Teil 2

Zürich
alt nie als Weichei»
Ex-Jugendanwalt Hansueli Gürber vor dem Café Gloria im Zürcher Kreis 5.
kleinlaut, wenn es um ihre eigenen Kinder oder die Kinder ihrer
Bekannten und Nachbarn geht.
Was war für Sie denn der
schönste Moment in Ihrem
Berufsleben?
Wenn es bei den Jugendlichen
klick gemacht hat. Wenn sie verstanden haben, dass sie auf dem
bisherigen Weg nicht weitergehen können, etwas verändern
und Eigenverantwortung übernehmen müssen. Bei gewissen
Jugendlichen dauerte das zwar
fast eineinhalb Jahre. Aber das
war schön, wenn es so weit war.
Warum haben denn diese
Jugendlichen Mühe mit der
Eigenverantwortung?
Sie haben hochtrabende Träume
und müssen diese aufgrund ihrer
Möglichkeiten Stück für Stück
begraben. Wie Carlos damals, als
er Thaiboxprofi werden wollte.
Vielleicht wird er es irgendwann,
vielleicht auch nicht. Wichtig ist,
dass man den Jugendlichen dann
nicht ihre letzte Hoffnung
nimmt. Carlos hatte etwas, worin
er gut war. Eine Lehre kann man
bei vielen dieser jungen Menschen wegen mangelnder schulischer Leistung und wegen des
schlechten Verhaltens vergessen.
Also muss man sie da abholen, wo
sie für sich selbst noch Perspektiven sehen. Und sie dann langsam
in die Realität zurückholen und
ihnen Möglichkeiten bieten.
Wie haben Sie gelernt, wie man
mit diesen Jugendlichen
umgehen muss?
Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. In Regensdorf im Gefängnis habe ich sicherlich sehr viel
gelernt. Da habe ich viele schwere
Fälle betreut. Ich wusste aber,
wenn man hier Angst zeigt, hat
man verloren, dann musste man
nicht mehr dort auftauchen.
Wenn ich mit psychisch kranken
Tätern alleine war, wusste ich, ich
muss sie von ihrem Trip irgend-
wie wieder herunterholen. Unter
diesem Druck habe ich einige
Dinge gelernt, die mich geprägt
haben. Das habe ich später auf die
Jugendanwaltschaft übertragen.
Wenn man einem jugendlichen
Gewalttäter auf der gleichen Ebe-
Carlos, wie er von den Medien
genannt wird, kommt 1995 in
einem Pariser Vorort zur Welt.
Seine Mutter stammt aus Kamerun, der Vater ist Schweizer, von
Beruf Architekt. Details seiner
ersten Lebensjahre sind wenige
bekannt. Die Rede ist von Misshandlungen und Eingesperrtsein. Jahre später diagnostizieren Behörden eine schwere posttraumatische Belastungsstörung.
Bevor er in den Kindergarten
eintritt, zieht die Mutter mit ihm
zum Vater nach Zürich-Wollishofen. Das geht nicht lange gut, die
Mutter zieht zurück nach Paris,
der Junge bleibt bei seinem Vater.
Dieser versucht zu dieser Zeit,
sein Architekturbüro zum Laufen
zu bringen, und lässt Carlos oft
alleine zu Hause. Mit vier Jahren
geht der Bub alleine in die Badi.
Immer weitergereicht
Im Kindergarten ist Carlos untragbar. Er überfordert fortan die
Lehrpersonen, bis sie ihn jeweils
aufgeben. Er lernt: Er kann sich
allem Unangenehmen entziehen,
wenn er nur genug blöd tut. Was er
bräuchte, klare Regeln und Strukturen, können auch die Eltern ihm
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Falsche
Adresse
Chantal Hebeisen
ne begegnet, ihn als Person kleinmachen, dann wird er in seinem
Gebaren noch bestätigt in seiner
Rolle, dass er «en böse Siech» ist
und alle gegen ihn sind.
Wie haben Sie Ihre
Pensionierung erlebt?
Es war so, wie ich es erwartet habe. Immer, wenn ich eine Tätigkeit beendet hatte, konnte ich
auch damit abschliessen. Zwar
war ich hier nicht ganz sicher, ob
es klappen würde, weil es ja um
das Ende einer fast dreissigjährigen Tätigkeit ging. Wenn ich aber
heute hier an der Josefstrasse
bin, dann . . . uaah . . . möchte ich
nicht nochmals von morgens um
sechs bis abends arbeiten. Ich habe das Glück, dass ich meine Familie, meine Tiere und meinen
Garten habe. Da bin ich beschäftigt.
Trotzdem war Ihr Abgang vermutlich nicht der schönste. Fühlten Sie sich nicht als Bauernopfer
im Regen stehen gelassen?
Ich war selbst 13 Jahre in der Politik und wusste, wie die Ausgangslage war. Es standen Wahlen bevor, deshalb bin ich von Anfang an
ohne jegliche Erwartung in die
Gespräche mit der Justizkommission gegangen. Wir hatten
einen grünen Regierungsrat und
einen SVP-Oberjugendanwalt,
SVP und FDP waren am Flirten
und die SP betrachtete Regierungsrat Graf quasi als ihren Regierungsrat. Da war meine Rolle
absehbar.
Empfanden Sie Genugtuung, als
Martin Graf seine Wiederwahl
verpasste?
Nein, eigentlich nicht. Er hat in
meinen Augen nicht sehr geschickt agiert, aber er war
eigentlich auch ein Opfer. Auch
hat er auf das falsche Pferd gesetzt. Ich habe noch niemals zuvor so viel Verachtung in der
Politik erlebt wie die von gewissen SVP-Leuten gegenüber Graf.
Aber das ist nicht mein Bier,
solch politisches Kalkül.
Tragen Sie denn dem «Blick»
heute noch etwas nach?
Ja. Es ist schon eine komische
Konstellation: Ich kenne Frau
Ringier persönlich, sie war einst
meine Untergebene, sie ist ja
auch im Sozialbereich tätig. Das
ist für mich seltsam, dass man
handkehrum in eine solche Zeitung involviert sein kann, die rein
nach dem Volksgusto schreibt. In
den 68er-Jahren hätten sie vielleicht geschrieben, was ich für ein
toller Jugendanwalt bin, wie ich
die Jugendlichen auf den rechten
Weg zurückbringe. Heute titeln
sie «Sozial-Wahn!», ohne den
Sachverhalt sauber abzuklären.
Das ist schon eine Schweinerei.
Ich bin zwar kein Justizfan, aber
eigentlich hätte ich ein Strafverfahren einleiten können. Denn
der Journalist wusste genau, welche Welle er mit seinem Artikel
lostreten würde. Dass bei uns im
Büro an diesem Dienstag die
Telefone keine Minute schweigen würden und wir mit Beschimpfungen und Drohungen
eingedeckt würden. Das trage ich
dem «Blick» nach.
Geben Sie dem «Blick» zu Ihrem
neuen Buch nun auch ein
Interview?
Wenn sie mich anfragen würden,
wäre ich dazu bereit, ja.
Interview: Chantal Hebeisen
DAS BUCH
«Der Wei­
chensteller»,
Ursula Eichenberger, Verlag
Wörterseh,
224 Seiten,
Fr. 36.90.
Ein Buch
schreiben, das
seine unkonventionelle Arbeit mit jugendlichen Straftätern aufzeigt, das
sei die Idee zum Buch gewesen,
sagt Hansueli Gürber. In dreissig
Berufsjahren beurteilte der ExJugendanwalt über 6000 Jugendliche und verhängte Strafen
oder Massnahmen. Dabei versuchte er stets, erzieherisch auf
seine zum Teil schwerstkriminellen Jugendlichen einzuwirken und sie auf den rechten Weg
zurückzubringen. Dafür zollten
ihm seine Klienten Respekt und
Vertrauen, von der breiten
Öffentlichkeit erntete er zuletzt
viel Kritik. heb
Wie ein Junge zu Carlos wurde
Vor drei Jahren machte
der Skandal über sein
Sondersetting den Mann
schweizweit bekannt. Ein
Abriss von Carlos’ Geschichte.
|
nicht geben. Stattdessen verwöhnen sie ihn, um ihn ruhig zu stellen. Das verschriebene Ritalin will
die Mutter ihm nicht geben. Ihr
Kind sei normal, einfach ein wenig
anders. Hilfe erhalten seine Eltern
nicht; niemand scheint zu wissen,
wie man dem schwierigen Kind
beikommen könnte.
Carlos macht sich einen Namen im Quartier; er fällt mit kleineren Delikten auf wie Sachbeschädigungen, Diebstahl. Er konsumiert zum ersten Mal Cannabis und Alkohol. Bereits mit 10
Jahren beginnt sein Irrweg durch
die Institutionen. Er wird in eine
Jugendpsychiatrie eingewiesen,
wiederholt verhaftet und immer
wieder fremdplatziert. Niemand
kann dem Jungen beikommen –
er findet die Schwäche jedes
Betreuers und nützt sie aus.
Carlos 2015 im Gerichtssaal. Keystone
Carlos legt sich in diesen Jahren eine harte Fassade zu; dahinter versteckt er einen ängstlichen
Kern, lautet Jahre später die
Diagnose. Er trainiert, wird zum
Muskelprotz und pflegt eine
grosse Klappe.
2011 gerät der 15-jährige Carlos
in einen Streit mit einem zwei
Jahre älteren Jungen. Er sticht
zweimal mit dem Messer zu. Nur
durch Glück verblutet der 17-Jährige nicht und überlebt ohne
Querschnittlähmung. Fachleute
nennen die Tat ein Panikdelikt.
Wandel im Sondersetting
2012 zieht ein vierköpfiges Team,
darunter Jugendanwalt Hansueli
Gürber und Thaiboxer Shemsi
Beqiri, ein Sondersetting für Carlos auf, das vielen bewährten
Standards zuwiderläuft. Die Kosten von 29 000 Franken monatlich entsprechen denen vieler
anderer Institutionen. Es gibt
Carlos zum ersten Mal einen
Rahmen, in dem er spurt. Er findet mit dem Thaiboxen ein Ziel,
das er erreichen möchte, und in
den Betreuungspersonen Halt.
Er lässt die Finger von Drogen,
putzt im Thaiboxzentrum und
hält sich an die Regeln. Nach 13
Monaten im Sondersetting, im
Sommer 2013, sieht es so aus, als
habe Carlos den Rank gefunden.
Er steht kurz vor der Ausbildung
zum Fitnesstrainer. Doch dann
macht ein SRF-Film über Hansueli Gürber seinen Fall publik.
Der Blick titelt: «Sozial-Wahn!».
Welle der Entrüstung
Die ganze Schweiz empört sich
über den Fall; in der Folge des
medialen Aufschreis lassen Oberjugendanwalt Marcel Riesen und
Justizdirektor Martin Graf Carlos fallen. Ohne Anlass wird er
verhaftet. Das Bundesgericht
pfeift die Zürcher Justiz ein halbes Jahr später zurück. Zu spät.
Carlos schwierige Seiten treten
noch stärker hervor als vor dem
Sondersetting. Im Massnahmezentrum Uitikon zerstört er
mehrmals seine Zelle. Der Versuch, ihn wieder im Sondersetting zu betreuen, scheitert.
Wieder auf freiem Fuss, scheint
er dem Bild, das die Medien von
ihm verbreitet haben, gerecht
werden zu wollen. Er verherrlicht
Gewalt auf seinem FacebookProfil und posiert mit einem Samuraischwert im Hauptbahnhof.
Es ist hauptsächlich eine Show.
Irgendwann bekennt er sich aus
heiterem Himmel zum Islam –
sein neuer Halt. Zuletzt in den
Medien war Carlos vor einem
Jahr, als er sich vor Bezirksgericht Dietikon dem Vorwurf
stellen musste, er habe jemanden
mit dem Messer bedroht. Kamerabilder entlasteten ihn. Seither
ist es ruhig geworden um ihn. des
ABSTIMMUNGEN Die Rücksendeadresse auf den aktuellen Stimmrechtsausweisen
der Stadt Dietikon ist falsch.
Die Stadtkanzlei hat zusammen mit der Post eine Lösung
für das Problem gefunden.
Bis am 20. September werde die
für Dietikon zuständige Postzustellstelle Schlieren alle falsch
adressierten Dietiker Stimmkuverts täglich an die Poststelle Dietikon weiterleiten, teilte die Stadt
Dietikon gestern mit. Dort werden sie direkt im Postfach der
Stadtverwaltung deponiert.
Ab dem 21. September holt ein
Kurier täglich bis und mit am 24.
September alle Dietiker Stimmkuverts in Schlieren ab und
bringt sie direkt zur Stadtkanzlei.
«Auf diese Weise ist die Zustellung aller falsch adressierten
Stimmkuverts sowie deren rechtzeitiges Eintreffen in der Stadtkanzlei garantiert.» Die zuständigen Stellen des Kantons und des
Bundes wurden über das Problem und die Lösung informiert.
Die falsche Adresse sei durch
einen Fehler in der Parametrierung bei der Verwaltungsrechenzentrum AG St. Gallen (VRSG)
entstanden. Die VRSG ist für die
postale Aufbereitung der Dietiker
Stimmunterlagen zuständig. Anstelle der korrekten Anschrift mit
Angabe des Postfachs wurde eine
in Dietikon nicht existierende
«Rütistrasse 1» aufgedruckt. sda
Holzfloss
wird zum Kino
MANIFESTA Die schwimmende
Plattform der Manifesta in Zürich hat bis im Oktober temporär
eine neue Aufgabe gefasst: Das
Zurich Film Festival (ZFF) wird
die Holzkonstruktion für seinen
Festivalbetrieb nach Ende der
Manifesta nutzen und darauf Filme zeigen. «Auf der Plattform hat
es eine grosse schöne Leinwand.
Auf diesem LED-Screen zeigen
wir mehr oder weniger ununterbrochen während des ganzen
Festivals Filme», sagte Beat Glur,
Sprecher des ZFF, gegenüber Radio Energy. Was nach Abschluss
des ZFF mit der Holzkonstruktion geschieht, ist noch unklar.
Gegen die Pläne, die Plattform
nach Freienbach zu holen, sind
mehrere Einsprachen eingegangen.
red
In Kürze
HEIMATSCHUTZ
Streit um Sexkino
geht weiter
Das Baurekursgericht des Kantons Zürich muss sich erneut mit
dem Kino Sternen in Zürich-Oerlikon befassen. Das Verwaltungsgericht hat eine Beschwerde des
Zürcher Heimatschutzes gutgeheissen. Strittig ist, ob das Gebäude, in dem sich ein Sexkino befindet, ein Schutzobjekt ist. sda
PILOTVERSUCH
Nach der Pension
noch arbeiten
Im Gesundheits- und Umweltdepartement (GUD) der Stadt
Zürich können Mitarbeiter neu
auch über das ordentliche Pensionsalter hinaus arbeiten. Der
Stadtrat hat den Pilotversuch 66+
bewilligt. Mitarbeitende, die daran teilnehmen, müssen ihr Pensum reduzieren. sda