Gegen die Gewalt des Staates

KLAUS PETER WITTEMANN/DPA-BILDFUNK
Ein Lehrer
Frank Deppe steht für den Typus
eines kritischen Wissenschaftlers.
Über Jahrzehnte beeinflusste er Studierende, Gewerkschaften und soziale Bewegungen. Heute wird er 75.
Ein Glückwunsch von Hans-Jürgen
Urban und Klaus Dörre
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Bröckelnde Festung
Gefährliches Referendum
Ranzige Politik
Geknacktes Argentinien
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»In der EU wird es zu Umbrüchen
kommen.« Interview mit Andrej
Hunko. Siehe auch Seite 4
Sonntag wird in der Republika Srpska
in Bosnien-Herzegowina abgestimmt. Von Gerd Schumann
Alles folgt den Rechten: Paris vergrößert den Repressionsapparat.
Von Hansgeorg Hermann
Schulden machen wieder erlaubt: Präsident Macri holt IWF erneut ins
Land. Von Robert Ojurovic
Noch viel mehr Arme
A
Caracas. Venezuelas oberste Wahlbehörde hat der Opposition einen
schweren Schlag versetzt. Nach
Gesprächen mit dieser und der
Regierung beschied der Nationale
Wahlrat am Mittwoch, dass ein
Referendum zur Amtsenthebung
des sozialistischen Präsidenten
Nicolás Maduro erst »in der Mitte
des ersten Jahresquartals 2017«
stattfinden könne. Selbst bei einem
Erfolg wird es dann keine Neuwahlen geben, weil in diesem Falle
Maduros Stellvertreter das Amt bis
zum Mandatsende im Jahr 2019
übernehmen würde. Oppositionssprecher Jesús Torrealba wollte
dem Termin des Wahlrats zunächst
nicht zustimmen. Sein Bündnis
werde über seine weitere »Strategie für seinen Kampf« beraten,
kündigte er nach der Entscheidung
des Gremiums an. (AFP/jW)
DDP IMAGES
rm sein ist ganz und gar nicht
sexy – auf gegenteilige ­Ideen
können nur hochbezahlte
Staatsbedienstete kommen, die alles
unter Marketinggesichtspunkten bewerten und für die »Armut« lediglich ein
abstrakter Begriff ist. Wer sich, selbst
wenn er mit dem Hauptstadtflughafen
BER Deutschlands teuerste Langzeitbaustelle geschaffen hat, keine Sorgen um seine monatlichen Bezüge zu
machen braucht wie Klaus Wowereit
(SPD), der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, dem gehen solche Floskeln leicht über die Lippen.
Wer allerdings nach der Anhebung der
Hartz-IV-Bezüge um wenige Euro, die
am Mittwoch beschlossen wurde, noch
immer nicht weiß, wie er am Ende des
Monats das Abendbrot bezahlen soll,
kann über solche Phrasen nicht mal
mehr müde lächeln.
Und Deutschland wird immer ärmer,
zumindest ein Großteil der Bevölkerung. Am Donnerstag veröffentlichte
das statistische Bundesamt neue Zahlen
zur Armutsgefährdung. Diese ist bedenklich gestiegen in den vergangenen
zehn Jahren: In Nordrhein-Westfalen
galten im vergangenen Jahr 17,5 Prozent der Einwohner als arm – das ist
ein Anstieg um 3,1 Prozentpunkte im
Vergleich zu 2005. In den Stadtstaaten
Berlin und Bremen sieht es sogar noch
schlimmer aus: Jeder vierte bis fünfte
gilt hier als arm. Und auch die Bundesländer, in denen die Armutsgefährdung
überdurchschnittlich gesunken ist, wie
Mecklenburg-Vorpommern (21,7 Prozent), Sachsen-Anhalt (20,1 Prozent)
oder Brandenburg (16,8 Prozent), bewegen sich noch immer auf einem hohen Niveau. Generell ist die Quote in
Ostdeutschland mit 19,7 Prozent fünf
Punkte höher als im Westen.
In der BRD gibt es viele arme Kinder – in der Statistik wird deren Anzahl allerdings nicht komplett abgebildet
Dabei tut die Politik alles, um die
offiziellen Zahlen zu schönen. Der Vergleichswert wird dynamisch mit Hilfe
des mittleren Einkommens festgelegt:
Die Hälfte in der BRD verdient mehr,
die andere weniger. Wer nur auf 60 Prozent dieses Wertes kommt, gilt als armutsgefährdet. Diese Schwelle lag 2015
bei 942 Euro. In die Statistik fließen
allerdings nicht alle Personen gleichermaßen ein, die mit sowenig Geld auskommen müssen: Der ersten erwachsenen Person in einem Haushalt wird ein
»Bedarfsgewicht« 1 zugeordnet. Weitere Menschen im gleichen Haushalt,
die älter als 14 Jahre sind, werden aber
lediglich mit 0,5 »gewichtet«, Kinder
mit einem Faktor von 0,3. Auf dieses
Zahlenspiel hat sich die OECD verständigt, weil angenommen wird, dass sich
durch gemeinsames Haushalten sparen
lasse. Arm sind die Leute aber so oder
so, ob sie die Stromrechnung gemeinsam tragen müssen oder allein.
Auf ein Konzept, der immer deutlicher hervortretenden Armut zu begegnen, wartet man allerdings vergeblich.
Vielleicht auch, weil die Vorstellung,
von einem Einkommen unter tausend
Euro im Monat leben zu müssen, Entscheidungsträgern in diesem Land
sehr fremd ist. Sogar wenn sie ihren
Job verlieren, werden sie nicht in der
Schlange vor dem Jobcenter stehen
und ihre gesamten privaten Verhältnisse offenlegen müssen, um Leistungen beziehen zu können. Daniela
Augenstein, die ehemalige Sprecherin
des Berliner Senats, die am Dienstag
nach 21 Monaten in den Ruhestand
versetzt wurde, bekommt als Beamtin
ein sogenanntes Ruhegehalt als Übergangsgeld: Drei Monate lang stehen
ihr volle Bezüge in Höhe von monatlich 8.906 Euro zu, weitere 21 Monate
etwa 72 Prozent, also 6.390 Euro. Um
auf eine solche Summe, insgesamt
160.908 Euro, zu kommen, müssten
Menschen mit einem »Einkommen«
von 942 Euro mehr als 14 Jahre lang
arbeiten.
Gegen die Gewalt des Staates
USA: Andauernde Proteste in Tulsa und Charlotte nach tödlichen Polizeischüssen auf Afroamerikaner
N
ach tödlichen Polizeischüssen auf zwei Afroamerikaner in Tulsa (Oklahoma) und
Charlotte (North Carolina) ist es in
letztgenannter Stadt auch am zweiten
Protesttag gegen rassistische Polizeigewalt wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten
und der Polizei gekommen. Nachdem
es den Polizeikräften am Mittwoch
abend (Ortszeit) und in der Nacht weder
mit Tränengas noch mit Blendgranaten oder Gummigeschossen gelungen
war, die wachsende Menge, die sich
von Absperrungen nicht beeindrucken
MARCO BELLO/REUTERS
Laut Statistischem Bundesamt steigt die Armutsgefährdungsquote weiter an.
Dabei werden etliche Menschen aus der Statistik rausgerechnet. Von Claudia Wrobel
Keine Neuwahlen in
­Venezuela
ließ, auseinanderzutreiben, verhängte
Gouverneur Pat McCrory den Ausnahmezustand und mobilisierte die paramilitärische Nationalgarde. Trotzdem
versammelten sich auch am Donnerstag
bei Tagesanbruch wieder Menschen im
Stadtzentrum, um ein Ende der Polizeigewalt zu fordern.
Unklar bleibt weiterhin, wer am Mittwoch einen der Demonstranten niedergeschossen hatte. Die Polizei wies jede
Verantwortung von sich und machte einen »Zivilisten« dafür verantwortlich.
Laut der antirassistischen Plattform The
Root widersprechen dem jedoch »meh-
rere Protestierende«. In einem während
des Vorfalls aufgenommenen Video sei
deutlich zu hören, wie ein Mann Polizisten mit den Worten anschreie: »Jetzt
habt ihr noch einen von uns erschossen!« Polizeichef Kerr Putney stellte
dazu lediglich richtig, der Demonstrant
sei nicht tödlich getroffen worden, wie
verbreitet wurde, sondern er lebe noch,
befinde sich aber »in kritischem Zustand«. Die Ermittlungen gegen den unbekannten Schützen liefen noch.
Im Fall der tödlichen Schüsse auf
den 43jährigen Keith Lamont Scott in
Charlotte am Dienstag nachmittag sag-
te die Augenzeugin Taheshia Williams
unterdessen in einem von The Root
veröffentlichten Interview aus, der uniformierte Todesschütze sei kein Afroamerikaner, sondern ein Weißer gewesen. Außerdem habe Scott auch keine
Waffe in den Händen gehalten, wie die
Polizei behauptet, sondern ein Buch,
das zu Boden fiel, als er mit erhobenen Händen aus seinem Auto ausstieg.
Erst dann sei er mit vier Schüssen niedergestreckt worden. »Die haben einen
Fehler gemacht«, sagte Williams, »und
versuchen jetzt um jeden Preis, das zu
vertuschen.«
Jürgen Heiser
Syrien: Linke lehnt
­Flugverbotszone ab
Berlin. Die Linkspartei lehnt
die von Bundesaußenminister
Frank-Walter Steinmeier (SPD)
vorgeschlagene Flugverbotszone
in Syrien kategorisch ab. »Flugverbotszone heißt noch mehr Krieg
und noch mehr Tote; das wird den
Krieg verschärfen«, sagte die Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel
am Donnerstag in einer »Aktuellen
Stunde« zum Syrien-Konflikt, die
von der Regierungskoalition beantragt worden war. Steinmeier hatte
am Mittwoch in New York für ein
»zeitlich begrenztes, aber vollständiges Verbot aller militärischen
Flugbewegungen über Syrien«
plädiert. Hänsel sagte zudem, es
sei »völlig unverantwortlich«, dass
Politiker von SPD und CDU den
Eindruck erweckten, die syrische
Regierung oder Russland hätten
am vergangenen Montag einen
Hilfskonvoi für Aleppo bombardiert. Schließlich sei bislang völlig
unklar, wer die Verantwortung für
dieses schwere Kriegsverbrechen
trage. (dpa/jW)
Siehe Seite 7
wird herausgegeben von
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