Wohlfeiler Vorschlag aus Berlin

BARBORA PREKOPOVA/DPA-BILDFUNK
»Sogwirkung«
Hetze der Boulevardmedien wirkt:
Hamburg räumt vermehrt Nacht­
lager von obdachlosen Arbeits­
migranten aus Osteuropa, um
keine »Anreize« zu setzen, in
der Stadt zu bleiben.
Von Kristian Stemmler
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GEGRÜNDET 1947 · DONNERSTAG, 22. SEPTEMBER 2016 · NR. 222 · 1,50 EURO (DE), 1,70 EURO (AT), 2,20 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT
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Amtliche Selbstbedienung
Vorbild Europa
Legalisierter Landraub
Mehrheit für Kriegskurs
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Betreiber des weltgrößten Internetkno- Kenia will 300.000 Flüchtlinge nach
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Somalia abschieben. Dort benögegen BND-Überwachung
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Kambodscha: Wer gegen Behördenwillkür demonstriert, kommt vor
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SPD-Reichskonferenz 1916: Die Parteispaltung bekommt Konturen.
Von Leo Schwarz
Stoppt endlich die Killer!
Palästinensergebiete:
Wahlen abgesagt
Ramallah. Die für den 8. Oktober
angekündigten Kommunalwahlen
im Gazastreifen und im Westjordanland können nicht stattfinden.
Grund sei eine ausstehende Entscheidung des Obersten Gerichts
in Ramallah, teilte die Wahlkommission am Mittwoch mit. Ein
neuer Termin wurde nicht festgelegt. Hintergrund ist ein Streit
über Kandidatenlisten zwischen
der im Westjordanland dominierenden Fatah und der in Gaza regierenden Hamas, der schließlich
vor dem Obersten Gericht gelandet war. Am Mittwoch stellten die
Richter ein Urteil am 3. Oktober
in Aussicht – also fünf Tage vor
dem geplanten Wahltermin. Weil
der Wahlkampf normalerweise
aber zwei Wochen dauert, sagte
die Wahlkommission den Termin
daraufhin ganz ab.
(AFP/jW)
JEFF SINER/THE CHARLOTTE OBSERVER/AP PHOTO
Polizisten erschossen in Oklahoma und in North Carolina jeweils einen Afroamerikaner.
Gewaltsame Auseinandersetzungen bei Protesten. Von Arnold Schölzel
»S 21« kostet bis zu
neun Milliarden Euro
I
n Charlotte (US-Bundesstaat North
Carolina) sind in der Nacht zu Mittwoch nach der Erschießung eines
Afroamerikaners durch einen Polizisten bei Protesten 16 Beamte und eine
unbekannte Zahl von Demonstranten
verletzt worden. Auf einer Pressekonferenz am Mittwoch vormittag erklärte
Polizeichef Kerr Putney, eine Person
sei festgenommen worden. Die lokale
Zeitung Charlotte Observer berichtete,
Uniformierte hätten am Dienstag nachmittag gegen 16 Uhr Ortszeit in einem
Wohngebiet einen Verdächtigen gesucht. Dabei hätten sie auf einem Parkplatz einen nach Aussagen der Beamten
bewaffneten und bedrohlich wirkenden
Mann erschossen. Der Schütze und der
getötete Familienvater Keith Lamont
Scott (43) sind Afroamerikaner. Putney
bestätigte, der Getötete sei nicht der
ursprünglich Gesuchte gewesen.
Am Ort des Geschehens in der Nähe
des Campus der Universität von North
Carolina kam es zu Protestkundgebun-
gen Hunderter Menschen. Teilnehmer
riefen den Namen der Schwarzenbewegung »Black Lives Matter« und hielten
Schilder sowie Transparente mit Losungen wie »Keine Gerechtigkeit, kein
Frieden« und »Hört auf, uns zu töten!«
hoch. Der Protest weitete sich aus. Die
Polizei setzte Tränengas ein. Zeitweise wurde die Autobahn Interstate 85
von den Demonstranten blockiert. Aufnahmen von Mittwoch morgen zeigten,
dass Lastkraftwagen am Weiterfahren
gehindert und einige in Brand gesteckt
wurden. Vereinzelt kam es zu Plünderungen. Eine Reporterin veröffentlichte
laut dpa ein Video der Schwester des
Erschossenen. Sie erklärt, ihr Bruder
sei unbewaffnet gewesen. Er habe in
seinem Auto ein Buch gelesen und auf
seine Kinder gewartet, als die Polizei
ihn erst mit einem Elektroschocker außer Gefecht gesetzt und dann mit vier
Schüssen getötet habe. Die Polizei
behauptete dagegen, kein Buch, sondern eine Waffe gefunden zu haben. Es
werde eine umfassende Untersuchung
geben, versprach Bürgermeisterin Jennifer Roberts auf Twitter. Sie forderte
»Antworten«. Auf einer Pressekonferenz sagte sie, Kontakt zum Gouverneur und zum Weißen Haus aufgenommen zu haben. Der Todesschütze wurde
laut Medienberichten vorübergehend
vom Dienst suspendiert. Die Behörden
richteten sich für Mittwoch abend auf
größere Proteste als am Vortag ein.
Erst am Montag waren Videos zu
einem anderen Fall veröffentlicht worden. Die Aufnahmen aus einem Helikopter und vermutlich einer Körperkamera zeigen, wie eine weiße Polizistin
in Oklahoma am Freitag einen unbewaffneten Afroamerikaner erschießt. Er
geht mit erhobenen Armen und offenkundig unbewaffnet auf einer Straße
auf sein Auto zu, mehrere Polizisten
nähern sich. Es sieht so aus, als kooperiere er mit den Beamten. Dann trifft
ihn der Schuss, er fällt zu Boden, woraufhin ein weiterer Polizist eine Be-
täubungswaffe abfeuert. Der Name des
Getöteten wird mit Terence Crutcher
(40) angegeben. Der Polizeichef von
Tulsa, Chuck Jordan, kommentierte das
Video mit den Worten, es sei verstörend
und »sehr schwer anzuschauen«. Er
kündigte »Gerechtigkeit in dem Fall«
an. Vor dem Hauptquartier der Polizei
in Tulsa versammelten sich Hunderte
Menschen. Sie demonstrierten friedlich
und forderten in Sprechchören und auf
Plakaten die Entlassung der Schützin.
Die Proteste sollen fortgesetzt werden.
Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton nannte die Erschießung in
Oklahoma entsetzlich. Von Donald
Trump wurde keine Reaktion auf einen
der Vorfälle bekannt. In den USA wird
seit der Tötung des 18jährigen Schülers
Michael Brown in Ferguson (Missouri)
am 9. August 2014 durch einen Beamten über Polizeigewalt gegen schwarze
US-Bürger debattiert. Zahlreiche Erschießungen unbewaffneter Schwarzer
lösten landesweite Proteste aus.
Wohlfeiler Vorschlag aus Berlin
Auf Wahlkampfkurs: Vizekanzler Gabriel für schrittweise Lockerung der Sanktionen gegen Russland
V
izekanzler Sigmar Gabriel hat
sich für eine Lockerung der
Wirtschaftssanktionen gegen
Russland ausgesprochen. »Gemeinsam
mit dem deutschen Außenminister setze ich darauf, dass die nach der KrimAnnexion verhängten Sanktionen auch
schrittweise aufgehoben werden können«, sagte der SPD-Chef am Mittwoch
vor Beginn seiner Reise nach Moskau.
Die Beschränkungen für Handel, Finanzwirtschaft und einzelne Personen
sollten in dem Maße beendet werden,
in dem es Fortschritte bei der Umset-
zung des Minsker Abkommens gebe.
Fazit: Es ist praktisch Wahlkampf
in Deutschland. Da kann es schon
zu gelegentlichen Anfällen von vernünftigem Reden bei Spitzenpolitikern kommen. Kostet ja nicht viel,
außer böse Kommentare der »Qualitätsmedien«. Gabriel dürfte wissen,
dass Washington, Brüssel, Warschau
und auch seine Chefin jeglichen Versuch, dies demnächst in die Tat umzusetzen, verhindern würden. Deshalb warnte er vorsorglich vor zu
hohen Erwartungen: Mit schnellen
Ergebnissen sei nicht zu rechnen.
Der Vizekanzler sollte am Abend
Präsident Wladimir Putin treffen. Nach
russischen Angaben will auch der über
die Sanktionen sprechen. Wenn es
hier Fortschritte gebe, könne das die
Entspannung zum Nutzen beider Seiten vorantreiben, sagte Gabriel. »Die
deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen haben ein großes Potential«,
verkündete er eine bekannte Tatsache.
Er halte in der Zukunft auch eine Freihandelspartnerschaft auf Augenhöhe
zwischen EU und Russland für denkbar.
Nach dem Maidan-Putsch in der
Ukraine 2014 und antirussischen Pogromen hatte Russlands Regierung ihre
Interessen auf der nach einer »Schenkung« seit 1954 formell zur Ukraine
gehörenden Halbinsel Krim gesichert.
Sie organisierte ein Referendum, stellte
nach positivem Votum die Krim unter
russische Hoheit. Daraufhin hatten die
Drahtzieher des Putsches, allen voran
USA und EU, Sanktionen gegen Moskau verhängt. Dort reagierte man u. a.
mit einem Embargo gegen Agrarprodukte aus dem Westen. (Reuters/jW)
MARIJAN MURAT/ DPA-BILDFUNK
Charlotte, North Carolina, am Dienstag abend: Die Polizei beantwortet den Protest mit Tränengas
Stuttgart. Der Bundesrechnungshof
hält eine weitere Kostenexplosion
beim Bahnprojekt »Stuttgart 21«
für möglich. In einem geheimen
Bericht sehen die Kontrolleure die
Kosten des Vorhabens bei bis zu
neun Milliarden Euro. Im Gesamtwertumfang von zur Zeit sechs
Milliarden Euro seien annähernd
zwei Milliarden Euro Projektrisiken und Kosten, die im wirtschaftlichen Zusammenhang mit Stuttgart 21 stehen, nicht abgebildet,
heißt es in dem Bericht, der der
Deutschen Presseagentur vorliegt.
Die Summe von rund sechs Milliarden Euro bezeichnet das von
den Projektpartnern genehmigte
Investitionsbudget. Ebenfalls hinzu kämen während der Bauphase
anfallende Zinskosten für Fremdkapital in Höhe von mehr als einer
Milliarde Euro, schreibt der Rechnungshof. (dpa/jW)
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