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das grosse interview 16
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Schweiz am Sonntag
18. September 2016
«Ich betrachte mich nicht als unersetzbar»
Michael Haefliger (55), der Intendant des
Lucerne Festival, ist der erfolgreichste
Kulturmanager der Schweiz. Er bewegt sich
im linken Kulturmilieu ebenso leichtfüssig
wie in der Welt der Grosskonzerne. Nun aber
hat er seine grösste Niederlage erlitten.
genen Pläne konzentrieren. Wir werden mit unserem mobilen, aufblasbaren Konzertsaal Ark Nova beispielsweise Konzerte in New York durchführen,
während zweier oder dreier Wochen.
Mit unserem Lucerne Festival Orchestra und dem Orchester der Lucerne Festival Academy haben wir verschiedene
internationale Projekte geplant, so
auch in China. Es fehlt uns nicht an Arbeit!
VON ANNA KARDOS, PATRIK MÜLLER (TEXT) UND SANDRA ARDIZZONE (FOTO)
Sein Büro liegt nicht im Kultur- und
Kongresszentrum KKL, in dem jeden
Sommer das Lucerne Festival stattfindet, sondern zehn Fussminuten entfernt in einem Jugendstilhaus. Michael
Haefliger, 1961 als Sohn des Schweizer
Tenors Ernst Haefliger in West-Berlin
geboren, liebt Luzern. Und er hatte
grosse Pläne. 20 Jahre nach dem KKL
sollte die Stadt einen weiteren KulturLeuchtturm mit internationaler Ausstrahlung bekommen: ein topmodernes Musiktheater, die sogenannte neue
Theater-Infrastruktur (NTI) mit der
«Salle modulable». 80 Millionen Franken standen durch eine Donation zur
Verfügung, dazu weitere 35 Millionen
von privater Seite – doch der Luzerner
Kantonsrat sagte diese Woche knapp
Nein zu einem 7-Millionen-Projektierungskredit. Die «Salle modulable»,
das wohl innovativste Kulturprojekt im
Land, ist damit zumindest vorerst gescheitert.
Herr Haefliger, Sie sind ein erfolgsgewohnter Mann, haben das Lucerne Festival in die Top 5 der KlassikFestivals weltweit geführt. Nun haben Sie mit dem Projekt «Salle modulable» in Luzern eine Niederlage
erlitten. Wie gehen Sie damit um?
Michael Haefliger: Natürlich bin ich
persönlich sehr enttäuscht und auch
ein wenig traurig. Ich war und bin
überzeugt, dass nach dem Erfolg des
Kultur- und Kongresszentrums KKL eine neue Theaterinfrastruktur für Luzern eine grosse Chance wäre. Das
Projekt wäre die neue Heimat des Luzerner Theaters geworden, in dem das
Luzerner Theater, das Lucerne Festival, die Freie Szene und das Luzerner
Sinfonieorchester eine gemeinsame Vision für Musiktheater entwickelt hätten. Bei mir und allen Partnern des
Projekts wie auch bei den Vertretern
von Stadt und Kanton sowie der Projektleitung floss sehr viel Herzblut.
Aber selbstverständlich akzeptieren
und respektieren wir den Entscheid.
Fällt Ihnen das schwer?
Niederlagen und gerade auch Abstimmungsniederlagen gehören zum Leben. Das weiss jeder Politiker. Wichtig
ist, dass man gestärkt aus ihnen hervorgeht und sie nicht zu persönlich
nimmt. Es ist ja auch nicht das erste
Mal, dass ich das erlebe. Oft sind private Schicksalsschläge viel schwieriger.
In diesem Sommer habe ich meine
Mutter verloren, während des Festivals.
Die Schweiz schafft es, die längsten
Eisenbahntunnels und die höchsten Staumauern zu bauen. Wenn es
aber um einen grossen Wurf in der
Kultur geht, klappt es nicht. Woran
liegt es?
Visionäre Projekte braucht jedes Land,
auch in der Kultur. Das KKL war eine
sehr grosse Vision, die man vor 20 Jahren verwirklichen konnte. Einfach war
es auch damals nicht, aber am Ende
gelang es. Grundsätzlich ist es in der
Schweiz sicher so: Kulturprojekte mit
neuen Bauten haben es schwer.
Musiker und
Manager
Warum?
Unsere Demokratie ist sehr speziell.
Das ist aber keine Kritik, denn sie funktioniert insgesamt ja sehr gut. Doch in
der Kultur braucht es Leute, die innovative Projekte mit voller Kraft vorantreiben und Widerstände überwinden,
damit am Ende etwas entsteht. Dies
umsomehr, als in der Kultur wie auch
in der Bildung zurzeit enorm gespart
wird. Kulturelle Werte in unserer Gesellschaft haben es immer schwerer.
Michael Haefliger wurde
1961 in West-Berlin geboren. Als Sohn des berühmten Schweizer Tenors Ernst Haefliger erhielt er früh Instrumentalunterricht und studierte an der Juilliard
School (New York) Geige. Zurück in der
Schweiz gründete er im
Heimatort seines Vaters
1986 das Davoser Festival «Young Artists in
Concert» und studierte
an der Hochschule für
Wirtschaft in St. Gallen
und an der Harvard University in Massachusetts
Management. 1999 wurde er Intendant des «Lucerne Festival» (damals
«Internationale Musikfestwochen Luzern»).
Unter seiner Leitung
wurde das Klassikfestival zu einem der besten
weltweit. Zugute kam
ihm der 226 Millionen
teure Bau des akustisch
herausragenden Kulturund Kongresszentrums
(KKL). Auch die Gründung des grossartigen
Lucerne Festival Orchestra gemeinsam mit der
Dirigentenlegende Claudio Abbado oder die
Zusammenarbeit mit Pierre Boulez beim Aufbau der Lucerne Festival
Academy stiessen auf
internationale Anerkennung. Unter Haefligers
Ägide hat sich das Budget des Festivals mehr
als verdoppelt. 2007 initiierte der Intendant das
Projekt «Salle modulable» mit dem Ziel, in Luzern einen innovativen
Bau für zeitgenössisches
Musiktheater zu errichten. Am vergangenen
Montag wurde der Projektierungskredit vom
Luzerner Kantonsrat abgelehnt. Haefliger lebt
mit seiner Frau in Hergiswil. (ANK)
Sehen Sie das Problem in der direkten Demokratie?
Nein. Ich glaube, das Volk wäre nicht
das Problem gewesen. Vor einer Abstimmung hätte ich mich nicht gefürchtet. Was mir im Fall der «Salle
modulable» viel mehr aufgefallen ist:
Der Austausch zwischen der Exekutive
und der Legislative funktionierte nicht
«Die Musikschule ist
etwas vom Allerwichtigsten.»
gut. Stadt- und Regierungsrat waren
sehr gut informiert, das Projekt war
detailliert vorbereitet und dokumentiert. Aber aus dem Kantonsparlament
kam dann eine Front gegen das Projekt. Ich bekam den Eindruck, dass
viele Parlamentarier vielleicht einfach
zu wenig im Bild waren über alle Details des Projekts. Das hat mir zu denken gegeben. Am Ende ging es im Kantonsrat um zehn Stimmen.
Eine Kantonsrätin plädierte für ein
Nein, weil sie fand, man könne
nicht bei den Musikstunden an der
Schule sparen und gleichzeitig mit
einem Prestigeprojekt für die Elite
klotzen.
Es handelt sich keineswegs um ein
grossspuriges Elite-Projekt: Das Theater hätte 400 bis 500 Sitzplätze und
man könnte im Maximalzustand auf
750 Plätze gehen. Wir reden nicht, wie
in Salzburg, von 2200 Plätzen. Dennoch: Ich habe für die Argumentation
dieser Kantonsrätin Verständnis. Meine Frau ist Musiklehrerin in Basel und
kennt diese Situation. Allerdings liegt
es nicht nur am Geld; offenbar ist heute bei den Eltern auch das Interesse
nicht mehr so gross, Kinder in den Musikunterricht zu schicken. Dabei ist die
Musikschule etwas vom Allerwichtigsten.
Kämpfen Sie weiter für die «Salle
modulable»?
Vorerst muss jetzt Ruhe einkehren, wir
müssen die Lage mit unseren Partnern
genau analysieren. Wir haben sehr viel
Energie und Leidenschaft aufgebracht,
und wir sind nicht zum Ziel gekommen. Jetzt müssen wir vom Lucerne
Festival uns erst einmal auf unsere ei-
Vom Vater das Musikalische, von der Mutter das Unternehmerische: Michael Haefliger in seinem Büro in Luzern.
Ihr Vertrag in Luzern läuft bis 2020.
Das Festival lebt zu einem schönen
Teil von privaten Sponsoren, die Sie
mit Ihrem Netzwerk gewinnen und
halten. Sind Sie ein Klumpenrisiko
für diese Organisation?
Ich betrachte mich nicht als unersetzbar. Das können andere auch – warum nicht eine Frau? Nicht von ungefähr hiess unser diesjähriges Festivalmotto Primadonna (lacht). Viele Gedanken habe ich mir über die Zeit
nach 2020 noch nicht gemacht. Zugegebenermassen hätte ich gern noch
meine Leidenschaft für das Musiktheater ausgelebt, wie ich das auch früher beim Davos Festival gemacht habe. Mein Vater war Sänger und wurde
in der Oper gross.
Liegt es an Ihrem Vater, dass Sie
Musik zu Ihrem Beruf machten?
Sicher. Vom Vater kam das Musikalische, von der Mutter das Unternehmerische.
Indem Sie die beiden Elemente
kombinierten, haben Sie das Lucerne Festival zum Erfolg gebracht.
Nur fünf Prozent der Mittel kommen vom Staat. Wird es in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten
noch immer möglich sein, so viel
Sponsorengeld hereinzuholen?
Davon bin ich überzeugt. Wir haben
langjährige, gute Partnerschaften mit
tollen Unternehmen. Dafür muss man
arbeiten, und das tut unser Team. Wir
setzen fast die Hälfte unserer Zeit dafür
ein.
Vor allem Sie selber tun das.
Wir alle. Und wir sind breit abgestützt,
auch dank der Freundesorganisation.
Wir nehmen 8,5 bis 9 Millionen Franken pro Jahr durch Sponsoring ein, bei
einem Gesamtbudget von 25 bis 27 Millionen.
Durch diese Tätigkeiten haben Sie
viele persönliche Freundschaften
zu Führungspersönlichkeiten aus
der Wirtschaft aufgebaut. Sie sind
bestens bekannt mit Paul Bulcke
von Nestlé, Urs Rohner von der CS,
Christoph Franz von Roche oder
Rolf Dörig von Swiss Life, um nur
wenige Namen zu nennen …
Viele dieser Persönlichkeiten wirken ja
auch in unserem Stiftungsrat und unterstützen unsere strategischen Planungen mit ihrer grossen Erfahrung. Diesen Austausch schätze ich enorm!
Sie fühlen sich im linken Kulturmilieu ebenso zu Hause wie im bürgerlichen Milieu der Wirtschaft und
der Hochfinanz ...
Wenn ich an unser Team denke, dann
gehe ich davon aus, dass etwa die Hälfte SP wählt, ein schöner Teil die Luzerner CVP und sicher auch einige die
FDP. Ich selber habe mich politisch
noch nie richtig geoutet, aber ich bin
ein Mann der Mitte. Mir ist als Intendant auch das Soziale wichtig: Wir haben in all den Jahren Arbeitsplätze aufgebaut, inzwischen beschäftigen wir
über 42 Mitarbeitende. Wir wollen ein
flexibler und offener Arbeitgeber sein,
auch für Teilzeitangestellte mit Kindern.
Auffällig ist, dass das Lucerne Festival nicht nur als Arbeitgeber, sondern auch als Konzertveranstalter
viele Angebote für Familien und
Kinder ins Programm genommen
hat. Gehört das zum guten Ton?
International bedeutende Festivals werden mehr und mehr auch daran gemessen, was sie sozial leisten. Es reicht
nicht mehr, einfach nur Stars auftreten
zu lassen. In Luzern engagieren wir uns
beispielsweise mit dem Strassenfestival, das gratis ist, oder mit unseren
«40 Min»-Veranstaltungen und unserem Bereich «young». In Japan sind wir
über drei Jahre in der Katastrophenregion Tohoku mit unserer aufblasbaren
Konzerthalle Ark Nova aufgetreten,
und dieses Community Project möchten wir nun auch nach New York bringen. Solche Veranstaltungen haben eine niedrige Eintrittsschwelle, und oft
beziehen sie Kinder und Jugendliche
aus einem schwierigen sozialen Umfeld
mit ein.
Sie haben Ihre Frau erwähnt, die
Musiklehrerin ist. Wie bringt man
Kindern die Freude an einem Instrument bei?
Eine möglichst natürliche, spielerische
Begegnung mit dem Instrument ist das
Beste. In meiner Kindheit war das noch
anders. Da hiess es: Da ist die Geige,
«Putin war bei unserem Treffen sehr nett
und sympathisch.»
und jetzt übe! Aber mein Vater war ein
berühmter Tenor (Ernst Haefliger,
Anm. d. Red.), und meine Mutter hatte
den Ehrgeiz, etwas aus uns Buben zu
machen.
Zu viel Druck kann oft kontraproduktiv wirken.
Eine gewisse Affinität sollten die Kinder
haben. Wenn keine vorhanden ist, sollte man nichts forcieren. Aber es lohnt
sich, schon früh unkompliziert in
Kinderkonzerte hineinzuschnuppern,
möglichst in keine allzu langen.
Liegt es auch am herkömmlichen
Konzertbetrieb, dass bei Kindern
die Freude an der Musik verschwindet?
Er spielt sicher eine Rolle. Deshalb planen wir Produktionen wie beispielsweise «Divamania» mit unserem Young
Performance Project, welches auch
schweizweit mit unserem Partner Zurich-Versicherung auf Tournee geht, wo
junge Musiker der Lucerne Festival
Alumni spielen, tanzen und schauspielern. So bekommen die Instrumente eine kommunizierende Dimension. Sie
werden zu Figuren. Und es gibt natürlich Klassiker wie «Die Zauberflöte».
Wenn die Kinder dem Papageno aus
der «Zauberflöte» von Mozart Federn
auszupfen dürfen, funktioniert das
heute genauso wie bei mir vor 50 Jahren (lacht).
Die Freude an der Musik ist das eine. Die Spitzenklasse das andere –
auch im Sport. In der basisdemokratischen Schweiz haben wir ab
und zu ein Spitzentalent wie Roger
Federer, aber die Begabtenförderung fällt zwischen Stuhl und Bank.
In zentralistisch strukturierten Ländern wie China und Russland wird Be-
gabtenförderung anders betrieben. Da
sind Künstler die Aushängeschilder, die
für den Erfolg des Systems stehen. In
der Schweiz müssen wir keine Aushängeschilder in diesem Sinn kreieren. Wir
haben einen demokratischen Ansatz,
wir glauben an jeden.
Sie gerieten schon in die Kritik, weil
Sie in Luzern den Putin-nahen russischen Dirigenten Valery Gergiev
auftreten liessen.
Bei uns treten laufend Künstler aus
Ländern auf, die andere politische
Strukturen haben als wir. Und gerade
in schwierigen Zeiten ist die Kultur dazu da, den Austausch zu erhalten.
Valery Gergiev wird von Putin protegiert und machte mit Aussagen gegen Homosexuelle Schlagzeilen.
Spielt das keine Rolle?
Für mich geht es primär um die Frage,
ob Gergiev als Künstler begeisternd ist.
Bewegt er unser Publikum? Unsere Besucher haben Freude an russischen
Orchestern. Wenn sich ein Künstler
hier in Luzern unkorrekt äussern würde, dann wäre das eine andere Situation.
Ihr oberstes Gebot ist Diplomatie?
Es ist keineswegs so, dass wir nicht sehen und hören, was in gewissen Ländern passiert. Als Intendant erlebe ich
da ganz unterschiedliche Welten. Ich
habe längst nicht an allem Freude.
Doch wenn wir mit diesen Ländern im
Dialog stehen, heisst das nicht, dass
wir uns ihrem System unterordnen.
Sondern dass die tollen Künstler bei
uns auftreten und sich mit hiesigen
Künstlern treffen können. Gerade
wenn es um das Verständnis für andere Kulturen geht, können Künstler viel
leisten. Darum wird es nächstes Jahr
gehen.
Sie kennen Russland auch über familiäre Verbindungen. Ihre frühere
Lebenspartnerin war mit Wladimir
Putin bekannt. Haben Sie Putin persönlich erlebt?
Ich habe ihn vor 25 Jahren getroffen.
Damals war er Assistent des Bürgermeisters von Sankt Petersburg. Bei
unserem Treffen war er sehr nett und
sympathisch. Er spricht fliessend
Deutsch. Damals hätte ich nicht gedacht, dass er dereinst Präsident
wird.
Zurück zum Lucerne Festival: Wie
zufrieden sind Sie mit dem Start des
neuen Chefdirigenten Riccardo
Chailly?
Ich bin begeistert von der Zusammenarbeit mit ihm. Was mir neben seiner
Brillanz gefällt, ist seine Tiefe. Mit ihm
kann man über Musik sprechen, Partituren anschauen und studieren. Insofern ist es ein fast nahtloser Übergang
von Claudio Abbado zu ihm.
Die beiden sind sehr unterschiedliche Persönlichkeiten.
Chailly ist ein ganz anderer Typ, auch
fordernder gegenüber dem Orchester.
Aber er vertritt dieselbe Auffassung
vom Musikmachen, von der Vorarbeit.
Ebenso davon, dass man nicht von einem zum anderen Konzert rennt, sondern auch einmal eine Woche oder
zwei braucht, um zu arbeiten. Für ihn
ist der Prozess der Probenarbeit genauso wichtig, wie auf der Bühne zu dirigieren. Das ist aussergewöhnlich. Es
gibt viele Dirigenten, die jeden Tag auf
der Bühne stehen müssen – sonst bekommen sie einen Nervenzusammenbruch.