Gewerkschaften starten Rentenkampagne

Fatale Bilanz
ROBERT SCHLESINGER DPA/LBN (M)
Vorabdruck: Fast zehn Jahre lang
regierten SPD und PDS/Die Linke
Berlin. Das Ergebnis waren Personalabbau im öffentlichen Dienst und
Privatisierung. Das könnte sich nach
dem 18. September wiederholen.
Von Lucy Redler
SEITEN 12/13
GEGRÜNDET 1947 · MITTWOCH, 7. SEPTEMBER 2016 · NR. 209 · 1,50 EURO (DE), 1,70 EURO (AT), 2,20 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT
WWW.JUNGEWELT.DE
Umverteilungsmaschine
Steuerkriminelle
Hassverbrechen
Handelsdefizit
2
3
7
9
Bundeshaushalt 2017: Mehr fürs Militär, nichts für soziale Sicherheit.
Interview mit Gesine Lötzsch
Apple ist kein Einzelfall. EU-Staaten
rollen Konzernen den roten Teppich
aus. Von Simon Zeise
London: Warschau schickt Regierungs­ Kanada: CETA wird die Wirtschaftsprodelega­tion nach rassistischem
bleme des Landes verschärfen.
Mord an ­polnischem Arbeiter
Von Raoul Rigault
REUTERS
Lettland: Ab 2017
NATO-Stationierung
Riga. Das für Lettland vorgesehene,
von Kanada angeführte NATOBataillon soll im Frühjahr 2017 in
dem baltischen Staat stationiert
werden. Die Truppen würden
eintreffen, sobald der Schnee geschmolzen sei, sagte der lettische
Botschafter in Kanada, Karlis Eihenbaums, der Nachrichtenagentur
Leta. Außer Kanada hätten dem
Diplomaten zufolge viele weitere
Mitgliedsländer des westlichen
Kriegsbündnisses ihre Bereitschaft
signalisiert, Truppen in das Land
zu schicken. Die NATO hatte bei
ihrem Gipfel Anfang Juli die Entsendung von je etwa 1.000 Soldaten nach Polen, Lettland, Estland
und Litauen beschlossen. Begründet wird dies mit einer angeblichen
Bedrohung der Länder durch
Russland. (dpa/jW)
Verteidigungsministerium investiert 58 Millionen Euro in der Türkei.
Bundeswehr richtet sich auf längere Präsenz in Incirlik ein. Von Sevim Dagdelen
D
ie Bundesregierung schafft
auf dem Luftwaffenstützpunkt im türkischen Incirlik
Fakten und führt einmal mehr den
Bundestag vor: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) will
58 Millionen Euro investieren, um die
Basis für die Bundeswehr auszubauen
– ungeachtet des von Ankara verfügten Verbots für Abgeordnete, die dort
stationierten deutschen Soldaten zu
besuchen. Für rund 26 Millionen Euro
sollen ein Flugfeld für die »Tornado«Kampfflugzeuge der Bundeswehr und
Unterkünfte für die Soldaten gebaut
werden. Die Mittel hierfür sind bereits freigegeben, der Deal muss nur
noch unterzeichnet werden. Darüber
hinaus will die Wehrchefin für weitere
30 Millionen Euro einen mobilen Gefechtsstand anschaffen. Damit diese
neue deutsche Kriegsplanungszentrale
auch fest und eben auf türkischem
Boden steht, muss ein Fundament gegossen werden. Kostenpunkt: weitere
zwei Millionen Euro.
Die über den Spiegel am Dienstag
verbreitete Nachricht hat es in sich:
Der Ausbau in Incirlik demonstriert
nachdrücklich, die Bundeswehr-Einheiten sind ganz offensichtlich dorthin
geschickt worden, um zu bleiben – die
Verfolgung von Andersdenkenden, die
Massenverhaftungen und Massenentlassungen durch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sowie
dessen Krieg gegen die Kurden nimmt
man in Berlin billigend in Kauf.
Doch nicht nur eine Verlängerung
der Bundeswehr-Stationierung in dem
autoritären Unterdrückungsstaat über
das Auslaufen des Mandats Ende des
Jahres hinaus ist geplant. Im Herbst
will die Bundesregierung die deutsche
Truppenpräsenz sogar noch ausweiten. Ab Ende Oktober oder Anfang
November sollten AWACS-Radarflugzeuge der NATO von der Türkei aus
den syrischen Luftraum kontrollieren.
Offiziell soll damit der US-geführte
Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) unterstützt werden.
Faktisch erhält das NATO-Mitglied
Türkei wertvolle Aufklärungsdaten,
die im Kampf gegen die Kurden im syrischen Grenzgebiet Verwendung finden können. Die Bundeswehr stellt ein
Drittel der AWACS-Mannschaften.
Bereits mit den durch die »Tornado«Einsätze gewonnenen Daten unterstützt die Bundeswehr die türkische
Armee aktiv im Vorgehen gegen die
kurdischen Volksverteidigungseinheiten, eine zentrale Kraft im Kampf gegen den IS.
Erdogans Türkei hatte nach der Verabschiedung der Armenien-Resolu­tion
des Bundestags am 2. Juni Besuche
von Parlamentariern bei der Bundeswehr in Incirlik untersagt. Statt Courage zu zeigen und die deutschen Soldaten umgehend abzuziehen, machte die
Bundesregierung den Kotau. In einer
beispiellosen Unterwerfungsgeste distanzierte sie sich von der Entschließung, die Vertreibung und Massaker
an den Armeniern vor gut 100 Jahren durch das Osmanische Reich als
Völkermord wertet. Um den Despoten
am Bosporus gnädig zu stimmen, degradierten Kanzlerin Angela Merkel
(CDU) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) den Bundestag
zur Quasselbude. Wie offensichtlich
zuvor exakt ausgezirkelt, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert am
vergangenen Freitag gen Ankara, die
Resolution sei lediglich eine Willenserklärung und nicht rechtlich bindend.
Merkels Kabinett ist damit exakt auf
Linie der regierenden AKP in der Türkei, wonach Gerichten die Entscheidung obliegt, was Völkermord ist –
und nicht dem Parlament.
Die Mittelfreigabe für den Ausbau
in Incirlik wiederum erfolgt nun, noch
bevor Erdogan grünes Licht für die
Reise von Bundestagsabgeordneten
gegeben hätte. So hat die Bundesregierung auch in der laufenden Haushaltswoche bekundet, was sie von den
Volksvertretern hält. Über Frust bei
den Wählern im Land braucht sich da
am Ende keiner zu wundern.
Gewerkschaften starten Rentenkampagne
Deutlich höhere Altersbezüge tun not, so der DGB. Nur wieviel mehr es sein soll, weiß er nicht
A
m Dienstag hat der Deutsche
Gewerkschaftsbund (DGB) in
Berlin eine Kampagne gestartet, um das Rentenniveau anzuheben.
Nötig sei ein »Kurswechsel in der Rentenpolitik«, sagte der DGB-Vorsitzende
Reiner Hoffmann. Zunächst ginge es
darum, das gesetzliche Rentenniveau zu
stabilisieren. Langfristig müsse es aber
deutlich höher werden.
Momentan liegt das Rentenniveau –
es bezeichnet das Verhältnis zwischen
der Durchschnittsrente und dem Durchschnittslohn – bei knapp 48 Prozent.
Bis 2030 soll es jedoch auf 43 Prozent
absinken. Die Senkung beschädige »die
bisher beste, stabilste und vertrauenswürdigste Altersvorsorge, die wir haben – die gesetzliche Rentenversicherung«, sagte Hoffmann. Werde nun
nicht gegengesteuert, »werden 2040
oder 2050 Millionen der heute noch
jungen Menschen von sozialem Abstieg
oder gar Altersarmut betroffen sein«.
Der DGB schlug vor, alle versicherungsfremden Leistungen voll aus Steuermitteln zu erstatten. Würde so mit der
Mütterrente verfahren, spare die Rentenversicherung jährlich sieben Milliarden Euro ein. Zudem solle der Beitrags-
satz »maßvoll, in kleinen Schritten« auf
22 Prozent angehoben werden. Mit den
zusätzlichen Mitteln könne das Rentenniveau gesichert werden.
Wie stark aber die »deutliche Erhöhung« des Rentenniveaus ausfallen soll,
die der DGB »langfristig« erreichen
will, erklärte Hoffmann nicht. Der Gewerkschaftsbund sagte auf Nachfrage
von jW, dass man noch keine entsprechende Zahl habe. Bevor sich der DGB
hier festlege, wolle er zunächst auf neue
Daten zur Rentenentwicklung warten,
die im Laufe des Herbsts veröffentlicht
werden. Zuletzt hatte sich auch der So-
zialverband Deutschland zum Thema
geäußert und eine möglichst rasche Erhöhung des Rentenniveaus auf mindestens 50 Prozent verlangt (siehe jW vom
24. August).
Unterstützung erhielt der Deutsche
Gewerkschaftsbund am Dienstag von
der Linkspartei. Deren Vorsitzender,
Bernd Riexinger, erklärte in einer Mitteilung, das Rentenniveau müsse auf
53 Prozent angehoben werden. Wichtig
sei eine solidarische Mindestrente von
1.050 Euro »als universales soziales
Netz für alle Seniorinnen und Senioren«. (AFP/jW)
Immer mehr Haushalte
sind verschuldet
PETER STEFFEN/DPA-BILDFUNK
Erpressung lohnt sich
BUNDESWEHR/OLIVER PIEPER
Bundeswehr-Tornado in Incirlik
(Foto vom April 2016)
Berlin. Die Zahl der überschuldeten
Haushalte in Deutschland hat einem Medienbericht zufolge in den
vergangenen Jahren zugenommen.
2015 waren demnach bundesweit
1,97 Millionen Privathaushalte
überschuldet. Das geht aus Zahlen
des Bundesarbeitsministeriums
hervor, die der Nordwest-Zeitung
(Dienstagausgabe) vorliegen und
im neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung veröffentlicht werden sollen.
2006 gab es demnach erst
1,64 Millionen Haushalte mit einer
»hohen Überschuldungsintensität«. Dabei geht es um Personen
oder Familien, die über einen längeren Zeitraum ihre Schulden bei
mehreren Gläubigern nicht zurückzahlen können. (dpa/jW)
wird herausgegeben von
1.867 Genossinnen und
Genossen (Stand 12.8.2016)
n www.jungewelt.de/lpg