KLAUS PETER WITTEMANN/DPA-BILDFUNK Ein Lehrer Frank Deppe steht für den Typus eines kritischen Wissenschaftlers. Über Jahrzehnte beeinflusste er Studierende, Gewerkschaften und soziale Bewegungen. Heute wird er 75. Ein Glückwunsch von Hans-Jürgen Urban und Klaus Dörre SEITEN 12/13 GEGRÜNDET 1947 · FREITAG, 23. SEPTEMBER 2016 · NR. 223 · 1,50 EURO (DE), 1,70 EURO (AT), 2,20 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT WWW.JUNGEWELT.DE Bröckelnde Festung Gefährliches Referendum Ranzige Politik Geknacktes Argentinien 2 3 6 9 »In der EU wird es zu Umbrüchen kommen.« Interview mit Andrej Hunko. Siehe auch Seite 4 Sonntag wird in der Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina abgestimmt. Von Gerd Schumann Alles folgt den Rechten: Paris vergrößert den Repressionsapparat. Von Hansgeorg Hermann Schulden machen wieder erlaubt: Präsident Macri holt IWF erneut ins Land. Von Robert Ojurovic Noch viel mehr Arme A Caracas. Venezuelas oberste Wahlbehörde hat der Opposition einen schweren Schlag versetzt. Nach Gesprächen mit dieser und der Regierung beschied der Nationale Wahlrat am Mittwoch, dass ein Referendum zur Amtsenthebung des sozialistischen Präsidenten Nicolás Maduro erst »in der Mitte des ersten Jahresquartals 2017« stattfinden könne. Selbst bei einem Erfolg wird es dann keine Neuwahlen geben, weil in diesem Falle Maduros Stellvertreter das Amt bis zum Mandatsende im Jahr 2019 übernehmen würde. Oppositionssprecher Jesús Torrealba wollte dem Termin des Wahlrats zunächst nicht zustimmen. Sein Bündnis werde über seine weitere »Strategie für seinen Kampf« beraten, kündigte er nach der Entscheidung des Gremiums an. (AFP/jW) DDP IMAGES rm sein ist ganz und gar nicht sexy – auf gegenteilige Ideen können nur hochbezahlte Staatsbedienstete kommen, die alles unter Marketinggesichtspunkten bewerten und für die »Armut« lediglich ein abstrakter Begriff ist. Wer sich, selbst wenn er mit dem Hauptstadtflughafen BER Deutschlands teuerste Langzeitbaustelle geschaffen hat, keine Sorgen um seine monatlichen Bezüge zu machen braucht wie Klaus Wowereit (SPD), der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, dem gehen solche Floskeln leicht über die Lippen. Wer allerdings nach der Anhebung der Hartz-IV-Bezüge um wenige Euro, die am Mittwoch beschlossen wurde, noch immer nicht weiß, wie er am Ende des Monats das Abendbrot bezahlen soll, kann über solche Phrasen nicht mal mehr müde lächeln. Und Deutschland wird immer ärmer, zumindest ein Großteil der Bevölkerung. Am Donnerstag veröffentlichte das statistische Bundesamt neue Zahlen zur Armutsgefährdung. Diese ist bedenklich gestiegen in den vergangenen zehn Jahren: In Nordrhein-Westfalen galten im vergangenen Jahr 17,5 Prozent der Einwohner als arm – das ist ein Anstieg um 3,1 Prozentpunkte im Vergleich zu 2005. In den Stadtstaaten Berlin und Bremen sieht es sogar noch schlimmer aus: Jeder vierte bis fünfte gilt hier als arm. Und auch die Bundesländer, in denen die Armutsgefährdung überdurchschnittlich gesunken ist, wie Mecklenburg-Vorpommern (21,7 Prozent), Sachsen-Anhalt (20,1 Prozent) oder Brandenburg (16,8 Prozent), bewegen sich noch immer auf einem hohen Niveau. Generell ist die Quote in Ostdeutschland mit 19,7 Prozent fünf Punkte höher als im Westen. In der BRD gibt es viele arme Kinder – in der Statistik wird deren Anzahl allerdings nicht komplett abgebildet Dabei tut die Politik alles, um die offiziellen Zahlen zu schönen. Der Vergleichswert wird dynamisch mit Hilfe des mittleren Einkommens festgelegt: Die Hälfte in der BRD verdient mehr, die andere weniger. Wer nur auf 60 Prozent dieses Wertes kommt, gilt als armutsgefährdet. Diese Schwelle lag 2015 bei 942 Euro. In die Statistik fließen allerdings nicht alle Personen gleichermaßen ein, die mit sowenig Geld auskommen müssen: Der ersten erwachsenen Person in einem Haushalt wird ein »Bedarfsgewicht« 1 zugeordnet. Weitere Menschen im gleichen Haushalt, die älter als 14 Jahre sind, werden aber lediglich mit 0,5 »gewichtet«, Kinder mit einem Faktor von 0,3. Auf dieses Zahlenspiel hat sich die OECD verständigt, weil angenommen wird, dass sich durch gemeinsames Haushalten sparen lasse. Arm sind die Leute aber so oder so, ob sie die Stromrechnung gemeinsam tragen müssen oder allein. Auf ein Konzept, der immer deutlicher hervortretenden Armut zu begegnen, wartet man allerdings vergeblich. Vielleicht auch, weil die Vorstellung, von einem Einkommen unter tausend Euro im Monat leben zu müssen, Entscheidungsträgern in diesem Land sehr fremd ist. Sogar wenn sie ihren Job verlieren, werden sie nicht in der Schlange vor dem Jobcenter stehen und ihre gesamten privaten Verhältnisse offenlegen müssen, um Leistungen beziehen zu können. Daniela Augenstein, die ehemalige Sprecherin des Berliner Senats, die am Dienstag nach 21 Monaten in den Ruhestand versetzt wurde, bekommt als Beamtin ein sogenanntes Ruhegehalt als Übergangsgeld: Drei Monate lang stehen ihr volle Bezüge in Höhe von monatlich 8.906 Euro zu, weitere 21 Monate etwa 72 Prozent, also 6.390 Euro. Um auf eine solche Summe, insgesamt 160.908 Euro, zu kommen, müssten Menschen mit einem »Einkommen« von 942 Euro mehr als 14 Jahre lang arbeiten. Gegen die Gewalt des Staates USA: Andauernde Proteste in Tulsa und Charlotte nach tödlichen Polizeischüssen auf Afroamerikaner N ach tödlichen Polizeischüssen auf zwei Afroamerikaner in Tulsa (Oklahoma) und Charlotte (North Carolina) ist es in letztgenannter Stadt auch am zweiten Protesttag gegen rassistische Polizeigewalt wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen. Nachdem es den Polizeikräften am Mittwoch abend (Ortszeit) und in der Nacht weder mit Tränengas noch mit Blendgranaten oder Gummigeschossen gelungen war, die wachsende Menge, die sich von Absperrungen nicht beeindrucken MARCO BELLO/REUTERS Laut Statistischem Bundesamt steigt die Armutsgefährdungsquote weiter an. Dabei werden etliche Menschen aus der Statistik rausgerechnet. Von Claudia Wrobel Keine Neuwahlen in Venezuela ließ, auseinanderzutreiben, verhängte Gouverneur Pat McCrory den Ausnahmezustand und mobilisierte die paramilitärische Nationalgarde. Trotzdem versammelten sich auch am Donnerstag bei Tagesanbruch wieder Menschen im Stadtzentrum, um ein Ende der Polizeigewalt zu fordern. Unklar bleibt weiterhin, wer am Mittwoch einen der Demonstranten niedergeschossen hatte. Die Polizei wies jede Verantwortung von sich und machte einen »Zivilisten« dafür verantwortlich. Laut der antirassistischen Plattform The Root widersprechen dem jedoch »meh- rere Protestierende«. In einem während des Vorfalls aufgenommenen Video sei deutlich zu hören, wie ein Mann Polizisten mit den Worten anschreie: »Jetzt habt ihr noch einen von uns erschossen!« Polizeichef Kerr Putney stellte dazu lediglich richtig, der Demonstrant sei nicht tödlich getroffen worden, wie verbreitet wurde, sondern er lebe noch, befinde sich aber »in kritischem Zustand«. Die Ermittlungen gegen den unbekannten Schützen liefen noch. Im Fall der tödlichen Schüsse auf den 43jährigen Keith Lamont Scott in Charlotte am Dienstag nachmittag sag- te die Augenzeugin Taheshia Williams unterdessen in einem von The Root veröffentlichten Interview aus, der uniformierte Todesschütze sei kein Afroamerikaner, sondern ein Weißer gewesen. Außerdem habe Scott auch keine Waffe in den Händen gehalten, wie die Polizei behauptet, sondern ein Buch, das zu Boden fiel, als er mit erhobenen Händen aus seinem Auto ausstieg. Erst dann sei er mit vier Schüssen niedergestreckt worden. »Die haben einen Fehler gemacht«, sagte Williams, »und versuchen jetzt um jeden Preis, das zu vertuschen.« Jürgen Heiser Syrien: Linke lehnt Flugverbotszone ab Berlin. Die Linkspartei lehnt die von Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) vorgeschlagene Flugverbotszone in Syrien kategorisch ab. »Flugverbotszone heißt noch mehr Krieg und noch mehr Tote; das wird den Krieg verschärfen«, sagte die Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel am Donnerstag in einer »Aktuellen Stunde« zum Syrien-Konflikt, die von der Regierungskoalition beantragt worden war. Steinmeier hatte am Mittwoch in New York für ein »zeitlich begrenztes, aber vollständiges Verbot aller militärischen Flugbewegungen über Syrien« plädiert. Hänsel sagte zudem, es sei »völlig unverantwortlich«, dass Politiker von SPD und CDU den Eindruck erweckten, die syrische Regierung oder Russland hätten am vergangenen Montag einen Hilfskonvoi für Aleppo bombardiert. Schließlich sei bislang völlig unklar, wer die Verantwortung für dieses schwere Kriegsverbrechen trage. (dpa/jW) Siehe Seite 7 wird herausgegeben von 1.874 Genossinnen und Genossen (Stand 20.9.2016) n www.jungewelt.de/lpg
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