Die teilende Gesellschaft (10/10) - Das Miteinander teilen

Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
Ansage:
Das Miteinander teilen
Von Silvia Plahl
Atmo 1 Anwohnerversammlung Steglitz-Zehlendorf, proppevoller Saal
Cut 1: Vater
(Cut hat Raum-Atmo im HG)
Es blüht unter Umständen der Schule meines Sohnes dasselbe
Schicksal ... (Atmo)
Sprecher 1:
250 Menschen drängen in den Gemeindesaal der Evangelischen
Lukas-Kirche in Steglitz-Zehlendorf. Sie wollen reden. Darüber, dass
der Berliner Senat zwei Schulsporthallen in ihrer Nachbarschaft als
Notunterkünfte für geflüchtete Menschen beschlagnahmt hat.
Cut 2: Vater
(Atmo) ... Da hatten wir jetzt Elternvertreterversammlung. Da gibt's
natürlich die Leute, die protestieren wollen. Es gibt die Leute, die
sagen, das müssen wir hinnehmen und helfen. Ja, und ich will mal
kucken, ob ich hier ne Info rausbekomme ...
Atmo 2 a Raum/Moderator
Es kommen noch immer weitere, die Platz finden wollen, das ist toll
…
Sprecher 1:
Das Willkommensbündnis im Bezirk hat eingeladen – und ein paar
Fragen in den Raum gestellt:
Sprecherin:
Warum wurden die Sporthallen mit Geflüchteten belegt?
Sprecher 2:
Wer lebt dort?
Sprecherin:
Wie sieht der Alltag der Menschen aus?
Sprecher 2:
Womit können wir sie unterstützen?
Sprecherin:
Wie lange sollen die Sporthallen genutzt werden?
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
1
Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
Atmo 2 b Raum/ Moderator im Off:
Als Anwohner, als Nachbarn, als Mitglied der Sportvereine, als
Eltern, als Lehrer, wer immer von diesen Notunterkünften in
irgendeiner Weise betroffen ist ... ehrenamtliche Helfer ... Die sieben
Namen, die Sie auf der Einladung stehen haben, sind auch alle
gekommen
Sprecher 1:
Rede und Antwort stehen sollen der Staatssekretär für
Flüchtlingsfragen, der Bezirksbürgermeister, die betreuenden
Sozialträger – und ein Schulleiter sowie der Präsident des
Fechtclubs, denen jetzt ein Sport- und Trainingsort fehlt. Der
Moderator nennt die Spielregeln:
Cut 3: Moderator Und jeder, der die Antwort hören will, ist mit seiner Frage herzlich
willkommen. Jeder, der hier Sprüche machen will, der Stimmung
machen will, der einfach mal Dampf ablassen will, missbraucht unser
aller Zeit (Applaus
Sprecher 1:
Man ist sich einig über den Verlauf der nächsten zwei Stunden:
Ängste und Emotionen auf konkrete Anliegen richten. Die Argumente
„der anderen“ anhören. Den Blickwinkel weiten. Kompromisse
verhandeln und gemeinsam neue Schritte überlegen. Demokratie
leben.
Sprecherin:
Frauen und Männer treten ans Mikrofon:
Atmo 3a:
Wie sieht's aus mit den Konkurrierenden, zwischen Armut und
Armut? Weil die Wohnheime auch für unsere Leute überfüllt sind.
Wie kann es sein, dass unsere am Ku'damm erfrieren und nicht mit
einbezogen werden?“
Atmo 3b:
Was ist mit Leerständen in unserem Bezirk?
Atmo 3c:
Wie viel Euro werden jetzt für einen Flüchtling im Monat
aufgewendet? Im Durchnitt
Atmo 3d:
Und welche anderen Ausgaben des Bezirks werden dafür gekürzt?
Sprecherin:
Was ist mit anderen Leerständen in unserem Bezirk?
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
2
Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
Sprecher 2:
Wie können unsere Kinder Sport treiben?
Sprecherin:
Die Schulen brauchen dringend Geld! Warum wird es Flüchtlingen
gegeben?
Sprecher 2:
Wer hilft den anderen obdachlosen Jugendlichen und Erwachsenen?
Sprecher 1:
Eine Anwohnerin sagt, es sei einfach nachts zu laut vor der
Sporthalle.
Cut 4: Frau
Frühestens ist um zwölf Uhr der Lärm mal vorbei, oftmals nachts bis
eins, zwei kommen die Leute immer wieder raus. Manchmal sind's
zehn, zwanzig Leute, manchmal nur fünf Leute. Aber der Lärmpegel
ist einfach so groß. Wir waren schon drüben, haben auch schon mal
mit Leuten gesprochen, und wir wissen nicht, was wir machen
können. Gibt's da nicht irgendeine zeitliche Regelung – oder dass die
Leute nach hinten ausweichen, wo der Sportplatz ist ...
Atmo 4: Tumult / Betreuer
„Um hinten auf den Platz zu kommen, muss man über den Parkplatz
nach hinten laufen“, Tumult „Furchtbar!“... Moderator: „Was mir
auffällt, es gibt noch keinen Gesprächsfaden, der über solche
alltäglichen Dinge miteinander redet ...“
Sprecher 1:
Der Betreuer der Notunterkunft weicht aus ... die Menschen seien
erwachsen, die Situation belastend genug ... sie bräuchten kleine
Freiräume – dann lenkt der Mann ein.
Cut 5: Betreuer Möchte ich vorschlagen, dass wir ein Gespräch moderieren,
gemeinsam mit den Flüchtlingen und betroffenen und interessierten
Anwohnern, wie man dieses Problem lösen kann. Dass die bei uns
untergebrachten Menschen die Bedürfnisse der Menschen, die
gegenüber wohnen, akzeptieren. Applaus
Atmo 5: Raum Stimmengewirr weiter unterlegen
Sprecher 1:
Zwei Stunden für den gemeinsam zu lebenden Alltag. Im Berliner
Bezirk mit dem größten Willkommensbündnis für geflüchtete
Menschen. Schon oft haben Sympathisantinnen und Sympathisanten
der Partei AfD – auch sie sind sehr zahlreich im Bezirk – diese
Willkommensarbeit lautstark kritisiert. Eine Frau steht genau aus
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
3
Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
diesem Grund auf – sie ist unzufrieden mit dem Vermerk an der
Eingangstür.
Sprecherin:
„Die Veranstaltenden behalten sich vor, von ihrem Hausrecht
Gebrauch zu machen und Personen, die rechtsextremen Parteien
oder Organisationen angehören, der rechtsextremen Szene
zuzuordnen sind oder bereits in der Vergangenheit durch
rassistische, nationalistische, antisemitische oder sonstige
menschenverachtende Äußerungen in Erscheinung getreten sind,
den Zutritt zur Veranstaltung zu verwehren oder von dieser
auszuschließen.“
Cut 6: Frau
Genau das hätte ich mir gewünscht, dass wir eine Diskussion haben.
Wir haben doch Überzeugung genug! Wir müssen denen doch auch
ne Sprachmöglichkeit geben, um dagegen auch was zu sagen! Ich
arbeite da mit. Ich musste mich sogar im Freundes-, Bekanntenkreis
musst ich mich auch als Gutmensch bezeichnen lassen!
Sprecher 1:
Zwei Stunden, die im einen Moment aufwühlen, an anderer Stelle
wieder beruhigen, die eine Sitzreihe optimistisch stimmen, die
andere frustriert zurücklassen. Die ganze Bandbreite und ein
Wechselbad der unterschiedlichen Gefühle. Hier trifft ein
Konglomerat an Menschen, an Befindlichkeiten, Positionen und
Emotionen aufeinander. Getrieben von dem Wunsch nach mehr
Gemeinschaft.
Sprecherin:
Oder nach besserer Abgrenzung. Vielleicht nach einer klareren
Rollenverteilung. Also vielleicht auch auf der Suche nach einem
neuen, einem anderen Miteinander.
Sprecher 1:
Die 250 Frauen und Männer hier im Raum haben Glück mit ihrem
Moderator. Er achtet geschickt und souverän darauf, in diesem
Dickicht der Beziehungen eine Atmosphäre von Gleichberechtigung
zu erzeugen und auch durchzuhalten.
Cut 7:
Armin Nassehi
Wenn ich jetzt mal einen ganz komplizierten Satz sagen darf.
Sprecherin:
Armin Nassehi, Soziologieprofessor in München, stellt fest: Die
moderne Gesellschaft ist äußerst heterogen. Selbst auf kleinem
Raum – in einem Viertel, in einem Mietshaus, einer Schulklasse oder
in einem Betrieb begegnen sich Menschen, die nur wenig
miteinander verbindet.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
4
Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
Cut 8: Nassehi Unter Gesellschaft würde ich eigentlich nur verstehen: die
Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem. Es findet unglaublich viel
statt. Und wir sind als Menschen ganz unterschiedlich in diese
Gesellschaft angedockt, inkludiert würden wir soziologisch sagen.
Wer wann wo wie mit wem redet, wo arbeitet und so weiter – das ist
alles relativ lose.
Sprecherin:
Nassehi spricht von unserer Gesellschaft auch als einer „mit
beschränkter Haftung“. Er hält es für einen zentralen Aspekt, dass
unsere gesellschaftlichen Verbindungen untereinander „lose“ sind.
Sprecher 1:
Oder eben vielfältig. Pluralistisch.
Sprecherin:
Die Gesellschaft ist für den Soziologen keine große Gemeinschaft.
Wir begegnen uns, sagt er, in „losen Kopplungen“.
Cut 9: Nassehi Ich würde den Netzwerkbegriff vielleicht einführen, um so etwas wie
lose Kopplungen zu beschreiben. Also das sind nicht organisierte
Formen. Das sind keine Familien. Das sind keine Cliquen, die den
ganzen Tag zusammen sind. Und das ist ja fast ne Parabel auch auf
diese Gesellschaft! Also der punktuelle Kontakt zu Leuten, mit denen
wir eigentlich nicht eng zusammenleben. (…) Diese Gruppen werden
größer ...
Cut 10:
Irmhild Saake
Die Netzwerkmetapher, die sagt ja, dass beliebige andere Kontakte
möglich werden. Und dass sie auch attraktiv sind für die Leute. Sie
wollen sie auch. (oben)
Sprecherin:
Die Münchner Soziologin Irmhild Saake, die immer wieder für mehr
Mut zur Ungleichheit plädiert. Gerade sitzt Irmhild Saake lose mit
Armin Nassehi am Tisch – und analysiert die veränderten sozialen
Verknüpfungen. Auch in ihrem privaten Umfeld. Ihre Eltern, erzählt
Saake, hatten ein ganz anderes Verhältnis zu ihren Nachbarn als sie
selbst in ihrem heutigen Alltag.
Cut 11: Saake Bei meiner Mutter war das so gewesen, dass die alle gemeinsam
gebaut haben. Aber die haben erst angefangen, sich zu duzen, als
die ersten Ehemänner tot waren. Und vorher relativ wenig Kontakt
miteinander gehabt. Und wenn ich mir das jetzt ankucke: Also ich
wohne in einem Haus mit vielen Familien mit Kindern. Da ist das
völlig normal, dass man über die Stockwerke hinweg sich besucht.
Die Kinder mal bei dem einen essen, oder mal bei dem anderen. Und
man so ein bisschen gemeinsam auch viele Sachen regelt. Und das
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
5
Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
musste ja tatsächlich erstmal möglich sein, dass das geht und dass
das auch gewollt wird von den Leuten. Dass die Herkunft als zufällig
wahrgenommen wird.
Atmo 6: Wochenmarkt Schillerkiez kurz frei, unterlegen
Sprecherin:
Der Wunsch ist vorhanden: Auf dem Land in der engeren
Dorfgemeinschaft wird sowieso versucht, die Gemeinsamkeit zu
pflegen, bei Festen und in der Feuerwehr, in der Theatergruppe und
im Sportverein. In den Städten ist es immer noch möglich, in der
Anonymität zu leben. Doch daneben möchten sich viele
Stadtbewohnerinnen und -bewohner auch hier inmitten der großen
Vielfalt der sozialen Unterschiede wieder näherkommen, und
wegkommen von dem überholten Bild der Ellenbogengesellschaft
oder auch der Fremdheit. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Viele
versuchen also der unattraktiven und inakzeptablen Vereinzelung
neue, reizvolle Gemeinsamkeiten entgegenzusetzen: Über den
Tellerrand kochen. Musizieren im Treppenhaus. Tauschringe
organisieren. Den Arbeitsplatz und den Auftrag miteinander teilen.
Zukunftsforscher sehen diese neue Wir-Kultur (bereits) als
Megatrend und noch viel mehr gemeinsame gemeinschaftliche
Innovation und Emanzipation am Horizont.
Atmo 6 kurz frei, unterlegen
Sprecher 1:
Seit zwei Jahren gibt es ihn endlich wieder, den SamstagsWochenmarkt rund um den Platz der backsteinroten Kirche in BerlinNeukölln. Man plauscht hier und dort in verschiedenen Sprachen,
bespricht vor dem Weinladen den nächsten Theaterbesuch, hilft den
Bedürftigen.
Sprecherin:
Für den Kiezbewohner im Nachbarschaftstreff bedeutet dies alles
zunächst einmal die Rückbesinnung auf das Wesentliche im
Zusammenleben.
Cut 12:
Michael (hat Raum-Atmo im HG)
Wir haben sogar ne Kneipe, die hier Brot backt. Für eins zwanzig. Da
gehen die einfach die Kneipe runter und da ist eener da, der ist
gelernter Konditor und hat seinen Ofen da drinne stehen, und da
gibt’s im Kiez Brot. Fertig. Für die Leute, die nicht so viel Geld haben
ganz einfach.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
6
Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
Sprecher 1:
Besinnung auf die Gemeinschaft bedeutet für den Kiezbewohner
aber auch, dass es ihm nicht gefällt, wenn die jungen Familien aus
Prenzlauer Berg jetzt nach Neukölln ziehen, weil die Mieten hier
noch bezahlbar sind. Diese Mütter, sagt der Mann, lassen dann ihren
Nachwuchs gern mal mitten im Café mit dem Fußball kicken. Da hört
bei ihm die Toleranz definitiv auf – dann besteht er laut und deutlich
auf seiner Ruhe als Café-Gast, und gibt nicht nach, bis Mutter und
Sohn entnervt und wütend nach draußen gehen.
Cut 13: Michael
Das sind halt so kleine Formen von Konfrontationen oder
Klarstellungen ganz einfach. Und für die Kinder wär's auch besser
gewesen, wenn die auf dem Vorplatz da ein bisschen rumtollen
können als im Lokal.
Sprecherin:
Die junge Frau hat's akzeptiert – den älteren Mann hat es entspannt.
Für einen nächsten Anlauf.
Cut 14: Michael
Man muss sich anfreunden. Und man darf auch nicht stehen
bleiben, det seh ich ja och. Und ick seh ja och, dass das also ein
permanenter Prozess ist. Und je mehr Initiativen oder kleine Sachen
das sind, desto mehr werden auch die Leute, ja, finden sie
zueinander. Den einen kann man mal weniger leiden. Aber so ist es
halt. Man ist nichts Besonderes, sondern wir hängen alle
voneinander auch ab, und das ist auch ne Erkenntnis.
Cut 15:
Birgitt Röttger-Rössler
Und da könnte es ja vielleicht helfen, wenn nicht über allem so'n
Zwang zum Teilen ist. Sondern vielleicht auch einfach ein gewisses
Nebeneinander und ein gewisser Rückzug. Der es zulässt, dass ich
auch in ner Andersartigkeit einfach lebe und nicht alles teile. Auch
nicht alles mitteilen muss. Auch nicht alles geteilt werden muss im
Sinne von Verständnis. Sondern einfach so nebeneinander existieren
kann vielleicht.
Sprecher 1:
Die Berliner Sozial- und Kulturanthropologin Professorin Birgitt
Röttger-Rössler. Teilen ist eine kulturanthropologische Konstante,
sagt sie. Die Menschen als sozial lebende Spezies können nicht
ohne Miteinander und Teilen. Also wird gemeinsam gegessen, und
diskutiert.
Atmo 7: Mittagstisch kurz frei, unterlegen
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
7
Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
Sprecherin:
Eine Gesellschaft ohne Konflikte oder Reibungen anzustreben ist
illusorisch und unrealistisch. Eine Utopie. Viel sinnvoller ist, sich
darauf zu konzentrieren, Konflikte auf verschiedene Weise zu
bewältigen – sie zulassen, Regeln für den Umgang finden, Grenzen
klar benennen.
Sprecher 1:
Jede Gemeinschaft entwickelt dabei ihren eigenen Konsens in der
Konfliktbewältigung. Birgitt Röttger-Rössler erzählt von einer
Problemstrategie aus indonesischen Dörfern:
Cut 16:
Röttger-Rössler
Man versucht es erst mal zu lösen, und wenn das nicht funktioniert,
weil da wirklich Unvereinbarkeiten bestehen bleiben. Oder
Verletzungen vorliegen, die man eben nicht begraben kann. Dann
meiden sich diese Konfliktparteien. Das kann so weit führen, dass
eine von beiden Parteien ganz woanders hinzieht. Oder sie
versuchen größtmögliche Meidung im Alltag herzustellen. Und lassen
damit aber diesen Konflikt letztlich ungelöst – das Ziel ist auch nicht,
den Konflikt zu lösen. Aber sich nicht mehr in die Quere zu kommen.
Und nicht gegenseitig zu schaden. Das ist eigentlich, wenn man da
länger drüber nachdenkt, ein ganz konstruktives Vorgehen. Also
auch zuzulassen, dass Konflikte unlösbar sind. Dass das aber nicht
dazu führen muss, dass jetzt ne Gemeinschaft völlig daran zerbricht.
Sondern die größere Gemeinschaft integriert dann diese zwei
Konfliktparteien in sich, die einfach nicht mehr miteinander umgehen
funktioniert.
Sprecherin:
Die Integration beiderseitiger Interessen. Ein Ausgleich, der möglich
wird, weil es stärkere, übergeordnete Interessen gibt. Das können
die Interessen der Dorfgemeinschaft sein. Die der Nachbarschaft.
Vielleicht aber auch die persönlichen Interessen – wie in der
Reihenhaussiedlung einer deutschen Großstadt.
Atmo 8: Gartengezwitscher/Gehweg fegen kurz frei, unterlegen
Cut 17: Alfred Unsere Nachbarin beispielsweise steht sehr, sehr früh auf. Das hört
man auch. Andererseits hat diese Eigenschaft auch durchaus
positive Aspekte. Weil wenn wir beispielsweise im Winter frühen
Schneefall haben oder es des Nachts geschneit hat, dann ist sie
schon früh um Sechs dabei, unseren Gehweg mit zu fegen. Und das
finde ich natürlich sehr positiv!
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
8
Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
Die Lärmentwicklung, die damit verbunden ist, zuvor die Treppe
herunter zu steigen, finde ich weniger positiv ... Während ich
beispielsweise recht spät ins Bett gehe und abends nach 22 Uhr
dann noch mal den letzten Schnee beseitige. Also es machte schon
Mühe, den Interessenausgleich auch immer wieder sich
vorzunehmen, und herzustellen. Und das war nicht immer ganz
einfach. Aber es geht um meinen inneren Frieden, um den inneren
Frieden meiner Familie, es geht aber auch um das Vermeiden von
ständigen Konflikten, die man auch ein Stückchen herbeireden kann.
Sprecherin:
Sein Wunsch nach Frieden macht diesem Mann, der ungenannt
bleiben möchte, das „Teilen“ innerhalb des Konflikts mit der
Nachbarin erst möglich. Ein hartes Stück Arbeit, sagt er.
Cut 18: Alfred Ich hab auch meine Frau immer wieder gemahnt, diesen
Interessenausgleich wirklich anzustreben. Es hat auch ganz
praktische Aspekte.Ich finde, nichts ist schlimmer, als wenn man in
der Nachbarschaft miteinander in ständiger Konfrontation lebt. Das
nervt ungemein und nutzt niemandem.
Atmo 9: Gartengezwitscher unterlegen
Sprecherin:
Ein persönlicher Balanceakt. Der Mann möchte einerseits
ausreichend kommunizieren und Unannehmlichkeiten direkt
ansprechen, andererseits möchte er auch nicht dadurch Konflikte
erst provozieren. Mal zwingt er sich zum Rückzug, ein andermal bat
er schon offensiv die Nachbarn, ihre Sträucher und Bäume zu
schneiden, weil er zu wenig Sonne abbekam. Reden half hier nichts
– ein Brief erst bewog die Nachbarin dazu, die eingeforderte
Gartenarbeit in Auftrag zu geben.
Sprecher 1:
Der soziale Raum muss nun einmal geteilt werden. Dabei prallen
zwangsläufig unterschiedliche Interessen sowie unterschiedliche
moralische und ästhetische Wertesysteme aufeinander. Ob in
solchen Konflikten Reden oder Schweigen besser ist, dafür gibt es
keine allgemein gültige Regel. Im Zeitalter der elektronischen
Kommunikationstechniken scheinen diese Grenzen sowieso
klammheimlich zu verschwinden – zu dem was man „mal sagen
sollte“ und dem, was noch gesagt werden darf.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
9
Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
Sprecherin:
Im Netz sind neue Räume entstanden, die unabhängig sind von der
Geographie. Die sozialen Medien bringen Menschen in Kontakt, die
sonst nichts voneinander mitbekämen. Die Kollegin, die
ausländerfeindliche Sprüche postet. Der Vereinskumpel mit seinen
sexistischen Witzen. Hier prallen die Wertesysteme oft noch krasser
aufeinander. Zugleich fungiert das Internet als Spielwiese einer alles
umfassenden Wir-Kultur.
Sprecher 1:
Das große Teilen? – Man verbindet sich weltweit, unterstützt und
finanziert Projekte von privat zu privat im Crowd-Funding. Man
attackiert sich aber auch scheinbar grenzenlos, mit Hasstiraden,
sogenannter Hate Speech oder in einem Shit-Storm. – Wem gehört
das Netz?
Cut 19a: Atila Altun
Tippen Jetzt muss ich ganz kurz kucken ... genau
Sprecher 1:
Morgens um Acht schaltet Atila Altun seinen Büro-PC ein. Er ist beim
Berliner Tagesspiegel Community-Manager der Onlineausgabe.
Cut 19b: Altun … So, das ist unser Community-Backend ... tippt ...
Sprecher 1:
150 bis 200 Kommentare sind im Laufe der Nacht eingegangen...
Und jede Minute treffen jetzt neue Beiträge ein ...
Cut 20: Altun
Das Mitteilungsbedürfnis ist groß. Also die Löschquote bei uns
beträgt etwa sieben bis zehn Prozent.
Sprecher 1:
Eine Person namens „hadi“ hat über die Jahre Tausende von Texten
geschrieben, Hunderte davon wurden abgelehnt. So ist es im
Profilkasten zu „hadi“ auf Atila Altuns Bildschirm protokolliert.
Atmo 11: Großraum Redaktion kurz frei, unterlegen
Cut 21: Altun
Unser Ziel ist es, dass ein Kommentar innerhalb von 15 Minuten
bearbeitet wird ... Die Kommentare lesen und dann zu entscheiden:
Wir schalten den frei oder wir löschen den.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
10
Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
Sprecher 1:
Die Zeitungs-“Community“ ist die Online-Variante des
Leserbriefschreibens. Eine moderne Medien-Beteiligung – die einen
unmittelbaren und schnellen Austausch ermöglicht – und die ganz
schnell offenbart hat, dass sie unbedingt moderiert werden muss.
Cut 22: Altun
Dass auch sehr viele durchaus gut organisierte Rechtsextreme oder
auch Linksextreme oder halt auch Leute, die den gepflegten
Umgangston nicht mögen, plötzlich da waren. Und die haben halt
jede Debatte gestört und ja in eine Situation gebracht, dass man
eigentlich da nichts mehr kontrollieren konnte. Fremdenfeindliche,
rassistische, homophobe, xenophobe Kommentare, die auch nur der
Herabwürdigung anderer dienen, antisemitische Kommentare,
Beleidigungen. Das alles wollen wir nicht in der Community haben.
Sprecher 1:
Das Mitteilen von Meinungen und Debattieren im Internet hat
allgemein den Ruf, dass es ganz schnell aus dem Ruder läuft.
Gemeinschafts-Manager Altun nennt es Kräftemessen.
Cut 23: Altun
Ich hab nen viel größeren Bekanntenkreis plötzlich, mit denen ich in
Kontakt trete. Wer hat die besseren Argumente? Das ist schon so ne
kleine Arena, wo man sich miteinander streitet, sich misst, ein
Wissens-Kräftemessen sozusagen.
Sprecher 1:
Vieles verläuft sachlich und produktiv. Das Moderationsteam an den
PCs stellt auch schon mal einen Nutzerbeitrag auf die Online-Seite
der Redaktion und präsentiert ihn auf diese Weise prominent. – Im
anderen Extremfall aber, wenn sogenannte Trolle sich in Ton und
Inhalt vergreifen, machen die Community-Manager von ihrem
Hausrecht Gebrauch. Das Wort „Zensur“ lässt Atila Altun dann an
sich abprallen. Beleidigen, sagt er, gehöre nicht zur Meinungsfreiheit.
Sprecherin:
Wer legt sie fest, die Richtlinien für diese scheinbar grenzenlose
Meinungsvielfalt?
Sprecher 1:
Rassistische Sprüche oder ein Aufruf zum Mord sind keine
Kavaliersdelikte, sie müssen strafrechtlich verfolgt werden. Hier
gelten die Gesetze. Und viele Bürgerinnen und Bürger fordern hier
mehr Konsequenz. Aber auch ein betont aggressiver
Meinungsaustausch geht manchen oft zu weit. Sie erleben dann die
destruktive, zerstörende Wirkung auf das Miteinander.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
11
Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
Ein Willkommensbündnis, eine Kirchengemeinde oder eine OnlineRedaktion können hier entschieden agieren, sie können ihre
Kommunikationsregeln anpassen, die Grenzen ihrer Toleranz immer
wieder neu definieren und sich am Ende auf ihr Hausrecht berufen.
Was macht hingegen die Privatperson? Hassmails nicht lesen und
sofort löschen? Dies dient dem Selbstschutz, aber oftmals nicht dem
Seelenfrieden. In der milliardengroßen Weltgemeinschaft auf
Facebook rief die Geschäftsführerin Sheryl Sandberg zur
Zivilcourage im Netz auf und dazu, Extremismus zu bekämpfen und
sich gegen Hass-Postings zu wehren. Counterspeech – Gegenhalten
ist ihre Devise – nicht ganz uneigennützig: Streit in sozialen
Netzwerken belebt deren Geschäft.
Sprecherin:
Facebook und zwei Londoner Wissenschaftsinstitute, die auf
Extremismus und seine Bekämpfung spezialisiert sind, sowie die
Amadeu-Antonio-Stiftung mit dem Partner netz-gegen-nazis.de
haben die OCCI – die Initiative für Zivilcourage Online mit Sitz in
Berlin – Anfang 2016 gestartet. Sie wollen europäische Gruppen, die
sich gegen die Online-Radikalisierung engagieren, finanziell
unterstützen und mit Expertinnen und Experten Best-PracticeBeispiele erarbeiten, um der Hetze im Netz die Stirn zu bieten.
Sprecherin:
Also weiter mitreden. Etwas erwidern. Gut finden. Hinterfragen.
Kritisieren. Online wie offline. Zivilcourage zeigen, aufklären und
informieren, Kampagnen starten, demonstrieren gehen. Sich
austauschen und auseinandersetzen.
Cut 24:
Birgitt Röttger-Rössler
Das kann ja ne Flut sein oder werden. Das kann auch für ein
Übermaß an unmittelbaren direkten Interaktionen gelten. Wenn ich
ständig und immerzu für alle offen bin und ständig mich mitteile, aber
auch Mitteilungen entgegennehme in so ner Superkommunikation.
(oben) – Es muss auch immer irgendwo Rückzugsmodi geben. Das
ununterbrochene Teilen funktioniert nicht.
Atmo 14: Mittagstisch Schillertreff kurz frei, unterlegen
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
12
Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
Sprecherin:
Die Anthropologin Birgitt Röttger-Rössler setzt ein Wortspiel ein:
Miteinander teilen bedeutet immer: das Miteinander teilen. Es ist
somit immer auch ein Verteilen von Gemeinsamkeiten.
Atmo 14: Mittagstisch Schillertreff kurz frei,
Sprecher 1:
Ein offener, gemeinschaftlicher Mittagstisch im Nachbarschaftstreff.
Zweimal die Woche. Ein zufälliges Zusammenkommen und wieder
Auseinandergehen von Erwachsenen. Gefüllte Teller und
kontroverse Meinungen zu aktuellen Themen kommen auf den Tisch
– Flüchtlingsfamilien vor Stacheldrahtzäunen, Waffenlieferungen,
was wird aus Europa – danach trennen sich die Wege.
Cut 25: Dagmar
Man muss sich nicht herzen und küssen. Akzeptieren. Das
braucht's schon als Voraussetzung. Natürlich werden Sachen
gesagt, mit denen ich nicht konform gehe. Aber zum Streit lass ich's
dann nicht kommen. Weil so eng ist dann das auch nicht.
Beziehungsweise ich weiß dann ja auch in dem Moment: Es macht
auch keinen Sinn, das auszufechten.
Cut 26: Mario
Ich kann ja auch noch dabei bleiben. Aber ich werd dann ruhig, werd
dann still, und zieh mich dann letztendlich zurück. Also dass ich mich
dann rausnehme und sage: Jetzt schaffe ich den Abstand, die
Distanz. Dann wird sowieso im Nachgang irgendwann mal drüber
gesprochen, und das ist auch gut so. Meine Sichtweise muss einfach
anders sein als jetzt ihre von ihrer Seite aus, das ist ganz normal.
Gut, man kann mitunter auch einen Themenwechsel herbeiführen,
dass man da einen Cut macht, und kann man ja schon einiges
beeinflussen. Cut 27: Irmhild Saake
Wenn man sich mal anschaut, mit welchen Medien unsere
Gesellschaft hantiert, dann ist ganz interessant zu sehen, dass wir
sehr viel Kontakt haben mittlerweile über diese Ebene der Freunde.
Die wird ja abgebildet in Facebook über Fotos. Es ist natürlich eine
sehr unkomplizierte Art, Freundschaften zu pflegen. Man muss nicht
direkt miteinander reden. Es ist viel, viel schwieriger, wenn man sich
gegenübersitzt. Im Internet kann man das machen über Fotos oder
über zwei, drei Sätze.
Eine viel lockere, weniger voraussetzungsreiche Form. Dass diese
Kategorie Freunde zu haben eine große Rolle spielt. Und es liegt
nicht daran, dass wir das wollen, sondern dass wir Medien haben,
die uns das von alleine vermitteln.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
13
Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
Cut 28: Armin Nassehi
Das ist ja ne Parabel dafür, dass offenbar diese Freundessemantik
eine lose Kopplung ist. Aber lose Kopplung heißt nicht
bedeutungslos. Sondern lose Kopplung hießt, dass die Kosten
reinzugehen und rauszugehen, womöglich nicht so groß sind.
Sprecherin:
Freundschaften zu haben und freundschaftliche Beziehungen zu
pflegen, auch im Internet, ist vielen mittlerweile nahezu ebenso
wichtig wie die Familie. Armin Nassehi und Irmhild Saake bringen
hier wieder die dauernde Vernetzung ins Spiel. Wer sich hier und
dort miteinander verknüpft, erzeugt laufend neue Verhältnisse
untereinander. Saake und Nassehi sehen in der „losen Kopplung“ ein
großes Potenzial:
Cut 29: Irmhild Saake
Dass man sich tatsächlich vorstellen kann: Der andere kommt aus
einem ganz anderen Land, hat eine andere Religion und macht
irgendwelche anderen Sachen. Aber das liegt einfach nur daran,
dass der irgendwo anders geboren ist. Und mehr ist es dann nicht.
Sprecher 1:
So, glauben die Soziologin und der Soziologe, kann auch die
heterogene Hausgemeinschaft mit all ihren arabisch, türkisch,
spanisch, russisch und deutsch klingenden Familiennamen
wunderbar funktionieren. Vielleicht sogar der Idealfall von Integration.
Cut 30: Nassehi
Dass in dem Haus Leute unterschiedlicher Herkünfte sind, kann
man zur Kenntnis nehmen. Aber die Informationen sind die
gemeinsamen Praktiken, gemeinsame Interessen. Na, das können
so einfache Dinge wie eben gemeinsames Kochen sein oder Kinder
zu haben, die beide den gleichen Mist machen. Das können
Eheprobleme sein, das kann aber auch einfach sein, dass man
irgendwie im Garten zusammen grillt oder einfach nur über
irgendetwas redet. Vielleich ist es eine der größten zivilisatorischen
Errungenschaften, die es in modernen Gesellschaften gibt, über
irgendetwas reden zu können. Frühere Gesellschaften kannten das
nicht.
Sprecherin:
Ein Small-Talk und der freundliche Plausch als Basis für das
gelingende Miteinander in der Vielfalt. Mit einer solchen lockeren
Haltung zueinander ist es automatisch einfacher, mit der
Verschiedenheit umzugehen, argumentieren Irmhild Saake und
Armin Nassehi.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
14
Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
Sprecher 1:
Man muss sich nicht gegenseitig erziehen. Man kann sich auf
Augenhöhe und mit Taktgefühl begegnen. Dann unterhält man sich
auch weiterhin mit der früh aufstehenden Nachbarin, der jungen
raumgreifenden Mutter – und sogar mit dem Vater, der seine Töchter
nicht aus dem Haus lässt. Und verweist im letzten Fall auch auf den
Common Sense des Grundgesetzes. Die Rechte der Töchter sind
nicht verhandelbar, sagt Birgitt Röttger-Rössler. Diesen Konflikt
müsse aber nicht unbedingt die Privatperson ausfechten, man
verweist dann doch besser an beteiligte Institutionen wie zum
Beispiel die Schule.
Cut 31:
Rössler-Röttger
Da gibt es dann Grenzen des Emotionalen, aber auch des
Rechtlichen. Wo's aufhört. Wo man nicht mehr relativieren kann.
Teilen im Sinne von Wertvorstellungen, von Lebensentwürfen und
vor allen Dingen auch von Recht, Gerechtigkeit, Unrecht, Recht über
andere, Macht. Wer dann in diesem Staat mit lebt, müsste diese
Sachen mit teilen im Sinne von tragen auch.
Atmo 15: Migrantenhaus
Sprecherin:
Die engagierte Frau hätte sich bei der Anwohnerversammlung mehr
Diskussion und direkte Konfrontation mit den Andersdenkenden
gewünscht.
Sprecher 1:
Der Community-Manager versucht zu moderieren und löscht
beleidigende und diffamierende Kommentare.
Sprecherin:
Er sagt aber auch: Im Privaten sei es oft wichtiger, in die Debatte
einzusteigen. Fragen zu stellen und durch Information Angst und
Unsicherheiten zu nehmen.
Sprecher 1:
Eine Erfahrung, die auch ein vierfacher Familienvater aus dem
Unterallgäu gemacht hat. Als er sein leer stehendes Elternhaus als
Unterkunft für dreizehn junge Asylsuchende vermieten wollte, stellte
sich der Mann vor die aufgeregte Dorfgemeinschaft:
Cut 32: Markus Das war im Pfarrheim, der größte Saal im Ort. Der Bürgermeister hat
eingeladen und ich stand da mit vorne. Die Caritas hat vorab
informiert über die ganze Flüchtlingsproblematik, und dann kam ich
als Vermieter zu Wort (lacht). Der Saal war brechend voll. Bis auf
den letzten Platz ... Wir haben auch sehr viel Ärger von vornherein
ausschließen können, indem wir ganz offen informiert haben. Es
waren große Sorgen der Mütter da. Wenn nur Burschen kommen,
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
15
Tiefenblick, 11.09.2016
Die teilende Gesellschaft (10/10)
Das Miteinander teilen
was passiert dann da. (Pause) Ne Vorverurteilung gibt’s für mich
nicht.
Wir müssen schauen, wer kommt und dann muss man mit den
Leuten sprechen und muss dann das organisieren. Ich hab immer
gesagt: Wenn's ein Problem gibt, anrufen, direkt auf mich
zukommen, dann können wir das Thema lösen. Ich komm auch zu
jedem ins Haus. Mich hat noch nie einer angesprochen, dass es 'n
Problem gibt.
Sprecherin:
Teilen auf Augenhöhe. Ein neues Miteinander miteinander
ausprobieren. Die jungen Männer aus Syrien – einer von ihnen ist
Christ – sind zur Fronleichnamsprozession im Dorf gegangen.
Sprecher 1:
Die Frauen, die zuvor große Ängste hatten, gründeten einen
Helferinnenkreis – und eröffneten eine Kleiderkammer.
Cut 33: Silvia
Zum Beispiel diese Kleiderkammer. Da kann jeder rein. Man hat das
wohlweislich für alle zugänglich gemacht. Weil es gibt ja vielleicht au
im Ort Leut, die net so viel Geld haben. Und die können sich dort
genauso gebrauchte Klamotten aussuchen. Und da wird alles
abgegeben, vom Fahrrad übern Kinderwagen bis MaxiCosi und
Klamotten von oben bis unten. Und des nehmen die Leut – die einen
und die anderen – wirklich gut an.
Schluss-Atmo/Akzent
Sprecherin:
So schafft die teilende Gesellschaft sich selbst neue Möglichkeiten,
das Miteinander zu teilen.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder
vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
16