LEI T AR T IK EL Hanno Heil Es macht Sinn! Wie der Glaube an den einen Gott die Hilfe für Flüchtlinge motiviert M acht es Sinn, einem Flüchtling zu helfen, der vielleicht in wenigen Wochen wieder abgeschoben wird? Macht es Sinn, Flüchtlinge in ein Praktikum oder eine Ausbildung zu übernehmen, die vielleicht in wenigen Jahren unser Land wieder verlassen müssen oder wollen? Macht es Sinn, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um monatelang in einer armseligen europäischen Flüchtlingsunterkunft die Zeit totzuschlagen? Macht es Sinn, eine aufwändige medizinische Behandlung für einen Flüchtling zu finanzieren, dessen Aufenthaltsstatus nicht geklärt ist? Macht es Sinn, seine Familie und seine Freunde zu verlassen, um unter Fremden zu leben, die einem zum Teil mit deutlicher Ablehnung begegnen? Macht es Sinn, sich mit einem Nachbarn anderer Hautfarbe vertraut zu machen? Macht es Sinn, Waffen in Länder zu liefern, um Fluchtursachen zu bekämpfen? Macht es Sinn, in den Herkunftsländern der Flüchtlinge Geld zu investieren? Macht es Sinn, einen europäischen Islam zu fördern? Macht es Sinn, mehr Rettungsschiffe in das Mittelmeer zu schicken? Macht es Sinn, die innereuropäischen Grenzen wieder mit Grenzanlagen zu schließen? Die Zahl der Sinnfragen ließe sich lange fortsetzen. Wer über Flüchtlinge, Fluchtwege, Fluchtursachen nachdenkt, kommt an Sinnfragen nicht vorbei. Die mit hoher Erregung geführten Debatten über mögliche Antworten zeigen, dass die Fragen nach dem Sinn aus unserer Gesellschaft nicht verschwunden sind. Wohl 146 Hanno Heil / Es macht Sinn! aber, so wollen uns die Ansager der Postmoderne und der Säkularisierung erklären, gibt es auf diese Sinnfragen keine gemeinsamen Antworten mehr und schon gar keine religiösen. Die Zeit der »großen (sinnstiftenden) Erzählungen« sei, so Lyotard und viele Anhänger postmodernen Denkens, vorbei. Und der flapsige Spruch »Ich glaub’ nix, mir fehlt nix« steht für ein säkulares Denken, das von der Religion keinen Beitrag mehr zu den »Tagesthemen« erwartet. Im Folgenden möchte ich aufzeigen, dass die Realität der globalen Migrationskrise diese abendländischen Denkspiele überholt hat. Ich sehe in der aktuellen Debatte vielmehr das Aufeinandertreffen zweier großer MetaErzählungen. Die eine handelt von Göttern und Menschen, die um Länder, Macht und Ehre kämpfen, die andere von einem Gott und einer Menschheit auf dem Weg des Friedens. Sie provozieren von jedem Einzelnen, wie von GrupHanno Heil, geb. 1956, Theologiestudium in Bonn, Jerusalem und Münster. 1988–1995 Persönlicher Referent von Bischof Franz Kamphaus, anschließend bis 2010 Dezernent im Bischöflichen Ordinariat Limburg und Vorsitzender des Diözesancaritasverbandes. 2014 Promotion an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar mit anschließender Tätigkeit dort am Lehrstuhl Pastoraltheologie und Diakonische Theologie (Prof. Dr. Dr. D. Nauer). Unterstützt in seiner Freizeit seine Frau in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe. DIAKONIA 47 (2016) Die kleinen Geschichten und die großen Erzählungen Wenn man den Geschichten von Flüchtenden zuhört, fallen die Verbindungen zur biblischen Geschichte ins Auge. Wie Israel vor ägyptischer Gewaltherrschaft und Unterdrückung flüchtete, so flüchten heute Menschen vor den modernen Pharaonen mit Namen wie Abu Bakr al Bagdadi, Baschar al-Assad, Isaias Afewerki. Das Rote Meer bildete für Israel eine nur durch ein göttliches Wunder zu überwindende Todeszone auf dem Weg in die Freiheit. Die Überfahrt über das Mittelmeer in seeuntüchtigen Booten überstanden zu haben, ist heute Gegenstand des dankbaren Staunens für Zehntausende Flüchtlinge. Für Israel war nach dem glücklich überstandenen Transit durch die maritime Todeszone das Gelobte Land noch lange nicht erreicht. Es musste erst noch vierzig Jahre im »Zwischenraum Wüste« umherirren. Auch für heutige Flüchtlinge ist mit der Überquerung des Mittelmeeres das verheißungsvolle Europa noch nicht erreicht. Sie verbringen – überwiegend unter sich – Monate und Jahre in Transitlagern, Gemeinschaftsunterkünften, urbanen Ghettos. Erst folgende Generationen können vielleicht sagen, dass sie »in Europa angekommen« sind. Aber es sind nicht nur biblische Geschichten, die sich in vielen Facetten in den persönlichen Fluchtschicksalen wiederfinden. Auch die modernen Erzählungen der Freiheit, wie der bis heute lebendige Gründungsmythos der Vereinigten Staaten, spiegeln sich in der globalen Migrationskrise. Menschen machen sich auf DIAKONIA 47 (2016) den Weg nach Norden oder Westen, um das zu suchen, was die amerikanische Verfassung als unveräußerliche Menschenrechte beschreibt: »Life, Liberty and the pursuit of Happiness« zu Deutsch: »Leben, Freiheit und das Streben nach Glück«. Wer die Inschrift am Sockel der Freiheitsstatue in New York liest, könnte meinen, sie sei auf die aktuell Fliehenden hin verfasst: »Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten; Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen. Hoch halt’ ich mein Licht am gold’nen Tore!« (Emma Lazarus, The New Colossus, 1882). Auch der amerikanische Mythos gründet auf Meerespassagen, exemplarisch die der Mayflower-Besatzung. Auch er erzählt von einer verzögerten Landnahme. Angesichts des stürmischen Winterwetters bei ihrer Ankunft mussten die Mayflower-Passagiere einen entbehrungsreichen und für viele tödlichen Winter auf ihrem viel zu engen Schiff vor Cape Cod verbringen. Aber leuchtet das »hochgehaltene Licht« für die geknechteten Massen heute noch von den Küsten Amerikas und Europas? Oder greift die westliche Welt die Knute des Pharao auf, den die Angst umtrieb, dass sich die versklavten Völker zu stark vermehren könnten: »Gebt Acht! Wir müssen überlegen, was wir gegen sie tun können, damit sie sich nicht weiter vermehren. Wenn ein Krieg ausbricht, können sie sich unseren Feinden anschließen, gegen uns kämpfen und sich des Landes bemächtigen.« (Exodus 1,10) In welche Geschichten und in welche Rollen wollen wir uns heute einschreiben? Die Flüchtenden haben mit ihrem Exodus entschieden: Sie folgen der Verheißung des größeren Glücks, der Hoffnung auf Leben, oder einfach nur Überleben. Hanno Heil / Es macht Sinn! 147 THEMA pen und Gesellschaften, eine Positionierung. Ihre religiösen Elemente werden heute gerne ausgeblendet. Aber sie sind fest in die Erzählstränge eingewoben. Die Geschichte des Einen Gottes Die biblische Exoduserzählung ist in eine größere Erzählung eingewoben. Erst in diesem Kontext wird sie zu mehr als einer abenteuerlichen Fluchtgeschichte. Der Moses des Exodus ist zugleich der Moses, dem sich der Eine Gott in der Wüste von Midian offenbart und dem er am Sinai die »Weisung« übergibt. In diesem Kontext fällt der entscheidende Satz, der alle biblischen Erzählungen auf den Punkt bringt: »Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig.« (Deuteronomium 6,4) Das »Schema Israel! – Höre, Israel!« ist bis heute das Glaubensbekenntnis des Judentums. Das christliche Glaubensbekenntnis schließt daran an: »Credo in unum deum – Ich glaube an den einen Gott!« Der gläubige Moslem bekennt in derselben Überlieferung mit der Schahãda: »ašhadu an lã ilãha illã ’llãh – Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Gott gibt.« Von ihrem monotheistischen Kern her wird die Fluchtgeschichte Israels zu einer ganz besonderen Fluchtgeschichte. Sie wirft auch auf heutige Flüchtlingsschicksale ein besonderes Licht. Schauen wir zunächst auf diesen monotheistischen Kern. Der Tanach, die fünf Bücher Mose, datiert die Offenbarung des Einen Gottes in die Zeit des Auszugs aus Ägypten, die Frühzeit Israels. Aber historisch ist die Offenbarung des Monotheismus wohl nicht am Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. anzusetzen, sondern in der Zeit um das babylonische Exil, also in der Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. Es ist die von Karl Jaspers als »Achsenzeit« bezeichnete Epoche, in der zum ersten Mal Gott als ein einziger gedacht und verehrt wird.1 Zu den epochalen Umwälzungen der Achsenzeit gehört diese Neuorientierung des religiösen Denkens. Neben die Erzählungen von mit Blitzen, Speeren und Dreizack bewaffneten Männergottheiten und von im Schönheitswett- 148 Hanno Heil / Es macht Sinn! bewerb stehenden oder in Eifersucht vergehenden Frauengottheiten tritt nun ein neuer Erzählstrang. Die auf verschiedene Aufgaben spezialisierten Einzelgottheiten unterschieden sich in ihren Temperamenten und Neigungen. Der Charakter des Einen Gottes ist von ganz anderer Art. Der Eine Gott ist »außer Konkurrenz«. Sein Himmel ist nicht mehr der Ort miteinander streitender und konkurrierender Götter. An diesem Ort herrscht Harmonie und Ruhe. Als Novum und Unikum in der Religionsgeschichte entsteht ein Feiertag, der sich nicht an Göttergeburten, -hochzeiten oder -toden orientiert. Der Schabbat feiert die Ruhe des Einen Gottes in der Ruhe der Menschen. Für die Römer war dieser Tag ein »Unding«. Die verächtlichen Verse des spätantiken römischen Dichters Rutilius Namatianus spiegeln das entgegengesetzte, polytheistischkonkurrenzielle Weltbild, mit auffallenden Ähnlichkeiten zu den Ansichten der heutigen hochkompetitiven Leistungsgesellschaft: »Gebührende Schmähung ward von uns dem verruchten Geschlechte …, Das mit der Torheit im Bunde seine traurigen Sabbate feiert. […] Zur entehrenden Ruh verdammt den siebenten Tag es, Gleichsam ein weibisches Bild von dem ermüdeten Gott.«2 Mit seiner spöttischen Kritik trifft Namatianus unbeabsichtigt einen weiteren Erzählstrang um das monotheistische Gottesbild: die Beschreibung seiner weiblichen Züge. Wenn Gott nur noch ein Einziger ist, kann er nicht mehr auf der männlich-patriarchalen Seite der Geschlechterdualität verortet werden. Der Eine Gott ist der barmherzige Gott, in dem mütterliche und väterliche Eigenschaften integriert sind. In der christlichen Überlieferung wird diese Einheit im DIAKONIA 47 (2016) DIAKONIA 47 (2016) welches mit Götter und Geister beschwörenden Gebets- und Opferformeln auch heute noch für den Inbegriff religiösen Denkens und Handelns gehalten wird. Der Bruch, den der monotheistische Glaube mit dem bis dahin vorherrschenden religiösen Denken vollzieht, geht so tief, dass er z. B. die Frage aufwirft, ob auf das Christentum überhaupt der Religionsbegriff Anwendung finden könnte (D. Bonhoeffer). Zu Recht kann man deshalb mit Jaspers die Epoche der Entstehung des monotheistischen Gottesbildes als »Achsenzeit« benennen. Hier hat sich das Rad der (Religions-) Geschichte um 180° weitergedreht. Der bis dahin dominanten Handlungssteuerung menschlicher Gesellschaften tritt nun eine Alternative gegenüber. Von der archaischen Logik der Ehre zur Vision des Schalom Die zumindest seit der neolithischen Revolution dominante Handlungssteuerung archaischer und ständischer Gesellschaften ist die »Logik der Ehre«3. Die durch sesshafte Ackerbauern und Viehzüchter geprägten Kulturen des Alten Orients basierten auf Familien-, Clan- und Stammesgruppen. Sie lebten unter der beständigen Bedrohung durch Missernten, Viehseuchen und Austrocknung der Weidegründe. Sie mussten sich ständig technisch weiterentwickeln, um aus Wildpflanzen ertragreiche Kulturpflanzen zu züchten, um Nahrung haltbar zu machen und Nahrungsreserven zu verteidigen. Sie mussten ihre Behausungen an wechselndes Klima anpassen und Waren produzieren, die man in Situationen des Mangels gegen Nahrung oder Werkzeuge eintauschen konnte. Wer diese Techniken beherrschte oder weiterentwickelte, gewann Besitz, Macht, Ansehen Hanno Heil / Es macht Sinn! 149 THEMA »Gleichnis vom barmherzigen Vater« eindrücklich dargestellt (Lukas 15,11–32). Die Suren des Koran sind überschrieben »Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen«. Und auch das Judentum betet zum »El malei rachamim«, zum »Gott voller Barmherzigkeit«. Der Gedanke der Einheit Gottes wirft allerdings ein grundlegendes Problem für die Theorie und Praxis der Religion auf. Das menschliche Denken braucht die Dualität, die Unterscheidung, wie George Spencer-Brown am Beginn seiner logischen Überlegungen (Laws of Form) ausführt: »Draw a distinction!« (Zeichne eine Unterscheidungslinie!). Ohne grundlegende Unterscheidungen, so formuliert es auch die biblische Schöpfungsgeschichte, kann kein menschlicher Lebensraum entstehen. Am Beginn der Schöpfung steht die Scheidung von Licht und Finsternis. Wo keine Finsternis ist, lässt sich kein Licht beschreiben. Und wo kein Feuchtes ist, gibt es kein Trockenes usw. Aber nicht nur die Menschen, selbst die künstliche Intelligenz des Computers braucht zumindest ein binäres System aus 0 und 1, um operieren zu können. Die Einheit ist deshalb »schwer zu denken«. Sie entzieht sich der Darstellungskraft. Denn jede Darstellung operiert mit Unterscheidungen. Monotheismus ist deshalb in seinem Kern immer eine bildlose und schweigsame Vergegenwärtigung des Geheimnisses der Einheit. Formen der mystischen Verehrung und Versenkung entsprechen ihm mehr als die theologisch-dogmatische Feststellung. Vor der theologischen Debatte steht das ehrfürchtige Verstummen vor dem All-Einen, der nicht in Begriffen und Bildern zu fassen ist. Das bezeugen christliche Mystiker/innen, ein wortloser chassidischer nigun (melodischer Gesang), ebenso wie die tanzenden Derwische von Konya. Damit ist monotheistische Religiosität stets ein Gegenpol zum archaischen magischen Denken, und Ehre. Die Ehre, so Pierre Bourdieu4, ist ein symbolisches Kapital, das in andere soziale und materielle Kapitalarten transformierbar ist. Ehre, Macht, Wissen, Geld, Besitz, körperliche Kraft und Mut können in einer Kreislaufwirtschaft geschickt »verhandelt« werden, um in der Ehrenpyramide aufzusteigen. Diese Kapitalien können aber auch geraubt und beschädigt werden und damit zum »Absturz« führen. In dieser Logik ist das Wertesystem und die gesellschaftliche Rangordnung vertikal zwischen der »hohen Ehre« und der »tiefen Schande« ausgerichtet. Es gilt Ehre zu gewinnen und Schande zu vermeiden.5 Dort wo der Mangel an Lebensmitteln und der Untergang des eigenen Stammes eine stetige Kulisse der Bedrohung bildet, kann sich Gewalt als »Über-Lebensmittel« etablieren. Die Eroberung von Kornspeichern und der Raub von Nutztieren wurden seit der Jungsteinzeit ein Bestandteil der Kultur der Ehre. Wie die gerade in Halle / Saale zu Ende gegangene Ausstellung »Krieg« dokumentierte, hat das Phänomen »Krieg« hier seine historischen Wurzeln. Krieg ist keine anthropologische Konstante, sondern eine »Erfindung« der bäuerlichen und viehzüchtenden Kulturen. Auch hier setzt der Monotheismus einen entscheidenden Kontrapunkt: Er zeichnet eine Vision des universalen Friedens, der nicht nur die Völker, sondern sogar die Natur einschließt (Jesaja 2,3; 11,6). Das Ziel der Geschichte ist die Einheit Gottes mit den Menschen und der Menschen untereinander (vgl. Lumen Gentium 1). »Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk [andere Textzeugen: seine Völker] sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal.« (Offenbarung 21,3f.) Dort, wo Gott als einziger verehrt wird (lat. soli deo gloria ), wird die Ehre bei Gott monopolisiert 150 Hanno Heil / Es macht Sinn! und damit ihrer unzeitgemäßen gewalttätigen Begleiterscheinungen beraubt. Es gilt: »Ehre sei Gott in der Höhe, und Frieden den Menschen auf Erden«. Deshalb grüßen sich Monotheisten mit dem Friedensgruß: »Der Friede sei mit dir!«, »Salam aleikum!«, »Schalom!«. Von der Ansage der Not zur Verkündigung der Gnade Gruppen und Nationen, die nach der Logik der Ehre kodiert sind, betonen die Ansage der Not und des Mangels. Die Nationalsozialisten griffen bewusst auf (germanische) Logiken der Ehre zurück. Sie spannten ihr Wertesystem auf zwischen Begriffen wie »Schande von Versailles« und »Rassenschande« gegenüber Slogans wie »Meine Ehre heißt Treue« und dem Begriff der soldatischen Ehre. Ihre Ansage der Not hieß: »Volk ohne Raum!«, womit sie einen mörderischen Vernichtungs- und Versklavungskrieg entfesselten. Auch ein Slogan, wie »Das Boot ist voll« hat Mobilisierungscharakter. Er soll die Gruppenmitglieder aufrufen, ihren Platz im Boot gegen jeden Eindringling zu verteidigen. Und da das Bild ein Kentern des Bootes suggeriert, gilt auch hier das Notwehrgesetz: »Alle Mittel sind recht.« Spätestens mit den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki hat sich jedoch gezeigt, dass Gewalt als Mittel der Konfliktlösung in letzter Konsequenz die Vernichtung der ganzen Menschheit riskiert. Man kann dies mit Günther Anders als »Antiquiertheit des Menschen« beschreiben.6 Aber nach der hier vorgelegten Analyse ist es zunächst die Antiquiertheit einer »Logik der Ehre«, die in agrarischen Gesellschaften ihre Funktion erfüllt haben mag, aber im Industriezeitalter obsolet und hochriskant geworden ist. DIAKONIA 47 (2016) Ideal und Elend des Monotheismus Aber, so werden viele einwenden, sind damit die Einwände gegen eine immer wieder erkennbare Gewaltbereitschaft der monotheistischen Religionen erledigt? Kreuzfahrer, Inquisition, Konquistadoren, Mudschaheddin, DIAKONIA 47 (2016) Taliban, Al-Qaida, Islamischer Staat, jüdische Siedler in den besetzten Gebieten, sind sie nicht lebendige Beispiele dafür, dass der Monotheismus doch ein erhebliches Gewaltpotential freisetzt? Ich kann dies bejahen, allerdings unter einer Einschränkung: Nur wenn man die biblischen Texte und den Koran mit der Brille der Logik der Ehre liest, kann man sie als Begründungen für Gewalt, Ausgrenzung, Sklaverei, Patriarchat, Hierarchien und Stände verstehen. Natürlich ist dies in Gesellschaften, deren Mitglieder existentiell von Hunger und Not bedroht sind, eine naheliegende Interpretation, aber keine zwingende. Und natürlich können religiöse Autoritäten immer gesellschaftliche Wertesysteme verstärken und legitimieren. Allerdings hat es für die Bestärkung der Logik der Ehre über 10.000 Jahre keinen Monotheismus gebraucht, sie funktionierte gut, ja sogar besser ohne ihn. Es ist eher andersherum: Um die Logiken der Ehre zu stärken, mussten religiöse Autoritäten der monotheistischen Religionen ihre heiligen Texte selektiv (vor-)lesen, vor ihren Anhängern in unverständlichen Sprachen verbergen, verschweigen und korrigieren. Und wenn dies nicht reichte, musste interpretiert werden, dass sich die Balken bogen. Die Geschichte des monotheistischen Glaubens zeigt sich deshalb deutlicher in der Geschichte der Dissidenten, der Propheten, der Widerständler und Märtyrer. Denn auch dies ist ein Merkmal monotheistischen Glaubens: Ein Gott, der seine Existenz nicht mehr auf einer Hierarchie von Untergottheiten und Halbgöttern aufbaut, braucht nicht mehr deren irdische Verlängerung in Hierarchien. Er spricht zu jedem Menschen direkt und unvermittelt in sein Herz. Von dieser Mitte, von seinem innersten Gewissen erfährt der Mensch von jetzt an die zentralen Impulse seiner Handlungssteuerung. Der monotheistisch glaubende Mensch lebt Hanno Heil / Es macht Sinn! 151 THEMA Der Monotheismus mit dem Bild des mütterlich-väterlich sorgenden Gottes setzt diesen Katastrophenszenarien die Ansage der Gnade und des Überflusses entgegen. Bevor der Mensch zum (moralischen) Handeln aufgefordert wird, wird er an das göttliche Geschenk der Freiheit erinnert: »Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.« (Exodus 20,2) Wo für die Speisung von 5000 Menschen nur fünf Brote und zwei Fische zur Verfügung stehen, bleiben noch reichlich Reste übrig. Die Vision des Friedens verwirklicht sich unter der Ansage des »Es ist genug für alle da!«. Monotheisten dürfen den Worten glauben: »Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? Denn um all das geht es den Heiden. Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht.« (Matthäus 6,21f.) Der Glaube an die Fülle wird zum Unterscheidungskriterium gegenüber den Heiden, d. h. denen, die der Logik der Ehre anhängen. Als Ausdruck der Vision des Friedens ist die zentrale Feier des Christentums die Versammlung um den gedeckten Tisch: das Gegenbild der Knappheit, der Not und des gewaltsamen Verteilungskampfes. Man könnte den Monotheismus auch als eine »Es reicht für alle!«-Religion beschreiben. Nur so macht das Insistieren von Judentum, Christentum und Islam auf der Gerechtigkeitsfrage Sinn. nach der Maxime: »Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.« (Apg 5,29) Er ist fähig zum Widerstand gegen menschliche Autoritäten, weil für ihn primär der Wille Gottes zählt. Es sind diese eigensinnigen Menschen, die eine lesbare Spur des Monotheismus gezogen haben, oft an ihren Gruppen und Gemeinden vorbei, oft jenseits dessen, was man traditionell »Religion« nennt. Es sind nicht die ruhmreichen Helden in der »Logik der Ehre«. Es sind vielmehr gewaltlose Humanisten und Heilige, die ihre Ehre an den Einen Gott (ab-)gaben, auf Rache und Blutvergießen verzichten konnten und eine friedliche Weltordnung bezeugten. Der Sinn der globalen Migration Wir waren von der Frage nach dem Sinn der heutigen globalen Migrationsbewegungen ausgegangen. Nach dem oben Gesagten wird deutlich: Für Menschen, die in einer Logik der Ehre denken, macht die globale Migration keinen Sinn. Sie erfahren sie als Störung ihrer Gruppe, als Eindringen Fremder in ihr Territorium. Sie fühlen sich in ihren Lebensgrundlagen bedroht. Sie beschwören den Zusammenbruch (»Die Kapazitätsgrenzen sind erreicht«) und rufen den Notstand aus. In dieser Deutung darf man zur Sicherung der eigenen Grenzen Waffen auf Menschen richten. Wenn Notwehr und Notstand proklamiert wird, ist Tötung – auch durch Unterlassung – nicht mehr verboten. Wenn die Flüchtenden noch dazu dinglich als »Strom« oder »Welle« definiert werden, braucht man keine Suchflugzeuge und Rettungsschiffe loszuschicken, wenn Menschen in den Wellen des Mittelmeers ertrinken. Bei einem havarierten Kreuzfahrtschiff hätte dies Konsequenzen für die »Unterlasser«. Aber wenn es um die fremde »bedrohliche« Gruppe geht, bleibt es folgenlos. 152 Hanno Heil / Es macht Sinn! Für die so Denkenden zählen Armut und Not als Fluchtmotiv nicht. Mit der Diffamierung als »Wirtschaftsflucht« soll die Konkurrenz der Glück-Suchenden geschwächt werden. Gleichzeitig wird die Anhäufung von ungerecht erworbenem Reichtum bagatellisiert. Ausbeutung von Menschen anderer Völker oder der Natur ist in dieser Denkweise kein Delikt, wenn sie der Ehre der eigenen Gruppe dient und ihr Überleben sichert. Sogar die Verschwendung macht in dieser Logik, wie P. Bourdieu gezeigt hat, »Sinn«. Sie vermehrt die Ehre des Verschwenders, der durch die Darstellung von »Potenz« andere ängstigen und distanzieren, bzw. abhängig und dienstbar machen kann. Offenbar ist die Logik der Ehre nicht allein ein Merkmal orientalischer Kulturen, in deren Clans es noch »Ehrenmorde« und »Ehrenkodizes« gibt. Sie lebt auch in modernen Gesellschaften in vielen Facetten7 – nicht zuletzt als Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Es braucht keine Flüchtlinge, um sie nach Europa zu tragen. Ganz anders stellt sich die heutige Situation für diejenigen dar, die ihr Verhalten von einer Vision des Friedens bestimmen lassen. Das sind nicht allein Anhänger der monotheistischen Religionen. Dazu zählen auch diejenigen, die sich von ihren »ehrgeizigen« Religionsgemeinschaften entfernt haben, aber das Ziel der Einheit der Menschheit nicht aus den Augen verloren haben. Auch sie haben sich von der Jagd nach Ehre abgewandt hin zum Einsatz für die Würde aller Menschen und Geschöpfe. Für diese Menschen zeigt sich in den globalen Wanderungsbewegungen Ziel und Sinn: Die Menschheit findet in der Suche nach dem Glück, nach Freiheit und Leben zusammen. Das »gute Leben für alle Menschen«, wie man das hebräische »Schalom« auch übersetzen könnte, ist für sie ein gemeinsames Ziel, das allen Einsatz lohnt. Migrations- DIAKONIA 47 (2016) Sinngebung praktisch Vor dem Hintergrund der monotheistischen Unterscheidung zwischen der Logik der Ehre und der Vision des Friedens stehen wir angesichts der verstärkten Zuwanderung aus islamisch geprägten Ländern nicht vor einem Kampf zwischen dem »christlichen Abendland« und dem »islamischen Morgenland«. Hier wird künstlich ein Gegensatz beschrieben, der in Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Frankfurt am Main 1955, 14ff. 2 Rutilius Namatianus: De reditua suo I, 317–398; übersetzt von Karl Hermann Schelkle: Israel in seiner Umwelt, Theologisches Quartal 164 (1984) 85. 3 Ludgera Vogt, Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft. Dif1 DIAKONIA 47 (2016) Wahrheit nur die stets gleiche Weitererzählung vom Kampf um Weideplätze und Ressourcen ist. Ihre Gegenerzählung findet sich in der »Relecture« der heiligen monotheistischen Texte. Sie führt in einen Austausch von Friedensbotschaften und -praktiken der monotheistischen Religionen. Sie erzählen von einem gemeinsamen Beschreiten des Weges, der zum Frieden führt, das heißt zu einem guten Leben für alle Menschen. Hier finden Haupt- und Ehrenamtliche derzeit ein weites Gesprächs- und Betätigungsfeld. Die Geflüchteten und die in der Flüchtlingsarbeit Engagierten, haben viel zu erzählen. Sie sind erfüllt von Geschichten und Anekdoten, die sie gehört und erlebt haben. Mit ihren kleinen Erzählungen schreiben sie an den »großen Erzählungen« weiter. Die globalen Flüchtlingsströme des beginnenden Jahrtausends werden noch in Jahrhunderten erinnert werden. Erzählen wird man dann auch von den Menschen, die heute dazu beitragen, dass die Vision des Friedens weitergetragen wird. Zum Weg des Friedens gehört nicht zuletzt die Aufdeckung der noch immer mächtigen Logiken der Ehre in Religion und Gesellschaft. Nach den Worten Jesu: »Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?« (Matthäus 7,5) geht es dabei zuerst um Selbstkritik. ferenzierung, Macht, Integration, Frankfurt am Main 1997. 4 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, 3. Aufl. Frankfurt am Main 2012. 5 John George Peristiany, Honour and shame. The values of Mediterranean society, London 1965, 9–18. Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1980. 7 Dagmar Burkhart, Ehre. Das symbolische Kapital, München 2002. 8 Martin Buber, Frankfurter Hefte 6 (1951) 195f. 6 Hanno Heil / Es macht Sinn! 153 THEMA bewegungen stellen für sie die Gerechtigkeitsfrage. Ihre Antworten heißen Ausgleich und Umverteilung. Ihre Vertreter rücken im eigenen Territorium zusammen, um Platz für Neuankömmlinge zu schaffen. Sie pflegen eine Kultur des Teilens und gegenseitigen Beschenkens. In diesem Teilen und Schenken erfahren sie Sinn. Sie fühlen sich mit den tiefsten Wurzeln ihres Handelns verbunden und als Teil einer die Welt umspannenden und bereichernden Bewegung. Die Arbeit an der Einheit der Menschheit korrespondiert für sie mit der Einheit ihres Gottes oder »des Seins«. Sie wissen auch um die Grenzen ihrer Kräfte und das mögliche Scheitern ihrer Bemühungen. Das hält sie aber nicht von ihrem Einsatz für die Flüchtenden ab. Denn sie wissen »Erfolg ist keiner der Namen (des monotheistischen) Gottes«.8
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