Kein barrierefreier Notruf

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Aus dem Ressort: Radiomodul
Kein barrierefreier Notruf für Gehörlose
Beim Internationalen Tag der Gehörlosen (25.09.2016) haben die Hörbehinderten auf ihre Lage aufmerksam gemacht. Zum Beispiel darauf, dass es noch keinen barrierefreien Notruf
gibt - sie müssen ihre Notrufe per Fax absetzen.
Gabriel Nistor lebt in Wuppertal und wurde taub geboren. Seine Muttersprache ist die Gebärdensprache. Die Lautsprache spricht er nicht. Deshalb kann er im Notfall auch kein
Telefonat mit der 110 oder 112 führen. Stattdessen müsste er ein Fax verschicken. Doch wenn er unterwegs ist, ist das nicht möglich: "Das ist ein ganz großer Verlust meines
Sicherheitsgefühls. Ich kann tatsächlich mitten auf der Straße sterben, weil ich keinen Notruf absetzen kann", sagt er.
Kein Notruf per SMS
Noch nicht einmal ein offizieller Notruf per SMS wäre für ihn möglich. Laut Bundesarbeitsministerium scheitert das zurzeit daran, dass der Standort des Notrufenden nicht per SMS
übermittelt werden kann. Dafür sei eine Gesetzesänderung nötig. Dann müsse genau das schnellstmöglich passieren, fordert Gabriel Nistor: "Die technischen Voraussetzungen sind
da, aber es fehlt einfach eine klare gesetzliche Regelung. Und wenn diese kleine Änderung durch ist, dann wäre der Weg geebnet."
Unhaltbarer Zustand
Auch für seine Kollegin aus dem Gehörlosenenverein, Christine Linnartz, ist das ein unhaltbarer Zustand. Ihr tauber Bekannter hatte einen Schlaganfall, konnte aber nicht um Hilfe
rufen. "Und dann hat der Nachbar ihn irgendwann gefunden. Er lag lange im Koma. Und ist seit dem Zeitpunkt querschnittsgelähmt", erzählt sie.
Apps von privaten Anbietern zu unsicher
Inzwischen gibt es einige private Anbieter, die Apps entwickelt haben. Sie sind aber kostenpflichtig. Außerdem ist nicht garantiert, dass die Notrufe tatsächlich einwandfrei bei den
richtigen Leitstellen eingehen, sagen viele Betroffene. Sie fordern vom Staat einen bundesweiten einheitlichen Notruf für taube Menschen. Immerhin hat die Große Koalition das im
Koalitionsvertrag 2013 versprochen. Doch seither schieben sich Bund und Länder gegenseitig den Ball zu.
Lösung noch in dieser Legislaturperiode?
Auf WDR-Anfrage schreibt das Bundeswirtschaftsministerium, es gebe jetzt eine "Expertengruppe Notruf": "Damit sollen die Notrufmöglichkeiten für Bürger mit Sprach- oder
Hörbehinderungen verbessert werden. Mit einer App soll es dem Nutzerkreis ermöglicht werden, direkten Kontakt zu der jeweils örtlich ständigen Notrufabfragestelle aufzunehmen. Es
wird angestrebt, noch in dieser Legislaturperiode eine verbindliche Vereinbarung aller Verantwortlichen zu erreichen."
Gehörlosenvereine fühlen sich im Stich gelassen
An eine Lösung bis nächsten Herbst können die Betroffenen nicht mehr glauben. Auch nicht Gabriel Nistor: "Seit 2013 befasst man sich damit und die Legislaturperiode dauert nicht
mehr lange und es wird immer gesagt, wir kümmern uns drum. Und dann wird in der letzten Sekunde doch noch was geändert, um der Öffentlichkeit zu zeigen, wir haben was. Aber
letztendlich landet es einfach im Mülleimer."
72.00 Hörgeschädigte in NRW
Viele Betroffene glauben, eine schnelle Lösung sei den Politikern einfach zu teuer. Außerdem sei die Zahl der Betroffenen zu klein, um große Lorbeeren zu ernten. In NRW warten
deshalb rund 72.000 Hörgeschädigte seit Jahren auf eine Lösung.
Für Gabriel Nistor ist der fehlende barrierefreie Notruf eine klare Menschenrechtsverletzung. Er appelliert deshalb an die Politiker: "Hört mal auf uns. Hören im Sinne von, schaut, was
wir gebärden! Bitte, nehmt uns mit, bezieht uns mit ein in eure Diskussion. Ihr glaubt zu wissen, was gut für uns ist. Nein. Wir wissen, was gut für uns ist. Und wir möchten
mitgestalten."
Autorin des Radiobeitrags: Meriem Benslim
Kein barrierefreier Notruf für Gehörlose
WDR 5 Morgenecho - Beiträge | 26.09.2016 | 03:05 Min.
Stand: 26.09.2016, 11:08
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