uns selber. Sie können durch Selbstvertrauen, Wille, Mut und Offenheit abgebaut, im Idealfall überwunden werden. ........ Grenzen haben auch mit Angst zu tun. Ziel jedes Menschen sollte es sein, eine möglichst grosse zen zu verschieben, um Neues zu erfahren, damit andere danach daran teilhaben können. Kunst ist Freiheit und Freisein. Simone Kappeler wurde 1952 in Frauenfeld geboren. Sie ist Fotografin und lebt in Frauenfeld. 03 / Behauptung Wer was erreichen will, muss Grenzen überwinden! 03/1 Diese Behauptung, in der ein Leis- tungsdruck verpackt ist, missfällt jedem Künstler, weil er aus sich 16 .. . 17 heraus ein Werk schaffen will und nicht weil es von ihm gefordert wird. ........ Kunstschaffen hat aber durchaus mit Grenzen zu tun: Wer als Künstler etwas erreichen will, muss die Latte hoch setzen. Haltung und Begabung des Künstlers werden ihm ohnehin Grenzen setzen. Je offener und weiter ein Künstler im Denken und Arbeiten ist, umso besser wird er verstanden. Je ungezwungener und unvoreingenommener er sich dem Unbekannten nähert und sich an den Rand seines Wissens wagt, umso grösser ist für ihn der schöpferische und persönliche Gewinn. Diese Wissenserweiterung ist im einen Fall vorwiegend intellektueller Natur, in einem anderen Fall manifestiert sie sich in seinem Werk. Auf der einen Seite stehen seine Absicht, eine Anregung oder etwas Fremdes; auf der anderen deren Materialisierung. Sehr oft geschieht etwas «aus dem Bauch» heraus, ohne Reflexion. Wichtiger als zu wissen, was entstehen wird, ist, dass der Künstler offen ist für den Prozess, der sich in ihm abspielt. Er nimmt etwas auf und gibt es weiter; seine Funktion ist die eines Durchgangsgefässes. ........ Heutige junge Künstler arbeiten eher nach Konzepten, weniger «frisch von der Leber weg». Das ist eine Feststellung, keine Kritik. Damit ist der Entstehungsprozess eines Werkes grundlegend anders als vor hundert Jahren. Die Maxime, dass Kunst etwas Universelles ist, hat sich jedoch nicht geändert. Der Kunstmarkt hingegen ist heute erbarmungslos ausgrenzend. ........ Ich finde es richtig und wichtig, dass jene immer interessierte, fand ich hier ein weites Feld. Für eine Arbeit jungen Künstler finanziell unterstützt werden, die aus dem Thurgau schen Fluchthelfer, der den Tunnel 57 mitgebaut hatte. Seine Er- weggehen. So wie es auch die Kulturstiftung macht. Wer geogra- zählungen setzte ich in einer Arbeit um: Aus der Menge des Tunnel- fisch fortgeht, bricht auch geistig auf und bringt Neues zurück, weil abraums errechnete ich, wie viele Lehmziegel sich daraus formen er oder sie Unbekanntes absorbiert und in das eigene künstle- lassen würden. Aus den 45 000 Ziegeln plante ich den Bau eines rische Schaffen integrieren kann. Der kreative Akt lässt sich als ein Raums des Nachdenkens: Was heisst es, sich physisch und psych- Vordringen in Neuland beschreiben. Insofern ist jede künstlerische isch durch diesen Stollen zu zwängen? Entspricht die Realität auf der anderen Seite der Grenze dem, was ich erwartet habe? ........ Tätigkeit ein Überwinden von Grenzen – was im Übrigen für jeden Menschen gilt, der einen wachen Geist hat. Richard Tisserand (Weber) wurde 1948 in Eschenz geboren. Der Künstler und Kurator des Kunstraums Kreuzlingen lebt in Eschenz. über diese unsichtbare-sichtbare Grenze traf ich einen westdeut- 18 .. . 19 Da ich noch nie existenziell bedroht war, bleibt mir einzig die Empathie, die ich denen entgegenbringe, die solches erlebt haben oder aktuell erleben. ........ Eine für meine Entwicklung entscheidende Erfahrung von Grenze machte ich mit meinem Grossvater. Mit ihm habe ich während seiner letzten sechs Lebensjahre zusammengearbeitet. Im Wettrennen gegen das Vergessen und Vergehen gab der nahende Tod immer unübersehbarer das Tempo 03/2 an. Die wohl grösste, letzte Grenze für ihn wie für uns alle überschritt mein Grossvater im Alter von 101 Jahren. Er verschwand dorthin, wo Worte nicht mehr hingelangen. Und Worte waren es, die Haben Grenzen nicht oft eine Trigger- ich in der Arbeit «An Grossvaters Küchentisch» zum ersten Mal funktion? Allein weil sie da sind, fordern sie heraus, dass sie je- als mein Ausdrucksmittel wählte. Ich überwand mein bisheriges mand übersteigt, unterwandert, bekämpft oder negiert. Die Gründe Schaffen (liess ich wohl eine Grenze hinter mir?), erkennend, dass reichen von Aus- oder Abgrenzung über wirtschaftliche Not bis zum mit Worten Grenzen verschoben und neue Räume eröffnet werden Politprotest. Manchmal bezahlt man dafür mit dem Leben – so wie können. Und doch: Auch Worte haben ihre Grenzen. in Berlin vor dem Mauerfall. Hier lebe ich seit 2003. Die Mauer wurde durch einen politischen Federstrich zum Einsturz gebracht. Doch während die visuelle Grenze verschwand, blieb jene in den Köpfen vieler Deutscher bestehen. Zum Thema Grenze, das mich schon Daniela Gugg wurde 1981 in Frauenfeld geboren. Sie lebt als freischaffende Künstlerin in Berlin. 04 / Frage Haben Grenzen mit Angst zu tun? 04/1 Irak, das Land meiner Kindheit und Jugend, ist so gross, dass ich nie in Kontakt kam mit geografischen Grenzen. Sie waren für mich ein Abstraktum bis zu dem Tag, an dem ich mein Land verlassen musste und diese Grenzen erstmals 20 .. . 21 sah und erfuhr. Aus meinem Land war ein Land der Kriege geworden mit einem Alltag der Brüche, Unsicherheiten und – ja – auch der dauernden Angst. Seither sind Grenzen und Angst für mich wie Zwillinge oder wie zwei Parallelen. ........ Dass ich schliesslich floh, hatte auch mit meinen inneren Grenzen zu tun, die ich nicht mehr aushielt. Statt mit Zutrauen begegnete ich allen Menschen mit Misstrauen. Nicht Zuversicht bestimmte mein Tun, sondern lauernder Argwohn. Ich kontrollierte jedes Wort, das ich sagte oder schrieb. Selbst ein weisses Blatt machte mir Angst; denn es hätte mich dazu verleiten können, etwas aufzuschreiben, für das ich mich strafbar machen würde. Was immer ich sagen und wo immer ich mich äussern wollte, alles musste erst meinen inneren Filter passieren. Sogar in meiner Masterarbeit über einen arabischen Schriftsteller konnte ich die literarischen Leerstellen interpretativ nicht so ausfüllen, wie es ein Akademiker tun müsste. Die Folge war eine Grundangst, die mich bis heute begleitet. Sie verunmöglicht mir, dass ich Menschen uneingeschränkt vertrauensvoll entgegentreten kann. ........ Nach meiner Ankunft in der Schweiz sprach ich zuerst kein Deutsch. Ich beobachtete bloss, prüfte und schaute, wo hier die Grenzen sind, damit ich mich darin neu definieren konnte. Ich weiss, meiner Meinung nach auch im Verhältnis eines Menschen zu sich einen Raum ohne Grenzen gibt es nicht. Ich kann diese sichtbaren selbst: Welche Grenzen akzeptiert man sinnvollerweise, und in und unsichtbaren Linien teilweise verschieben, indem ich die Spra- welchen sperrt man sich selbst ein aus Angst vor Wachstum und che lerne, mich anpasse und mit der hiesigen Gesellschaft so weit möglich verschmelze. ........ Das Leben gibt uns die Möglich- Weiterentwicklung? Grenzen werden im Verhältnis zu sich selbst keit, immer wieder über Grenzen nachzudenken, über sie hinaus zu man alte Grenzen überschreiten und grössere Weite gewinnen. Bei denken, auf die andere Seite des Gegebenen zu gelangen, ohne jeder Grenze, die man zieht, erscheint es mir wichtig, auch einen dabei Regeln zu verletzen. Befassen wir uns beispielsweise mit dem Blick auf die Ängste dahinter zu werfen: Je besser man sie versteht Tod, verlassen wir die Grenzen, innerhalb deren sich unser Leben ab- und identifiziert, desto souveräner kann man die Grenzen ziehen. ........ Was aber ist mit Grenzen, die man nicht selbst zieht, ja nur dann weiter, wenn man sich Ängsten stellt. Erst dann kann spielt. Usama Al Shahmani, 1971 in Bagdad geboren, ist Iraker. Seit 2002 ist er in der Schweiz und lebt heute als Literaturwissenschaftler (arabische Literatur) in Frauenfeld. sondern hinnehmen und erleiden muss? Grenzen, die jeder Flücht22 .. . 23 ling erlebt, wenn er (oder sie) sich auf einen lebensgefährlichen Weg macht, weil er in seiner Heimat an unerträgliche Grenzen gestossen ist? Er flieht und steht wieder vor Grenzen, die ihm den Zutritt in ein neues Leben versperren. Unvorstellbar. Bis in solche Dimensionen reicht meine Vorstellung nicht. Um auch nur eine Ahnung davon zu bekommen, muss ich mir das erzählen lassen. ........ Dies sind 04/2 Erfahrung von Grenzen und von Angst, die das, was ich kenne, bei Ja, ich denke, Grenzen haben meist mit weitem überschreitet. Hier ist man vielleicht aufgerufen, sich zu fra- Angst zu tun. Da beide Worte in alle Richtungen offen sind, hängt der gen, wem man wo bei der Überschreitung von Grenzen und der Über- genaue Zusammenhang vom jeweiligen Kontext ab: Wenn in einer windung von Angst helfen kann. Diktatur Mauern errichtet und Grenzen geschlossen werden, steht dahinter die Angst, dass die Leute aus dem Land fliehen könnten. Grenzen und Angst stehen also in einem Zusammenhang von Macht und Aggression. Wenn Eltern den Laufbezirk eines Kleinkindes eingrenzen, dann tun sie das aus Angst vor Gefahren. Der grössere Zusammenhang ist ein ganz anderer, nämlich der von Schutz und Sicherheit. ........ Eine wichtige Rolle spielen Angst und Grenzen Bernadette Conrad, 1963 in Stuttgart geboren, lebt als Kulturjournalistin und Autorin in Konstanz. 05 / Zitat (Charlotte Brontë) «Weder Herkunft noch Geschlecht setzen dem Genie Grenzen». 05/1 Ich stolpere über das Wort «Genie», das zu einer anderen Zeit gehört und bei dem ich an Mozart, Leonardo Da Vinci, Goethe … denke. Ich ersetze daher «Genie» durch «Kunstschaffender». ........ Geburtsort und Geschlecht sind zu Beginn unseres Lebens einfach mal gegeben. Dass sie zu bestimmenden Faktoren werden können, bestreite ich nicht. Ob daraus 24 .. . 25 jedoch schwer überwindbare Grenzen werden, bezweifle ich hingegen. ........ Freilich, ich habe bei Gruppenausstellungen oder Wettbewerben für Kunst im öffentlichen Raum schon beobachtet, dass Künstler öfter zum Zug kommen als Künstlerinnen. Erklären kann ich es mir nicht. Künstler und Künstlerinnen unterscheiden sich für mich nicht durch ihr Werk, sondern durch die genderspezifische Herangehensweise, die geprägt ist durch Erziehung, Erinnerungen und Lebensgeschichte. ........ Gewisse Kolleginnen und Kollegen beklagen sich bisweilen, dass Kantonsgrenzen beziehungsweise Landesgrenzen entscheiden, ob sie als Kunstschaffende wahrgenommen werden. Das war vor 30 Jahren, als ich an der Kunstakademie in Wien war, tatsächlich so. Ganz unverkrampft ist dieses Hin und Her über die politischen Grenzen hinweg auch heute (noch) nicht, auch wenn ich niemandem ein bewusstes Ausgrenzen-wollen unterstelle. Ich kann mich auch nicht beklagen, dass ich im Thurgau, in der Schweiz überhaupt, als Künstler weniger Chancen hatte und habe, weil ich Österreicher bin. Das rechne ich dem hiesigen Kunst- betrieb hoch an. Etwas anderes ist das Gefühl von Fremde, das auch ich mir meinen Platz als Frau im Kunstbetrieb selbstbewusst und ich, der ich nun seit 1982 in der Schweiz und seit 2001 im Thurgau selbstverständlich immer wieder nehmen. Das ist eine Anstrengung, lebe, kenne. Das ist per se weder schlecht noch schlimm. Mit meinem jedoch eine, die sich lohnt. Wegen oder vielleicht trotz meiner per- Lissabon-Projekt habe ich diese Fremde, die geografische, sprach- sönlichen Erlebnisse von Grenzen – ich rede lieber von Unterschie- liche und kulturelle, sogar gesucht. Ich setzte mich mit ihr ausein- den –, die mit meiner Herkunft und meinem Geschlecht zusammen- ander, bis sie mir zur «fremden Nähe» wurde. Aus Erfahrung und hängen, will ich meinen Fokus bewusst nicht auf Einschränkungen Überzeugung sage ich daher: Das Land ennet der Grenze wird nah und Widerstände legen. Das ist eine Frage der persönlichen Hal- und fruchtbar, wenn ich mich öffne. Ob ich Grenzen als etwas Negatives erfahre oder sie mir sogar selbst aufbaue, bestimme ich zu ei- tung. Seit ich künstlerisch tätig bin, arbeite ich interdisziplinär und in unterschiedlichen Gemeinschaften. ........ Als ich in den nem guten Teil selbst. Ich bin ein neugieriger Mensch, der sich nicht 70er-Jahren meine Ausbildung zur Künstlerin begann, war beides, begrenzen will. Geschlecht und Herkunft, noch eine Determinante. In meinem bäuerlichen Umfeld war mein Weg in die Kunstwelt weder vorgedacht, Othmar Eder wurde 1955 in Kufstein geboren, er ist Österreicher. Er lebt als Kunstschaffender in Stettfurt. noch vorgezeichnet oder vorbereitet. Meine Herkunft bestimmte 26 .. . 27 auch die finanziellen Möglichkeiten und damit Weg und Strategien, wie ich zu meinem Ziel gelangen konnte. Das Thema Frau und Kunst wurde damals auch in Fachkreisen immer wieder heiss diskutiert: 05/2 Machen Frauen eine andere Kunst, welchen Stellen- und finanziellen Wert haben ihre Werke, was wollen sie im Kunstbetrieb? Heute gehören Frauen ganz selbstverständlich dazu und mischen diesen auf. Eine bemerkenswerte und erstaun- Wird die Genderdiskussion geführt, orientiert sie sich heute an neu- liche Aussage für eine Frau aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhun- en Themen und greift Fragen aus dem aktuellen kulturpolitischen derts, die mir gefällt und der ich zustimme, auch wenn ich mich mit und gesellschaftlichen Bereich auf. dem idealisierenden Wort Genie schwer tue. Spiegle ich das Zitat jedoch an der Realität des 21. Jahrhunderts, muss ich hinter die Umsetzung dieses Satzes ein Fragezeichen setzen. Das heisst jedoch nicht, dass ich mich diesen Grenzen beuge; ich bin ihnen nicht einfach ausgeliefert. Vorausgesetzt sind allerdings Neugier, ein klares Ziel und eine nicht erlahmende Hartnäckigkeit. Nur so kann Heidi Schöni wurde 1953 in Frauenfeld geboren. Die freischaffende Künstlerin und Dozentin für Gestaltung und Kunst wohnt in Schmidshof. 06 / Behauptung Nichts in der Kunst ist mehr zu fürchten als Grenzen! 06/1 Einspruch! Grenzen sind in der Kunst etwas Produktives. Kunst ist DIE Plattform der Gesellschaft, wo Grenzen ausgehandelt werden können und sollen. Interessant ist herauszufinden, wo diese Grenzen liegen, und sich zu überlegen, mit welchen Mitteln diese ausgehandelt werden können. Das geschieht entweder durch oder in einem Kunstwerk, via Kunstvermittlung im Museum oder mittels Kunstpädagogik. In diesem Dreieck bewege ich mich täglich; in dieses Dreieck stelle ich auch mein Projekt im Haus zur Glocke in Steckborn. Ich habe Kunstschaffende eingeladen, 28 .. . 29 die an diesem und für diesen Ort etwas Anspruchsvolles, vielleicht sogar Avantgardistisches wagen wollten. Gleichzeitig möchte ich, dass sich Menschen aus Steckborn, wo ich die Hälfte der Zeit lebe, die eine Nähe zu Bildung und Kultur haben, sich eingeladen fühlen und im doppelten Wortsinn eine Schwelle überschreiten. Denn aus solchen Begegnungen entstehen Reibung und Verunsicherung, die zu einem verbalen Austausch führen und damit zu einer vertieften gedanklichen Beschäftigung. Kunst lebt nur, wenn sie diskutiert wird. Dazu braucht es eben diese Grenzen, die immer wieder ausgehandelt werden müssen. Ich weiss, ich lehne mich damit ziemlich weit aus dem Fenster. Ich bin jedoch überzeugt, dass alle diesen Mehrwert schätzen. ........ In der Kunst fürchte ich nur eines: den Elfenbeinturm. Es geht nicht an, dass der persönliche Geschmack als Massstab genommen wird, jemanden gesellschaftlich einzu- teilen: hierarchisch oben die kulturell Gebildeten, unten die Unwis- also darum herauszufinden, wie ich mich als Individuum im Kultur- senden. Alles, was Menschen ausschliesst oder sie blossstellt, lehne betrieb positioniere. Will ich in einer vordefinierten Welt arbeiten ich ab. Daher ist die Vermittlung so wichtig, wozu aber auch Kunst- oder ziehe ich mich in die neoliberale Subkultur zurück? Subkul- schaffende bereit sein müssen. Ein soziales Kulturprojekt, bei dem turen spielen in einer kapitalistischen Gesellschaft eine wichtige Flüchtlinge, Lagersituationen oder politische Missstände benutzt Rolle. Wie sehr sie uns prägen, ahnen wir noch nicht einmal. Sich werden, um sich als Künstler zu profilieren, ist mir zutiefst zuwider. den gesellschaftlichen Bewegungen entgegenzustellen, ist zweck- Das ist nichts anderes als aus Horror Ästhetik machen. Deshalb los. Hingegen halte ich es für machbar, sie zu beeinflussen. So ist mein Projekt in Steckborn richtig und mir wichtig: Hier lebe ich und wie ich einen Fuss in eine sich schliessende Tür halten kann und habe einen Bezug zu den Menschen. damit riskiere, dass er zerquetscht wird, kann ich andersrum eine aufgehende Tür mit dem Fuss noch weiter aufstossen. Genau gleich Judit Villiger wurde 1966 in Luzern geboren. Sie lebt als Kunstschaffende und Dozentin für Kunstpädagogik in Zürich und Steckborn. verhält es sich in der Kunst, welche die gesellschaftlichen Bewegungen seismographisch aufnimmt und mitgestaltet. ........ Ich arbeite gerne und ausschliesslich an noch nicht definierten Rändern. Mit dem digitalisierten Wissen ist etwas Neues in die Kunst gekommen, das eine immer wichtigere Rolle spielt, weil es 06/2 einen frischen, anscheinend grenzenlosen Fundus bereitstellt. Doch 30 .. . 31 Achtung! Dieses sogenannte Open-source-Konzept in der bildenden Kunst verspricht zwar Öffnung, führt aber oft in eine neue Ab- Es gibt Tendenzen im Kunstbetrieb, hängigkeit, ähnlich einer Leibeigenschaft. Es stellt sich nämlich die von der Kunst erwarten, dass sie in gesellschaftliche Prozesse die Frage, wie frei mein Denken und Handeln noch ist, wenn es eingreift und sich gegen die immer restriktiveren politischen Gren- dank oder wegen der Digitalisierung jederzeit auch gegen mich zen zur Wehr setzt. Das finde ich nicht sinnvoll, weil wir in der Kunst verwendet werden kann und ich ihm ausgeliefert bin. genau die gegenläufige Tendenz beobachten: Der Kunstbetrieb erfreut sich einer globalen Öffnung, wohingegen in der Politik Grenzen geschlossen werden. ........ Viel spannender scheinen mir die inneren Grenzen. Ich zitiere Ludwig Wittgenstein: «Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. Die Logik erfüllt die Welt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen.» Es geht Hannes Brunner, 1956 in Luzern geboren und im Thurgau aufgewachsen, lebt als Kunstschaffender in Zürich und Berlin, wo er an der Kunsthochschule Weissensee die Professur für Bildhauerei inne hat. 07 / Frage Globalisiert und global vernetzt! Fallen damit Grenzen für Kunstschaffende? 07/1 Mit Sicherheit sind durch die Globalisie- rung Grenzen gefallen, auch wenn ich aufgrund meines Alters nicht sagen kann, welche es waren. Ich profitiere von der globalen Vernetzung für meine Arbeit als Musiker und Fotograf (ohne Internet hätte ich mir das Fotografieren beispielsweise nicht selbst beibringen können). Im Netz surfen ist wie schwimmen im Meer. Mal lasse ich mich treiben, mal habe ich ein Ziel vor Augen wie dann, wenn ich ohne Hemmungen Personen anschreibe, die ich in einem anderen Umfeld nicht ansprechen würde. Das Internet ist nicht nur theoretisch eine grenzenlose Welt, sie ist es auch tatsächlich. Dabei kann ich mit dem, was ich tue, weltweit präsent sein und dennoch – je nach Wunsch – anonym bleiben. Dem Segen des global und frei ver32 .. . 33 fügbaren Angebotes steht die Schwierigkeit gegenüber, sich innert nützlicher Frist in dieser Fülle ohne Einordnung zurechtzufinden. Das kann Angst machen. Dennoch möchte ich im Kunstbereich nicht darauf verzichten müssen. Vielleicht brauche ich deshalb ab und an das Altmodische. ........ Meine Fussreise 2012 von der Schweiz nach Istanbul war letztlich eine Absage an die globale Hektik. Auch meine Fotos auf Glasplatten, für deren Entwicklung ich die Lösung selbst mische, ist eine Abkehr vom Schnellen, immer und überall perfekt Plan- und Machbaren. Es gilt dabei unzählige Grenzen zu überwinden: geografische, physische, technische, gedankliche. Sowohl mit der Fussreise wie mit meiner Art von Fotografien setze ich mich Unwägbarkeiten aus, gewinne dafür aber Authentizität. Bei und angemessen ist. Der digitale Kontakt kann Startpunkt sein. Um beidem beobachte ich etwas Erstaunliches: Sobald ich eine Grenze hinter mir gelassen habe, verschwindet sie aus meinem Bewusst- ein funktionierendes, verlässliches Netzwerk zu haben, braucht es nach wie vor die persönliche Begegnung. ........ Das globale Unter- sein. Grenzen existieren offenbar, solange ich sie als solche wahr- wegs-sein – geografisch wie technisch – ist für mich eine Selbstver- nehme. Ich frage mich: Sind Grenzen deshalb interessant, weil sie ständlichkeit. Ich sehe vor allem Vorteile: Unmittelbarkeit, Schnellig- Widerstand bedeuten und Widerstand provozieren? Globalisierung keit, Direktheit, ohne dass für mich dadurch die Verbindlichkeit auf und Vernetzung sind toll. Dennoch bin ich froh, dass es Bereiche der Strecke bliebe. Nichts von Hektik und Erwartungsdruck. Auch gibt mit Grenzen, hinter die ich mich zurückziehen kann in etwas früher vernetzten sich Kunstschaffende, nur viel langsamer, meis- Eigenes, Bekanntes, Sicheres. tens dialogisch, oft analog. Für mich ist klar: Ich bin Befürworterin des Sharing-Gedankens – gemeinsam nutzen statt für sich behalten. Benjamin Lind wurde 1990 in Basel geboren. Er lebt als Musiker/Sozialpädagoge/Fotograf in Steckborn. Weder meine Idee noch mein Projekt leiden darunter. Im Gegenteil. Die Kraft des Kollektivs liegt im Austausch und in der Zusammenarbeit, das neue Felder öffnet und zu überraschenden Resultaten führt. Das Individuum verliert den Status als Einzelmaske, es gewinnt dafür seine Relevanz durch und in der Gemeinschaft. ........ Ob- 07/2 wohl ich internetaffin bin und den Dienstleistungscharakter der sozialen Netzwerke nutze und schätze, wünsche ich mir ab und zu, dass deren Bewirtschaftung weniger zeitintensiv wäre. Die grösste Die Frage geht von einem Vorher und einem Nachher aus. Mit Jahrgang 1980 bin ich in die digitale Revolution hineingewachsen. Was für ältere Kunstschaffende als Königsweg galt: Künstler – Galerie – Sammler, ist zwar nicht vorbei. Kunstschaffende jeden Alters teilen sich heute mühelos online über Webseiten, Tumblr und Facebook etc. mit. Die Folge ist eine schnelle und breite Präsenz überall auf der Welt. Mit der digitalen Vernetzung änderten sich sowohl die Kommunikationswege wie auch die Abläufe im Markt. Kunstinteressierte sehen sich Ausstellungen online an. Sammler agieren heute autonomer. Damit ist nicht gesagt, dass die Rezeption der Kunstschaffenden und ihrer Werke sichergestellt 34 .. . 35 Herausforderung ist nicht das Finden von interessanten Personen. Schwieriger sind die Selektion und das Bewerten der Qualität. Sara Widmer, 1980 in Frauenfeld geboren, wuchs in Sirnach und Bichelsee auf. Die bildende Künstlerin lebt in Zürich und arbeitet seit 2012 im Kunstkollektiv CKÖ. 08 / Frage Welche Grenze stört mich, welche brauche ich? 08/1 Kunst und Kultur kennen keine Grenzen. Diese Aussage ist für mich eine gültige Denk- und Handlungsmaxime, die auch für meine Tätigkeit bei der Kulturstiftung zentral ist. Mein Anliegen ist, dass wir mit unserer Förderung Projekte anstossen und ermöglichen, die künstlerisch Grenzen ausloten und überschreiten. Essentiell ist aber auch das Beharren auf künstlerischer Arbeit, die sich über Grenzen in Köpfen und auf Landkarten hinwegsetzt und Diskussionen provoziert, gerade jetzt, wo in Europa wieder Stacheldrahtzäune errichtet werden. So sind mir Grenzen höchstens ein Denkanstoss, brauchen tu ich sie nicht. Gioia Dal Molin, Zürich Beauftragte der Kulturstiftung des Kantons Thurgau Mitglied des Stiftungsbüros 36 .. . 37 08/2 08/3 Die Vorstellung, dass die Menschen einst glaubten, die Erde sei ein Teller, flösste mir als Kind Angst ein. Ich malte mir aus, wie sie am Rand in die Leere stürzten. Heute ist für viele Menschen das Überschreiten der Landesgrenzen dramatisch und gefährlich. Ihre Angst hat einen realen Grund. ........ Ich bin froh um Grenzen im Alltag, sei es nur um die Armlehne, die mich im Zug vom Nachbarn trennt. In unserem Büro ist die Grenze zur Aussenwelt eine Tür aus Glas. Wer die Schwelle überschreitet, wird möglicherweise zu einem Kaffee eingeladen. Das ist ungefährlich – ausser es sei ein Kaffee zu viel am Tag. Unnatürliche, willkürliche Grenzen bereiten mir Mühe. Nicht-organische Einschränkungen, die aus politischem Interesse, zu erzieherischen Zwecken oder aus religiösen Gründen aufgestellt sind, kann ich – will ich – nicht akzeptieren. Das ist natürlich eine sehr individualistische, unrealistische Einstellung. Aber ich behaupte, ich verfüge über genügend Verstand, Vernunft, Mut und Willen, um, wenn nötig, mir selber Grenzen zu setzen. C’est ça la liberté. Et j’ai la chance d’avoir dans ma vie une énorme liberté de mouvement et de décision. Enfin je crois … Caroline Minjolle, Zürich Mitglied des Stiftungsbüros Silvia Jenny, Frauenfeld Mitglied des Stiftungsbüros 38 .. . 39 08/4 08/5 Mich stören Grenzen, die Ausgrenzung meinen, hier «wir», dort «die Anderen». So wird einer Weltsicht Tür und Tor geöffnet, die das Andere nur als Gegensatz und Bedrohung begreift. Damit wird verdrängt, dass sich der Schmerz der anderen in nichts von unserem unterscheidet, dass wir im Streben nach Glück gleich sind. Ausgrenzung ist unerträglich und töricht, zynisch und gefählich. ........ Fruchtbar jedoch sind die Grenzen meiner Möglichkeiten: Diesseits dieser Grenzen gibt es den Komfort von Kompetenz und Erfahrung, jenseits davon ein verlockendes Unbekanntes, das zu entdecken ist. Das ist Ansporn, Inspiration und Glück. Für den einen gibt’s aus Prinzip keinen Fisch, für den anderen keine zeitgenössische Kultur. Solche Grenzen im Kopf stören mich. Um die aktuelle Informations- und Kommunikationsflut gut zu überstehen, sind Abgrenzungen nötig. Dafür schalte ich auf offline und ziehe eine Grenze zwischen dauerpräsent und unerreichbar. Grenzerfahrungen körperlicher Art brauche ich dagegen nicht. Lieber steige ich vom Schlitten, als auf eisiger Spur in grenzenlosem Tempo ins Tal zu rasen. Grenzen im Kopf überwinde ich aber gerne. Ich schätze Begegnungen mit dem Unbekannten – nicht nur, aber auch im Kulturbereich. Claudia Rüegg, Zürich Präsidentin der Kulturstiftung Renate Bruggmann, Kradolf Stiftungsrätin 40 .. . 41 08/6 08/7 Ute Klein, Amriswil Stiftungsrätin Muda Mathis, Basel Stiftungsrätin Ich untersuche als Malerin das Fliessen. Mich interessieren der Mischprozess und die Wechselwirkungen von Unterschiedlichem, z.B. zwischen dem (Farb)Fluss, dem Untergrund und dem vielleicht teils mitfliessenden Umfeld: Wann leuchten Farben im Nebeneinander, wann ist es nur noch eine graue Sauce? ........ Ich stamme von Familien ab, die mehrfach emigrieren und flüchten mussten. Ich wuchs an vielen Orten auf. Hier im Oberthurgau, in einer «stillen Zone» am Rand der Schweiz, schätze ich den (Frei)Raum und dass ‹dieser Rand› mitten in Europa liegt. Grenzen sind Konzepte. Konzepte sind etwas Schönes. Konzepte können ganz schön an Gewicht gewinnen. Konzepte sind Erfindungen. Erfindungen mag ich, weil man immer wieder neue Erfindungen machen kann. Grenzen sind die Haut eines Körpers. Grenzen sind Ränder und erzeugen Oberfläche. Ich liebe Oberflächen, denn da ist am meisten Berührung mit dem Andern möglich, da entsteht Reibung. Grenzen ermöglichen, das Andere zu anerkennen. Ich glaube an Konzepte, die durchlässig sind. 42 .. . 43 08/8 08/9 Jede Grenze stört mich, allein den Begriff empfinde ich als Provokation. Grenzen werden zu Verboten und fordern mich heraus, stacheln meinen Trotz an, und obwohl ich in meinem fortgeschrittenen Alter längst weiss, wie kindisch das ist, lehne ich mich gegen jede Eingrenzung auf. Zugegeben, das Erkennen eigener und allgemeiner Unfähigkeiten zwingt zu Bescheidenheit, lehrt Genügsamkeit, aber nichtsdestotrotz heisst leben, Neues zu wagen und gegen Grenzen anzustürmen. Denn: Auch Grenzen sind fliessend, in Bewegung und – lassen sich aufheben, verändern und neu erfahren. Auf den Boden gedrückt, in eine Ecke gedrängt oder in eine Schublade gesteckt – gegen solche Engführung lehne ich mich seit jeher auf. Sei es als Kind, wo ich als Ausländer «Tschingg» geschimpft wurde, sei es als junger Pfarrer, der ein schwules Paar verheiratete und darum den rechten Glauben abgesprochen erhielt. Da lobe ich mir die direkte Demokratie, deren Entscheide, sie mögen aus meiner Sicht gut sein oder nicht, mir als Politiker nach gewalteter Diskussion den Rahmen für mein Handeln setzen. Anders Stokholm, Frauenfeld Stiftungsrat Peter Höner, Uesslingen Stiftungsrat 44 .. . 45 08/10 08/11 Grenzen geben Halt. Solange Austausch stattfinden kann, sind sie wichtig. Ich bin in Rumänien, Deutschland und der Schweiz aufgewachsen, 17 mal umgezogen, und ich besitze einen C-Ausweis. Habe häufig neue Grenzen ausgelotet. Es ist bereichernd, zwei kulturelle Hintergründe zu haben. Seit ich fünf bin, singe ich rumänische Volkslieder. Studiert habe ich klassischen Gesang. Die Grenzen zwischen meinen verschiedenen Stimmen und Ausdrucksweisen beschäftigen mich täglich. Ohne Grenzen keine Unterschiede. Werden sie jedoch zugemacht und das Andersartige ausgeklammert, bleibt etwas stehen. Unerfüllbare oder unerfüllte Erwartungen an mich oder andere setzen mir Grenzen. Das ist nicht immer einfach, macht mich manchmal traurig, manchmal aber auch froh. Immer dann, wenn es mich vor etwas bewahrt hat. Beim Schreiben, eine meiner liebsten Beschäftigungen, stosse ich an Grenzen sprachlicher Kompetenz. Das belastet mich bedingt, weil ich mir nicht anmasse, eine Schriftstellerin zu sein. Es reicht, eine gute Journalistin sein zu wollen. Äussere Grenzen sehe ich als Richtlinien, mal sinnvoll, mal unverständlich, übers Ganze betrachtet zumeist hilfreich. Kathrin Zellweger, Weinfelden Stiftungsrätin Irina Ungureanu, Mettmenstetten Stiftungsrätin 46 .. . 47 08/12 In der Schule wünsche ich mir grenzenlose Neugier, unbegrenzten Wissensdurst von allen Beteiligten, einen schrankenlosen Zugang zum Universum des Wissens, Offenheit für Neues. Damit Schule aber gelingt, müssen wohl, auch wenn es paradox erscheinen mag, immer mal wieder Grenzen gesetzt werden. Wenn an diesen Grenzen Reibung entsteht, sie immer wieder verhandelt und hin und wieder auch verschoben werden, dann sind es genau diese Prozesse, welche die Arbeit interessant und Schule lebenswert machen. Lorenz Zubler, Landschlacht Stiftungsrat 25 Ja h re Kulturstiftu ng 48 .. . 49 Herausgeberin ...... Kulturstiftung des Kantons Thurgau, Frauenfeld Redaktion ...... Caroline Minjolle Interviews / Korrektorat ...... Kathrin Zellweger, Weinfelden Gestaltung ...... Susanna Entress und Urs Stuber, Frauenfeld Druck ...... Sonderegger Publish, Weinfelden Copyrights ...... 2016 bei den Autorinnen und Autoren Alle Rechte vorbehalten ©2016 Kulturstiftung des Kantons Thurgau Lindenstrasse 12 CH 8500 Frauenfeld www.kulturstiftung.ch 50 .. . 51
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