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leitartikel
Ich pöble, also bin ich
Sachlichkeit, politische Korrektheit? War einmal. In der politischen Auseinandersetzung
gilt: Je rüder, grober und chauvinistischer, desto erfolgreicher. Dieses Malheur haben sich
die etablierten Regierungsparteien aber selbst eingebrockt.
von Norbert Dall’Ò
Luis Durnwalder
gehört zu
jener Politikergeneration, die die
Wutbürger von
heute mit reichlich
Munition
versorgten.
Ü
b immer Treu und Redlichkeit bis an dein
kühles Grab, und weiche keinen Finger
breit von Gottes Wegen ab.“
Wenn Sie ein Methusalem sind, also über 50,
kennen Sie diese Volksweise. Sie stammt aus dem
18. Jahrhundert – wurde aber bis gestern immer
noch geträllert. Heute nicht mehr.
Heute sind Treu und Redlichkeit – trotz aller gegenteiligen Beteuerungen – so was von out.
Heute wird nicht mehr fröhlich geträllert, sondern gebrüllt und geschimpft. Je lauter und heftiger, desto erfolgreicher ist man damit.
Das Phänomen überrascht. Da drücken junge Menschen 13 Jahre lang die Schulbänke, lernen eine politisch korrekte Sprache und ihr
Gehirn zu betätigen, bevor sie den Mund aufmachen, und dann – wenn sie dann wahlberechtigte Bürger sind – rennen sie jenen Politikern in
die Arme, die genau das tun, was man laut sämtlicher Lehrbücher der Gemeinschaftskunde nicht
tun sollte: pauschalisieren, rüde Sprüche klopfen,
Feindbilder an die Wand malen, Ängste schüren,
andersdenkende Menschen verhöhnen und niedermachen.
Das kommt davon, wenn jahrzehntelang eine
Redlichkeit gepredigt wird, die von der Realität
Lügen gestraft wird. Wer Redlichkeit zur Schönfärberei vergewaltigt, darf sich nicht wundern,
wenn der Schwindel früher oder später auffliegt.
Beispiele gibt es zuhauf, die drei gröbsten:
a) die Mär von der Wohlstandsgesellschaft und
vom Segen der Sozialpartnerschaft wiederzukauen, während Jahr für Jahr die Schere zwischen
arm und reich weiter auseinanderklafft; b) einen
Krankenhaus- und Sanitätswildwuchs zu verteidigen, obwohl wir ihn uns längst nicht mehr leisten können; und c) immer noch so zu tun, als sei
Multikulti ein Segen der Zivilisation und die unkontrollierte Zuwanderung kein Problem.
® © Alle Rechte vorbehalten/Riproduzione riservata – FF-Media GmbH/Srl „Wir schaffen das,“ meinte Kanzlerin Merkel.
Sie meinte es gut und ehrlich. Und sie hatte, damals im Herbst 2015, keine andere Wahl. Allerdings forderte sie damit geradezu zu weiteren Fragen heraus: „Was schaffen wir?“ – und vor allem:
„Wollen wir das überhaupt schaffen?“
Reinen Wein einschenken: auch so ein gut gemeinter Spruch von damals. Haben uns die etablierten Regierungsparteien reinen Wein eingeschenkt? Sie taten es nicht beziehungsweise erst
dann, als die Kacke bereits am Dampfen war –
siehe Landesenergiegesellschaft Sel AG, siehe Politikerprivilegien.
Als die Wutbürger auftauchten, glaubte man
noch auf ein vorüberziehendes Phänomen. Von
wegen. Mittlerweile stellen die Wahlstrategen
der Volksparteien erschrocken fest, dass Fakten
gegen Sprüche, und seien diese noch so abstrus,
keine Chance haben. Das beste Beispiel: Donald
Trump. Der redet bewusst Stumpfsinn, verbreitet Unwahrheiten, ist rassistisch, chauvinistisch,
frauenfeindlich. Dieser voreilig als Witzfigur belächelte Trump könnte im November tatsächlich
zum Präsidenten der USA gewählt werden.
Vielleicht um diesen Tendenzen hierzulande entgegenzuwirken, wünscht sich Altlandeshauptmann Luis Durnwalder Politiker, die wieder „die harte Kante zeigen“. Gut gebrüllt, alter
Löwe. Freilich muss Durnwalder daran erinnert
werden, dass er, der sich immer als Mann des
Volkes gefiel, zu jener Politikergeneration gehört,
die die Schreier und Pöbler von heute mit reichlich Munition versorgt haben.
Wie soll es gelingen, diese Munition zu entschärfen, bevor es wirklich gefährlich wird? Das
Rezept mag alt sein, aber ich kenne kein besseres: ehrliche Politik, mutige Entscheidungen und
Schluss mit Schönfärberei. Oder wie man damals
n
sagte: Üb immer Treu und Redlichkeit. No. 37 / 2016