Wir machen uns große Sorgen

THEMEN DER ZEIT
INTERVIEW
mit Dr. med. Volker Westerbarkey, Präsident der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen
einer vom IS kontrollierten Region
gearbeitet. Dann wurden sechs unserer internationalen Mitarbeiter entführt und über ein halbes Jahr festgehalten. Da es nach ihrer Freilassung
keine Versicherung gab, dass das
nicht noch einmal passiert, haben wir
unsere Arbeit dort eingestellt.
Foto: Georg J. Lopata
Die Resolution des UN-Sicherheitsrats
stellt klar, dass Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht Kriegsverbrechen
sind, und sie fordert die internationale
Staatengemeinschaft auf, derartige
Verstöße zu bestrafen. Was helfen
solche Appelle?
„Wir machen uns große Sorgen“
75 Krankenhäuser der Hilfsorganisation wurden 2015 angegriffen. Volker
Westerbarkey über die Krise der humanitären Hilfe, den noch immer
unaufgeklärten Luftangriff auf das Krankenhaus im afghanischen
Kundus und darüber, dass Menschlichkeit trotz allem möglich ist.
Herr Dr. Westerbarkey, wie hat sich die
Sicherheitslage für humanitäre Helfer
entwickelt?
Westerbarkey: Wir erleben überall, dass medizinisches Personal
und Patienten angegriffen werden.
Man muss allerdings die verschiedenen Settings unterscheiden. Die
Gründe für Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen sind in Syrien
andere als in Jemen und Afghanistan oder im Südsudan, wo es immer
wieder zu Überfällen kommt durch
Rebellen oder verschiedene Bevölkerungsgruppen. Die Folgen sind
allerdings immer gleich: Wir werden in unserer Arbeit immer mehr
eingeschränkt.
Wer ist verantwortlich für die zunehmende Gewalt?
A 1532
Volker Westerbarkey
(45) ist seit 2004 im
Einsatz für Ärzte ohne
Grenzen, zunächst in
zahlreichen Hilfsprojekten und seit 2015
als deren Präsident.
Der Allgemeinarzt ist
seit drei Jahren in
einer Gemeinschaftspraxis in BerlinKreuzberg niedergelassen.
Westerbarkey: In Syrien hat die
Regierung 2012 per Gesetz medizinische Hilfe außerhalb der von ihr
kontrollierten Gebiete als Unterstützung terroristischer Aktivitäten für
illegal erklärt. Dort werden Gesundheitseinrichtungen gezielt bombardiert. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat im Mai in einer Resolution solche Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht explizit verurteilt und gemahnt, kriegsführende
Parteien müssten Zivilisten und medizinische Einrichtungen schützen.
Von den Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen sind im Übrigen
vor allem die Patienten und einheimisches medizinisches Personal betroffen. Eine Ausnahme ist hier der Islamische Staat, der gezielt ausländische
Helfer angreift. Wir haben bis 2014 in
Westerbarkey: Die Resolution ist
ein wichtiger Schritt. Ohne dieses
Bekenntnis der internationalen Gemeinschaft zum humanitären Völkerrecht wäre die Lage noch aussichtsloser. Wir müssen jetzt alle
gemeinsam dafür kämpfen, dass
diese Resolution umgesetzt wird
und man sich eben nicht, wie bei
den Luftangriffen auf unser Krankenhaus in Kundus durch US-Militär, damit zufriedengibt, dass dieses
den Vorfall selbst untersucht.
Ärzte ohne Grenzen hatte eine unabhängige Untersuchung durch die Internationale Humanitäre Ermittlungskommission gefordert. Daraus ist offenbar
nichts geworden.
Westerbarkey: Genau. Dabei sieht
die Genfer Konvention die Einrichtung einer solchen Kommission
vor. Sie ist bisher nur noch nie aktiviert worden. Einige Länder haben
uns in unserer Forderung unterstützt. Allerdings müssen die beteiligten Parteien, also hier die USA
und Afghanistan, einer unabhängigen Untersuchung zustimmen. Tun
sie das nicht, findet keine statt.
Ärzte ohne Grenzen behauptet nach eigenen Untersuchungen, dass es für die
US-Streitkräfte keinen Grund gab, das
Krankenhaus in Kundus anzugreifen.
Es sei weder für militärische Zwecke
genutzt worden, noch hätten sich dort
Kämpfer aufgehalten.
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 35–36 | 5. September 2016
THEMEN DER ZEIT
Westerbarkey: Die USA haben inzwischen auch einen Untersuchungsbericht vorgelegt. Danach
hat eine Aneinanderreihung von unglückseligen Umständen, von technischem und menschlichem Versagen zu dem Bombardement geführt.
Wenn man das als Ursache glauben
möchte, wird einem angst und bange zu sehen, wie eine der größten
Armeen der Welt funktioniert.
Sie sind nach wie vor davon überzeugt,
dass das Krankenhaus gezielt angegriffen wurde?
Westerbarkey: Uns erscheint diese
Begründung der USA nicht ausreichend. Wir sind allerdings auch
nicht in der Lage, den Fall abschließend zu beurteilen. Das müsste unabhängig untersucht werden.
Wie reagieren lokale Autoritäten auf
solche Angriffe? Gab es je Sanktionen?
Westerbarkey: Nein, entweder
weil die lokalen Verantwortlichen
in die Vorfälle verwickelt waren
oder keine Möglichkeit hatten einzuschreiten. Zum Beispiel wurden
die Angriffe auf unser Krankenhaus
im Jemen Anfang August von der
saudi-arabischen Armee geflogen.
Die kann nicht von jemenitischen
Organisationen zur Rechenschaft
gezogen werden. Das sollte auch
nicht geschehen. Solche Vorfälle
sollten von einem internationalen,
unabhängigen Gremium beurteilt
werden.
Nach welchen Kriterien entscheiden
Sie, in welchen Ländern Sie noch arbeiten können und wie schützen Sie Ihre
Mitarbeiter?
Westerbarkey: Der oberste Aspekt
ist Sicherheit. Ohne eine Sicherheitsgarantie aller beteiligten Akteure können wir nicht arbeiten.
Das heißt, wenn wir im Jemen arbeiten, nehmen wir Kontakt auf mit
Saudi-Arabien, mit den verschiedenen lokalen und regionalen Kräften.
Wir erklären, was wir für Bedürfnisse sehen, wo es Leid von Menschen gibt, das nicht gelindert wird.
Dazu kommen technische Sicherheitsvorkehrungen, um Mitarbeiter zu schützen: regelmäßiger
Funkkontakt, Sperrstunden, Evakuierungspläne. Wenn irgendwo Luft-
angriffe geflogen werden, übermitteln wir die GPS-Koordinaten der
medizinischen Einrichtung an die
kriegsführenden Parteien. Krankenhäuser werden als solche eindeutig
gekennzeichnet.
Die Konflikte in Staaten wie Syrien
oder Jemen werden immer undurchschaubarer. Wie gehen sie damit um?
Westerbarkey: In diesen Kontexten
wird Networking immer wichtiger,
um wirklich alle Parteien kennenzulernen, die dort Einfluss und Macht
haben. Ein großer Teil unserer Arbeit besteht deshalb darin, Kontakt
zu suchen und mit dem zu überzeugen, was wir medizinisch leisten.
Wichtig ist auch klarzustellen, dass
wir jedem helfen, ohne Unterschied.
Das zeichnet die humanitäre Hilfe
aus und überzeugt die meisten.
es wieder auf. Sie riskieren jeden
Tag ihr Leben, um weiter zu helfen.
Ich glaube, man muss mehr darüber
reden, wie Menschen auch in den
schlimmsten Situationen noch geholfen werden kann. Man muss die
Leute dafür begeistern, dass
Menschlichkeit möglich ist.
Wo sehen sie Lösungsansätze, um
humanitäre Hilfe wieder sicherer zu
machen?
Westerbarkey: Wir sehen die Vereinten Nationen und die Weltgesundheitsorganisation in der Pflicht.
Sie müssen ihren selbst gegebenen
Auftrag umsetzen. Es gibt das internationale Völkerrecht, das medizinische Einsätze, Patienten und
den Transport von Patienten unter
Schutz stellt. Diese Beschlüsse
müssen mehr Zähne bekommen. Es
„Wichtig
ist klarzustellen, dass wir jedem helfen,
ohne Unterschied. Das zeichnet die humanitäre Hilfe aus.
Ärzte ohne Grenzen sagte die Teilnahme am UN-Gipfel für humanitäre Hilfe
im vergangenen Mai ab. Die Begründung: Der Gipfel befasse sich nicht mit
den Schwächen der humanitären Hilfe
und der Reaktion auf Krisen, besonders
in Konfliktgebieten und bei Epidemien.
Welche Schwächen sind das?
Westerbarkey: Wir nehmen in den
letzten Jahren zunehmend wahr,
dass es in Kriegs- und Krisensituationen immer weniger Akteure gibt,
die direkt vor Ort helfen. In der Debatte über die humanitäre Hilfe
spielt immer mehr der Sicherheits-,
der Friedens- und der Entwicklungsaspekt eine Rolle. Das ist natürlich auch wichtig. Aber wenn
man darüber die Nothilfe vernachlässigt, ist das eine komplett falsche
Entwicklung. Sicher, Nothilfe löst
keine Konflikte, sie bringt keinen
Frieden und führt auch nicht zu
Entwicklung. Aber sie erhält
Menschlichkeit und Hoffnung, die
dazu beitragen, dass Wunden nicht
noch tiefer werden und ein Weiterleben auch nach dem Konflikt möglich ist.
Beispiel Syrien: Die Ärzte dort
gehen jeden Tag in ihr Krankenhaus. Es wird zerbombt, sie bauen
Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 35–36 | 5. September 2016
“
muss Konsequenzen haben, wenn
man sich nicht an eine UN-Resolution hält.
Die Internationale Präsidentin von
Ärzte ohne Grenzen, Joanne Liu, hat
vor dem UN-Sicherheitsrat gesagt,
die humanitäre Hilfe gerate in eine
ausweg-lose Lage.
Westerbarkey: Wir machen uns
große Sorgen. Wie soll es weitergehen, wenn Krankenhäuser bombardiert werden können, ohne dass solche Vorfälle unabhängig untersucht
und sanktioniert werden? Wie sollen wir weiter arbeiten, wenn das
Prinzip der Menschlichkeit, das zu
Recht über allem steht, verhandelt
wird im Rahmen von Terrorgesetzgebung, Flüchtlingskrisen und Sicherheitspolitik? Wenn Menschlichkeit weiter relativiert wird, ist
unsere Arbeit an den Orten, wo sie
am nötigsten gebraucht wird, immer weniger möglich.
In Syrien haben die Menschen
Angst vor Krankenhäusern, weil sie
vorrangige Ziele sind. In einer solchen Situation bleiben nicht nur die
Kriegsverletzten unversorgt. Da wird
auch eine Blinddarmentzündung
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wieder zur tödlichen Gefahr.
Das Interview führte Heike Korzilius
A 1533