diskussion - Deutsches Ärzteblatt

MEDIZIN
DISKUSSION
zu dem Beitrag
Behandlung des Bluthochdrucks
in Hausarztpraxen
von Prof. Dr. med. Birgitta Weltermann, MPH; Christine Kersting, MA;
Dr. rer. medic Anja Viehmann in Heft 10/2016
Blutdruck und Lebensstil
Die Arbeit von Weltermann et al. widmet sich in verdienstvoller Weise der Versorgungsforschung im Bereich der arteriellen
Hypertonie. Methodisch sinnvoll mittels Cluster-Randomisierung und bemerkenswerter Weise komplett auf der Basis von
ambulanten 24-h-Blutdruckmessungen werden sehr wichtige
Daten erhoben, die Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen sein können (1). Wünschenswert wäre aber auch gewesen, dass Ergebnisse nicht nur zu Blutdruckwerten, Anzahl
der Antihypertensiva oder Änderung des Praxismanagements
sondern auch zu Lebensstilfaktoren präsentiert worden wären.
Diese werden zwar in der Methodik als Endpunkt erwähnt,
fehlen aber im Ergebnisteil. Ein Einfluss auf den Lebensstil
ist ein in der Praxis vernachlässigter Faktor. In einer aktuellen
Untersuchung werden nur weniger als 10 % der Patienten auf
körperliche Aktivität angesprochen (2).
Unbestritten ist der positive Einfluss von unterschiedlichen
nichtmedikamentösen Maßnahmen auf die Blutdruckkontrolle (3). Auch wenn in der vorliegenden Untersuchung aus unterschiedlichen – in der Arbeit sehr einleuchtend diskutierten
– Gründen kein eindeutiger Blutdruckunterschied zwischen
Intervention und Kontrolle gezeigt wurde, hätte doch eine Fokussierung auch auf den Lebensstil der Patienten möglicherweise Hinweise auf langfristige Effekte in Bezug auf Blutdruck und kardiovaskuläres Gesamtrisiko ergeben. Gerade in
dem von den Autorinnen gewählten Setting könnten diese Effekte gut untersucht werden.
DOI: 10.3238/arztebl.2016.0604a
●
96 % der Studienpatienten hatten zu Baseline mindestens
einen optimierbaren Lebensstilfaktor.
● Interventionspraxen empfahlen Gewichts- und Alkoholreduktion signifikant häufiger als Kontrollpraxen: Arztempfehlungen zur Gewichtsreduktion: 71 % versus 50 %,
p = 0,032; Alkoholreduktion: 25,8 % versus 7,5 %,
p = 0,020; Bewegungssteigerung: 77,4 % versus 72,5 %,
p = 0,573; Salzreduktion: 56,6 % versus 50 %, p = 0,523;
Nikotinkarenz: 27,4 % versus 15 %, p = 0,143; Lakritzreduktion: 11,3 versus 10 %; p = 1,00. Dies war deutlich
häufiger als in der von Prof. Weisser zitierten Studie (3).
● Obwohl 92 % der Patienten des Interventions- und 88 % des
Kontrollarms eine oder mehrere Empfehlungen zur Veränderung des Lebensstils erhielten, änderte sich in dem kurzen
Follow-up von 5 Monaten kein Aspekt relevant.
● Anders als in der von Prof. Weisser genannten PREMIERStudie (patientenzentrierte Verhaltensintervention bei nichtmedikamentös behandelten Hypertonikern) untersuchten
wir eine deutlich kränkere Patientenpopulation: Die Hypertonie war im Durchschnitt seit 9 Jahren bekannt (Spanne:
0–34 Jahre), 56 % hatten ≥ 1 kardiovaskuläre Folgeerkrankung und/oder Diabetes mellitus Typ 2, 95 % erhielten zu
Beginn ≥ 1 Antihypertensivum.
Eine nicht medikamentöse Blutdrucksenkung setzt eine entsprechende Motivation und Adhärenz der Patienten voraus (4).
Insbesondere in der Sekundärprävention ist eine medikamentöse Blutdrucksenkung sinnvoll bis Lebensstilveränderungen
gegebenenfalls greifen und Medikamente reduziert beziehungsweise abgesetzt werden können. Damit wird das kardiovaskuläre Risiko frühzeitig gesenkt, statt über viele Jahre eine
unzureichende Blutdruckeinstellung mit dem Hinweis auf
notwendige Lebensstilveränderungen zu tolerieren. Wir stimmen zu, dass Interventionsstudien zur Lebensstilmodifikation,
auch mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen, in Hausarztpraxen sinnvoll sind.
DOI: 10.3238/arztebl.2016.0604b
LITERATUR
1. Weltermann B, Kersting C, Viehmann A: Hypertension management in primary
care—a cluster randomized trial of a physician-focused educational intervention.
Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 167–74.
2. Gabrys L, Jordan S, Behrens K, Schlaud M: Prevalence, current trends and
regional differences of physical activity counseling in Germany. Dtsch Z Sportmed
2016; 67: 53–8.
3. Appel LJ, Champagne CM, Harsha DW, et al.: Effects of comprehensive lifestyle
modification on blood pressure control: main results of the PREMIER clinical trial.
JAMA 2003; 289: 2083–93.
LITERATUR
Prof. Dr. med. Burkhard Weisser
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
[email protected]
4. Dickinson HO1, Mason JM, Nicolson DJ, et al.: Lifestyle interventions to
reduce raised blood pressure: a systematic review of randomized controlled trials.
J Hypertens 2006; 2: 215–33.
Schlusswort
Unsere Studie hat sowohl die leitliniengestützten Lebensstilempfehlungen der Ärzte als auch die Lebensstilveränderungen
der Patienten erfasst (1, 2). Methodisch betrachtet waren die
Lebensstilfaktoren Kofaktoren, keine Endpunkte. Ergänzende
Details aus unserer Studie:
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1. Mancia G, Fogard R, Narkiewicz K, et al.: 2013 Practice guidelines for the
management of arterial hypertension of the European Society of Hypertension
(ESH) and the European Society of Cardiology (ESC): ESH/ESC Task Force for the
Management of Arterial Hypertension. J Hypertens 2013; 31: 1925–38.
2. Weltermann B, Kersting C, Viehmann A: Hypertension management in primary
care—a cluster randomized trial of a physician-focused educational intervention.
Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 167–74.
3. Gabrys L, Jordan S, Behrens K, Schlaud M: Prevalence, current trends and
regional differences of physical activity counseling in Germany. Dtsch Z Sportmed
2016; 67: 53–8.
Prof. Dr. med. Birgitta Weltermann, MPH
Institut für Allgemeinmedizin
Universität Duisburg-Essen
[email protected]
Interessenkonflikt
Die Autoren beider Beiträge erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 35–36 | 5. September 2016