Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Die radikalen Marys
Die englischen Feministinnen Mary Wollstonecraft
und Mary Shelley
Von Imogen Rhia Herrad
Sendung: Donnerstag, 06.10.2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Charlotte Grieser
Regie: Andrea Leclerque
Produktion: SWR 2016
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MANUSKRIPT
Atmo 1 Regenrauschen
MU 01:
Frankenstein-Soundtrack? (am liebsten der Film von 1931; sonst etwas schön
atmosphärisches) darauf:
Zitator:
In einer düsteren Novembernacht war es soweit: ich baute das Instrumentarium des
Lebens um mich auf, um dem reglosen Körper, welcher da zu meinen Füßen lag,
den Leben spendenden Funken einzuhauchen. Meine Kerze war schon zu einem
Stümpfchen herunter gebrannt, als ich in dem Geflacker der schon erlöschenden
Flamme das ausdruckslose, gelbliche Auge der Kreatur sich auftun sah. Ein
schwerer Atemzug hob ihre Brust und ein krampfhaftes Zucken lief durch ihre
Glieder...
Atmo 1 Blitzschlag
Erzählerin:
Mary Shelley ist noch nicht einmal zwanzig Jahre alt, als sie vor zweihundert Jahren
die Geschichte des Wissenschaftlers Viktor Frankenstein schreibt, der ein Monster
erschafft, das er nicht mehr beherrschen kann. „Frankenstein“ wird sofort zum
Bestseller. Seine Popularität und Aktualität hat er bis heute behalten. Das liegt auch
daran, dass man ihn auf vielerlei Weise lesen und interpretieren kann, erklärt die
amerikanische Literaturwissenschaftlerin Charlotte Gordonvom Endicott College in
Massachusetts.
OT 01 Charlotte Gordon:
Frankenstein in many ways can be depicted as a parable... when it isn‟t curtailed by
feminist values. „14“
Übersetzerin:
Frankenstein ist auch eine Parabel auf eine Welt ohne Mütter: es wird gezeigt, wie
gefährlich ungezügelter männlicher Ehrgeiz ohne das Gegengewicht feministischer
Werte sein kann.
Musik:
Ansage:
„Die radikalen Marys – Die englischen Feministinnen Mary Wollstonecraft und Mary
Shelley”. Eine Sendung von Imogen Rhia Herrad.
Erzählerin:
Mary Shelley ist die berühmte und gelehrte Tochter einer berühmten und gelehrten
Mutter: der Autorin, Philosophin und Feministin Mary Wollstonecraft. Wollstonecraft
steht ganz in der Tradition der Aufklärung, sie ist revolutionär, freidenkend,
2
optimistisch. In ihren Schriften feiert sie die Französische Revolution und fordert
ungestüm Freiheit und Gleichheit – und zwar für Männer und Frauen.
Zitatorin 1:
Ich werfe hier meinen Fehdehandschuh und leugne die Existenz
geschlechtsspezifischer Tugenden. Denn Mann und Frau müssen wahrhaftig, wenn
ich die Bedeutung des Wortes richtig verstehe, gleich sein.
Erzählerin:
Mutter wie Tochter sind feministische Denkerinnen. Beide kritisieren die
Geschlechterrollen und die Doppelmoral ihrer Zeit; aber in ihren Schriften und in
ihrem Leben verfolgen sie ganz unterschiedliche Ansätze. Mary Wollstonecraft
kommt 1759 als älteste Tochter einer verarmten bürgerlichen Familie in London zur
Welt. Ihr Bruder wird zur Schule geschickt, während sie, intelligent und wissbegierig,
aber nur ein Mädchen, schon früh im Haushalt mithelfen muss. Wenn so die Ehe
aussieht, beschließt sie, dann will sie auf gar keinen Fall heiraten. Allerdings gibt es
für eine Tochter aus bürgerlichem Haus kaum Karrierechancen. Sie schlägt sich als
Gesellschafterin und als Gouvernante durch. Mit Mitte zwanzig schließlich findet sie
in London einen kleinen Kreis verwandter Geister in der aufklärerischen Gemeinde
des Pfarrers Richard Price. Er macht sie mit dem Verleger Joseph Johnson bekannt,
durch den Wollstonecraft viele andere radikale Vordenker ihrer Zeit kennenlernt,
darunter einflussreiche Intellektuelle wie Benjamin Franklin, Thomas Paine und den
anarchistischen Philosophen William Godwin. Auf einmal ist sie mittendrin in der
intellektuellen Avantgarde. Sie verfasst Buchbesprechungen und Artikel über Bildung
und Kultur, und Johnson veröffentlicht ihre Arbeiten. Stolz und begeistert erklärt sie in
einem Brief:
Zitatorin 1:
Ich werde nie meine intellektuelle Arbeit gegen häusliche Zufriedenheit eintauschen!
Erzählerin:
1789 bricht in Frankreich die Revolution aus, deren Fortgang auch auf der anderen
Seite des Ärmelkanals mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wird. 1790, gerade dreißig
Jahre alt, verfasst Mary Wollstonecraft eine viel gelesene Erwiderung auf die
revolutionskritische Schrift des englischen Staatsmannes Edmund Burke. Dieser
hatte knappe fünfzehn Jahre zuvor die Amerikanische Revolution gepriesen, doch
nun verurteilt er die Revolution in Frankreich und kritisiert die Proklamation
universaler Menschenrechte. Wollstonecraft reagiert scharf und pointiert:
Zitatorin 1:
Eine Verteidigung der Menschenrechte!
Erzählerin:
Als ein Jahr später der französische Nationalkonvent eine neue Verfassung
verabschiedet, die politische Rechte ausschließlich den Männern zugesteht, scheut
Wollstonecraft nicht davor zurück, sich auch mit den Revolutionären und sogar mit
dem von ihr verehrten Jean Jacques Rousseau anzulegen. Sie greift erneut zur
Feder. Ihre Streitschrift
3
Zitatorin 1:
Eine Verteidigung der Frauenrechte!
Erzählerin:
fordert mit unbestechlicher Logik gleiche Chancen und Rechte für beide
Geschlechter:
Zitatorin 1:
Ist es nicht inkonsequent und ungerecht, Frauen zu unterdrücken, wenn die Männer
um ihre Freiheit ringen? Handelt nicht derjenige wie ein Tyrann, der alle Frauen dazu
zwingt, eingekerkert in ihren Familien zu bleiben, indem er ihnen bürgerliche und
politische Rechte vorenthält?
Erzählerin:
„Eine Verteidigung der Frauenrechte“ ist bis heute das bekannteste Werk von Mary
Wollstonecraft, das Generationen von Feministinnen inspiriert hat. Und es ist bis
heute aktuell, sagt die Literaturwissenschaftlerin Susan Wolfson von der Princeton
University.
OT 02 Susan Wolfson:
The „Iron my shirt‟ jeers that Hillary Clinton gets when she appears... this world is
different from the 1790s, but in many ways it‟s not. „39”
Übersetzerin:
Wenn Hillary Clinton auftritt, kommen aus dem Publikum Rufe wie: „Bügeln Sie mal
meine Hemden!” Da geht es ja nicht um politische Inhalte, sondern darum, dass hier
eine Frau eine Position innehat, von der mancher Zeitgenosse sie gerne
ausschließen würde. Mary Wollstonecraft ist in den 1790er Jahren dafür eingetreten,
dass Frauen aufgrund ihrer geistigen, ihrer intellektuellen Fähigkeiten beurteilt
werden sollten. Wir leben heute eigentlich in einer ganz anderen Welt als 1792; aber
in so mancher Hinsicht sind wir von dieser Zeit eben doch noch nicht so weit entfernt.
Erzählerin:
Mary Wollstonecraft verlangt Selbstbestimmung und Freiheit für Frauen.
Zitatorin 1:
Ich liebe den Mann als mein Mitgeschöpf, aber seine Herrschaft, ob echt oder
angemaßt, erstreckt sich nicht auf mich, außer die Vernunft des Einzelnen fordert
meine Huldigung.
Erzählerin:
Auch der Liebe misstraut sie, denn Liebe führt zu Leidenschaft, zur Ehe und damit
zur Herrschaft des Mannes über die Frau. Mary Wollstonecraft will keine Liebe,
sondern Vernunft.
Zitatorin 1:
4
Die Liebe nimmt im Busen der Frau den Platz einer jeden edlen Leidenschaft ein; ihr
einziger brennender Wunsch ist es, schön zu sein, Gefühle zu erwecken, statt
Respekt zu erzeugen. Aber die Mutter der Tugend ist die Freiheit.
Erzählerin:
Freiheit ist zu dieser Zeit vor allem in Paris zu finden, im Herzen der Revolution.
Dorthin reist Mary Wollstonecraft im Herbst 1792 als Korrespondentin der
progressiven Monatszeitschrift Analytical Review. Sie verbringt zwei Jahre in
Frankreich, erlebt den Prozess gegen Ludwig XVI. und seine Hinrichtung, beklagt
den Niedergang der gemäßigten Girondisten und den Aufstieg der radikalen
Jakobiner. Bald gerät sie wegen ihrer eigenen gemäßigten Ansichten selbst in
Lebensgefahr; aber sie kann trotz allem die Revolution nicht anders sehen als
Zitatorin 1:
das außergewöhnlichste Ereignis, das jemals aufgezeichnet wurde!
Erzählerin:
Außerdem erlebt Mary Wollstonecraft eine ganz persönliche Revolution: sie verliebt
sich 1793 in einen amerikanischen. Doch sie bleibt ihren feministischen Prinzipien
treu: sie erlebt und feiert Liebe und Leidenschaft, aber eine Ehe will Wollstonecraft
nicht eingehen, auch nicht, als sie bald darauf entdeckt, dass sie schwanger ist.
Zitatorin 1:
Wenn man mich fragt, so sage ich, dass ich ein Kind erwarte: soll doch die ganze
Welt es wissen!
Erzählerin:
Die Beziehung zu Imlay zerbricht wenige Monate nach der Geburt der gemeinsamen
Tochter. Wollstonecraft kehrt nach England zurück, verfällt in eine schwere
Depression, unternimmt zwei Selbstmordversuche. Die Erkenntnis, dass die Vernunft
nicht immer Herrin ihres Herzens ist, erschüttert die Philosophin noch mehr als die
wiederholte Untreue des einstigen Geliebten. Aber selbst in tiefster Verzweiflung
bleibt ihr Verstand wach: sie beobachtet, schreibt, analysiert. Und sie schafft es, die
neue Selbsterkenntnis in ihr Weltbild einzugliedern und weder die Leidenschaft noch
ihre eigene beunruhigende Gefühlsintensität zu verdammen. Stattdessen verfasst sie
ein Lob der Emotionen.
Zitatorin 1:
Die Vorstellungskraft ist die Mutter des Gefühls; sie ist das, was unsere Natur
einzigartig macht; nur sie kann die Leidenschaften rein hervor strahlen lassen. Die
Vorstellungskraft ist das himmlische Feuer, das die kalte Materie zum Leben erweckt
und das Herz des Menschen zum Schwellen bringt.
Erzählerin:
Sie unternimmt eine Reise durch Skandinavien, verfasst einen lyrischen und für die
damalige Zeit ungewöhnlich persönlich gehaltenen Reisebericht, kehrt nach London
zurück – und verliebt sich wieder: in den Philosophen William Godwin. Ihre
Liebesbeziehung ist auch eine Freundschaft verwandter Geister. Auf einmal hat
5
Wollstonecraft einen Partner gefunden, der ihren Verstand ebenso schätzt wie ihr
Herz.
Zitator:
Eure Gesellschaft ist unendlich entzückend. Ich liebe Eure Vorstellungskraft, Euer
delikates Philosophieren, kurz Alles, was das bezaubernde Ganze der berühmten
Mary ausmacht.
Erzählerin:
Auch die Tatsache, dass Wollstonecraft ein uneheliches Kind hat, stört Godwin nicht
– schließlich ist er überzeugter Sozialist und ebenso wie Wollstonecraft aus Prinzip
gegen die Institution der Ehe. Aber als Mary wieder schwanger wird, beschließen die
beiden aus rein praktischen Erwägungen, doch zu heiraten. Wollstonecraft hat trotz
ihrer selbstbewussten Haltung sogar im revolutionären Paris erleben müssen, wie
Bekannte sie ihrer unehelichen Schwangerschaft wegen mit Empörung und
Verachtung straften, wie man hinter ihrem Rücken tuschelte. Noch einmal will sie das
nicht mitmachen. Sie und Godwin heiraten im März 1797 ohne allen Aufhebens. In
Briefen an Freunde und Bekannte teilt sie knapp mit, dass sie geheiratet hat, und
fügt direkt hinzu:
Zitatorin 1:
Dabei ist es aber mein Wunsch, dass Mr. Godwin ganz wie zuvor seine gewohnten
Besuche unternimmt und auswärts speist; ich für meinen Teil werde es genauso
halten, denn ich will weiterhin in Bezug auf meine eigenen Gefühle und Prinzipien
unabhängig bleiben.
Erzählerin:
Es ist die praktische Umsetzung ihrer feministischen Theorien: eine Ehe mit echter
Gleichberechtigung. Die neue Mrs. Godwin teilt Mr. Godwin mit:
Zitatorin 1:
Ich will dich stets in meinem Herzen, aber nicht immer um mich haben.
Erzählerin:
Godwin und Wollstonecraft ziehen zusammen, unterhalten aber weiterhin eigene
Schreibzimmer in separaten Wohnungen: ein selbst heute noch eher unübliches
Arrangement. Ihr offener Umgang mit Liebe, Leidenschaft und Sexualität wird dafür
sorgen, dass Wollstonecraft nur wenige Jahre nach ihrem Tod in Vergessenheit
gerät. Sie setzt sich über zu viele Tabus hinweg, bricht allzu scharf mit den
Konventionen: das wird man ihr im prüden, bürgerlichen neunzehnten Jahrhundert
nicht verzeihen. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wird sie langsam wieder entdeckt
werden. Ihr häusliches Glück mit William Godwin währt gerade einmal fünf Monate.
Im September 1797 stirbt Wollstonecraft kurz nach der Geburt der gemeinsamen
Tochter Mary am Kindbettfieber.
Musik: als Zäsur, etwas aus dem frühen 19. Jahrhundert
Erzählerin:
6
Die junge Mary wächst in einer ganz anderen Welt auf als ihre Mutter. Die guten
Absichten von 1789 haben zu Staatsterror, Krieg und Zerstörung geführt. Die
Staaten Europas kämpfen gegen Frankreich und Napoleon; revolutionäres Denken
ist aus der Mode gekommen. Es ist das Zeitalter der Reaktion, der Restauration.
Auch Mary Shelley schreibt: den Erfolgsroman Frankenstein und eine ganze Reihe
weiterer Romane, Kurzgeschichten und biografischer Essays. Politische Inhalte sucht
man in ihren Werken allerdings vergeblich – so scheint es jedenfalls auf den ersten
Blick. In der Vorrede zu Frankenstein von 1818 schreibt die gerade Zwanzigjährige:
Zitatorin 2:
Mein Hauptaugenmerk hat sich darauf beschränkt, den enervierenden Effekten der
zeitgenössischen Romane aus dem Weg zu gehen, hingegen das Liebenswerte
verwandtschaftlicher Zuneigung sowie die Vortrefflichkeit der Tugend im Allgemeinen
nach Gebühr ins Licht zu rücken.
Erzählerin:
Das klingt nicht radikal und schon gar nicht feministisch. Doch es lohnt ein zweiter
Blick, sagt Charlotte Gordon, Professorin für englische Literatur am Endicott College.
OT 03 Charlotte Gordon:
She wanted to be a radical, but it was in fact much harder to be a revolutionary...
educated women who are fighting against war and the warlike nature of man. „40”
Übersetzerin:
Sie wollte genauso radikal wie ihre Mutter sein, aber in der Generation nach Mary
Wollstonecraft war das Dasein als Revolutionärin sehr viel schwieriger. Mary Shelley
musste andere Wege finden, um ihr radikales Gedankengut auszudrücken. Ich sehe
in ihren Romanen eine fortschreitende Entwicklung von Ideen, von feministischen
Idealen, die in die Handlung eingebettet sind. In Mary Shelleys Romanen gibt es nie
einen Helden; die starken Figuren sind immer Frauen. Und in ihren späteren Jahren
schreibt sie Geschichten, in denen Frauen sich gegenseitig unterstützen; in denen
Frauen eine Art Gemeinschaft bilden, wo gebildete Frauen gegen den Krieg und
gegen die kriegerische Natur der Männer kämpfen.
Erzählerin:
Frankenstein ist nicht nur ein Schauerroman mit hohem Unterhaltungswert, er enthält
auch politische Botschaften: Die Geschichte des allzu ehrgeizigen Wissenschaftlers,
der der Menschheit nutzen will, aber ein mörderisches Monster erschafft, lässt sich
unschwer als Warnung vor den zerstörerischen Exzessen der Revolution lesen. Mary
Shelleys Hinweis auf
Zitatorin 2:
das Liebenswerte verwandtschaftlicher Zuneigung
Erzählerin:
eröffnet einen anderen Blick auf die gestörte Beziehung zwischen Viktor
Frankenstein und seiner Kreatur. Charlotte Gordon.
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OT 04 Charlotte Gordon:
Frankenstein is a kind of parable for a world without mothers, but it‟s also... take
responsibility for our relationships. This is what matters in human life. „32”
Übersetzerin:
Frankenstein ist nicht nur eine Parabel auf eine Welt ohne Mütter, sondern auch auf
eine Welt ohne Väter; eine Welt, in der Werte wie Liebe, Zuwendung, Bildung,
Gemeinschaft und Beziehungen nicht geschätzt werden. Mary Shelley will uns
aufrütteln. Menschliche Beziehungen sind wichtiger als alles andere, sagt sie; der
Wert des Einzelnen, verantwortungsvolle Beziehungen: das sind die wichtigen Werte.
Erzählerin:
Viktor Frankenstein ist seinem Geschöpf ein schlechter Vater: kaum hat die Kreatur
das Licht der Welt erblickt, da stürzt der Wissenschaftler voller Entsetzen und
Abscheu davon und kann es auch später kaum über sich bringen, seiner Schöpfung
in die Augen zu sehen.
Musik: Frankenstein-Soundtrack, darauf:
Zitator:
Seine Züge verrieten den bittersten Schmerz, doch machte eine übernatürliche
Hässlichkeit dies Antlitz dem menschlichen Blicke nahezu unerträglich.
„Du Ausgeburt!” rief ich.
„Diesen Empfang hab ich erwartet”, versetzte das Ungetüm. „Der Elende wird ja von
allen gehasst. Sogar du, mein Schöpfer, verabscheust mich und trittst mich mit
Füßen, mich, dein Geschöpf. Glaub mir, o Frankenstein: ich war einst gut und war
entflammt von Menschlichkeit und Liebe! Doch bin ich nicht allein, zutiefst allein?”
Erzählerin:
Bei jeder Begegnung zwischen Frankenstein und seiner Kreatur wiederholt sich
dieser Dialog in unterschiedlichen Varianten; wiederholen sich die Vorwürfe des
Unglücklichen, den Frankenstein nur als Monster, Ungetüm, Unhold, Dämon
bezeichnen kann. Durch die Struktur des Romans werden dem Leser beide
Perspektiven vor Augen geführt: erst erzählt Viktor Frankenstein seine Geschichte,
dann kommt seine Kreatur zu Worte und kann aus ihrer Sicht berichten. Schuldlos ist
die Kreatur sicherlich nicht – immerhin unternimmt sie einen mörderischen
Rachefeldzug, um Viktor für seine Missachtung zu bestrafen. Aber die Botschaft ist
klar:
Zitator:
Ich bin ja nur so böse, weil ich so elend bin. Wär da nur ein einzig Wesen, das mir
ein wenig Wohlwollen entgegenbrächte, ich wollte es ihm hundert- und
aberhundertfach vergelten! All meine Bosheit wird mich dann verlassen, kommt man
mir erst mit Freundlichkeit entgegen!
Erzählerin:
Jemand, der in zwischenmenschliche Netzwerke eingebunden ist und die von Mary
Shelley so beschworene verwandschaftliche Zuneigung erfährt, so argumentiert die
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Autorin, muss nicht zu einem Dämon werden. Indem Viktor Frankenstein seiner
Kreatur Wohlwollen, Verständnis und Zuneigung verweigert, wird er selbst zum
Monster: so ist es folgerichtig, dass auch er am Ende der Geschichte sterben muss.
Dass es auch anders gehen kann, zeigt der Erzähler der Rahmenhandlung, der
Polarforscher Robert Walton. Wie Viktor ist er ein junger, ehrgeiziger
Wissenschaftler; wie Viktor will er die Geheimnisse der Natur entdecken und Zitator:
der gesamten Menschheit einen unschätzbaren Dienst erweisen.
Erzählerin:
Als sein Schiff im Nordmeer vom Packeis festgehalten wird, ist der Entdecker trotz
der großen Gefahr zur Weiterfahrt entschlossen, doch seine Mannschaft bittet ihn
umzukehren. Sein Verantwortungsgefühl bewegt ihn schließlich dazu, das allzu
riskante Unternehmen aufzugeben.
Zitator:
Ich kann meine Leute nicht gegen ihren Willen der Gefahr in die Arme führen!
Erzählerin:
Robert Walton überlebt und kann zu seiner Schwester zurück kehren. Er ist in
„Frankenstein“ der eigentliche und einzige Held. Auch in ihren anderen Romanen
stellt Mary Shelley immer wieder Männer und Frauen eingebunden in
Liebesbeziehungen und Verwandschaftsnetzwerke dar. Ausbrecher und Rebellen
nehmen wie Viktor Frankenstein ein unglückliches und vorzeitiges Ende. Die
Handlung ist meist konventionell, es wird viel geliebt und geheiratet. Man kann darin
eine Reaktion auf ihr eigenes, vielleicht allzu bewegtes Leben sehen. Die Mutter, die
bei ihrer Geburt starb, hat ihr zeitlebens gefehlt. Mit sechzehn Jahren beginnt sie
eine Liebesbeziehung mit dem Dichter Percy Shelley und brennt mit ihm durch. Die
beiden leben an verschiedenen Orten in England, der Schweiz, Frankreich und
schließlich Italien. Mary bringt in rascher Folge vier Kinder zur Welt, von denen nur
ein einziges überlebt. 1822 ertrinkt Percy Shelley bei einem Bootsunfall und lässt
nach neun Jahren Wander- und Eheleben Mary mit dem zweijährigen Sohn Percy
zurück. Im Alter von gerade einmal fünfundzwanzig Jahren ist sie Witwe und
alleinerziehende Mutter. In einem Brief an eine Freundin erklärt sie:
Zitatorin 2:
Nur durch Bücher und literarische Beschäftigung werde ich jemals Trost finden.
Erzählerin:
Sie kehrt nach England zurück, aber auch dort ist sie einsam. Es gibt keine
literarischen Zirkel mehr, in denen sie wie einst Mary Wollstonecraft gleichgesinnte
Geister finden könnte. Ihr Vater ist ebenfalls kein großer Rückhalt. Im Gegenteil:
William Godwin kann von seinen mageren Honoraren nicht leben und bittet seine
Tochter mehrfach um finanzielle Hilfe. Auch ihren Geschwistern gibt Mary Shelley
immer wieder Geld. Ihr Schwiegervater ist ein wohlhabender Landadeliger, doch er
hatte sich mit seinem radikalen Sohn überworfen und zahlt dessen Witwe nur das
Nötigste an Unterhalt für den kleinen Percy. Die Londoner Gesellschaft hat den
Skandal um Marys und Percys wilde Ehe noch nicht vergessen. Mary Shelley kommt
9
sich manchmal so einsam vor wie die unglückliche Kreatur in ihrem berühmtesten
Roman. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie Romanfiguren schafft, die in
liebender Umgebung ein einfaches und glückliches Leben führen. Aber es steckt
mehr hinter ihren idyllischen, oft utopischen Entwürfen. Mary Shelley erfindet nicht
nur eine Wunschgesellschaft, sie übt auch immer wieder Kritik an bestehenden
Zuständen: In ihrem historischem Roman Valperga trifft der junge Ritter Castruccio
einen ehemaligen Soldaten, der zum Bauern geworden ist und ihn belehrt:
Zitator:
Meinen Augen, in denen nicht mehr dasselbe Feuer wie in den deinen brennt,
bereitet es sehr viel mehr Entzücken, die Reichtümer der Natur oder den emsigen
Bauern zu erblicken, der sein Land bestellt, als der Anblick einer Armee von Rittern
in ihrer prachtvollen Rüstung, die sich anschicken, ein Meer von Blut über das Land
zu vergießen und die Hoffnung des Landmanns auf seine Ernte zu zerstören.
Zitatorin 2:
Castruccio lauschte ungeduldig und rief aus:
Zitator:
Aber wollt Ihr nicht lieber ein Ritter sein statt eines armseligen Bauern?
Zitatorin 2:
Guinigi antwortete mit Innbrunst:
Zitator:
Das will ich nicht. Wie sehr muss doch ein Menschengeist von Krankheit ergriffen
sein, den das Schlechte erfreut und nicht die Schönheit des Landbaus und seiner
Früchte!
Erzählerin:
Mary Shelley fordert Rechte ein: das Recht aller Menschen –auf Frieden und
Unversehrtheit. Das Recht gerade auch der einfachen Leute, für die der Bauer
Guinigi hier spricht, auf Wahrung ihres Lebens, ihres Eigentums und der Früchte
ihrer Arbeit. Konventionelle Helden gibt es in ihren Erzählungen nicht. Ihr
Gesellschaftsentwurf ist, wenn auch auf ganz andere Weise, nicht weniger radikal als
der ihrer Mutter: Wollstonecraft zeichnete und verkörperte ein Bild der Frau, die
männlich besetzte Tugenden besaß: sie war frei, stark, fordernd, ungebunden. Die
Frauen und Männer in Mary Shelleys Schriften dagegen zeichnen sich durch
Tugenden aus, die als weiblich angesehen werden und daher – auch heute noch –
als weniger wichtig und attraktiv gelten: Fürsorglichkeit, Mitgefühl, Großmut,
Aufopferung. Das Happy-End in Mary Shelleys Geschichten ist nicht der Ausbruch
der Frau aus der Tyrannei der Männer, wie ihn Mary Wollstonecraft gefordert hat,
sondern die Befreiung der Männer aus einer Tyrannei der Männlichkeit. So können
sie als bessere, weichere, weiblichere Männer glücklich sein. Für den Polarforscher
Robert Walton in Frankenstein wird ein solches Leben nur angedeutet, doch Shelleys
spätere Romane enden ganz explizit mit der Beschreibung eines geradezu
utopischen Idylls, in dem ehrgeizige, geldgierige oder tyrannische Väter und
Ehemänner durch Häuslichkeit und Liebe geläutert werden und im Familienkreis
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einfach und glücklich leben. Mary Shelley setzt auf eine Revolution von innen, erklärt
Susan Wolfson von der Princeton University.
OT 05 Susan Wolfson:
She does understand that the family is the first republic, and that if there... and the
improvement of family values basically, is one kind of solution. „42”
Übersetzerin:
Sie sieht die Familie als kleinste Einheit und als Baustein des Staates. Mit ihrem
Modell von Frauenrechten und einem ganz anderen Ethos, das Vernunft und
Mitgefühl in den Mittelpunkt stellt, setzt sie in der Familie an und nicht bei der
Regierung. Die große Politik sollte sich ja noch viel Zeit lassen; erst Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts hat sie den Frauen ein politisches Mitspracherecht
eingeräumt. Und so ist für Shelley der Ansatz in der Familie mit einer Verbesserung
der familiären Werte eine mögliche Lösung.
Erzählerin:
In Mary Shelleys Geschichten ist ein grundsätzliches Umdenken und
Neupositionieren von Werten möglich: sie fordert eine Abwendung von Erfolg im
finanziellen Sinne und vom Wettbewerbsdenken. Stattdessen entwirft sie die Idee
einer Gesellschaft des Miteinanders, in der alle gleichermaßen profitieren – ein sehr
moderner Gedanke. Zugleich kritisiert sie genau wie einst ihre Mutter das
Geschlechterbild ihrer Zeit und die daraus resultierende einseitige Bildung für
Mädchen, die sich in einer Vorbereitung auf ihre Rolle als Ehefrau beschränkte.
Zitatorin 2:
Dem Manne gilt edle Unabhängigkeit als höchstes Privileg seiner Natur. Es besteht
kein Zweifel, dass es auch dem anderen Geschlecht zum höchsten Glück gereichen
würde, wenn man die Frauen lehrte, sich stärker auf sich selbst zu verlassen und für
ihre eigenen Belange einzutreten.
Erzählerin:
In ihrem eigenen Leben verwirklicht Mary Shelley diesen Entwurf. Nach dem Tod
ihres Mannes sucht sie sich nicht etwa einen neuen Ernährer, wie es für bürgerliche
Frauen ihrer Zeit vorgesehen ist. Sie bleibt bewusst unabhängig und verdient sich
ihren Lebensunterhalt als Autorin. Dabei verschwindet die Frau hinter dem Werk: ihre
Romane und Kurzgeschichten werden anonym veröffentlicht, statt ihres Namens
steht darunter nur der Hinweis, dass sie aus derselben Feder stammen wie
Frankenstein. Anonym sind auch die zahlreichen biografischen Aufsätze, die sie als
Auftragswerke für den Wissenschaftler und Verleger Dionysius Lardner schreibt. Sie
sind darum lange Zeit übersehen und erst in jüngster Zeit als Mary Shelleys Werk
wieder entdeckt worden. Auch hier verfolgt die Autorin ihre Strategie, unauffällig
radikales Gedankengut zu transportierten, erzählt die Literaturwissenschaftlerin
Charlotte Gordon.
OT 06 Charlotte Gordon:
She proposed an encyclopaedia on great women. But the editor... of these women
that she wanted people to know about. „25”
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Übersetzerin:
Sie hat angeregt, dass man auch eine Sammlung von Biografien großer Frauen
herausbringen könnte. Aber der Verleger war dagegen: was für eine verrückte Idee!
Erstens kannte er keine großen Frauen und zweitens konnte er sich nicht vorstellen,
wer so etwas lesen würde. Also hat Mary Shelley weiter Biografien großer Männer
geschrieben, aber sie hat immer auch über die Frauen im Leben dieser Männer
geschrieben und es so geschafft, eben doch auch über die großen Frauen zu
schreiben, über die sie mehr Informationen verbreiten wollte.
Musik:
Erzählerin:
Beide Marys, die ältere wie die jüngere, zeichnen in ihren Schriften das Bild einer
neuen, besseren Gesellschaft. Ihre Forderungen sind zwei Jahrhunderte alt, aber sie
sind noch immer aktuell. Mary Wollstonecraft fordert politische Teilhabe und sexuelle
Selbstbestimmung für Frauen. Mary Shelley träumt von einer Welt, in der Männer
weibliche Werte verinnerlichen: Fürsorglichkeit, Mitgefühl, Großmut. Auf ihre Art sind
sie beide radikale Feministinnen, Tochter wie Mutter.
Musik; Ende
*****
Titel: „Frankenstein oder der neue Prometheus”
Autorin Mary Shelley, Verlag Anaconda, 2009, Übersetzer: Friedrich Polakovics
Titel: „Zur Verteidigung der Frauenrechte”, Autorin Mary Wollstonecraft,
Verlag: ein-FACH-Verlag, 2008, Übersetzerin: Petra Altschuh-Riederer
Titel: „Romantic Outlaws: The Extraordinary Lives of Mary Wollstonecraft and her
Daughter Mary Shelley”, Autorin Charlotte Gordon, Verlag Hutchinson, 2015
(deutsche Übersetzung von Rhia Herrad)
Titel: „Valperga”, Autorin Mary Shelley, Verlag G. and W. B. Whittaker,1823
(deutsche Übersetzung von Rhia Herrad) kein Copyright
Titel: „Lodore”, Autorin Mary Shelley, Verlag G. and W. B. Whittaker, 1835
(deutsche Übersetzung von Rhia Herrad) kein Copyright
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