Erinnerung in Europa unteilbar – Gedenken an die Opfer des Totalitarismus „Wozu Menschen fähig sind“: Film und Diskussion über Sowjetgeschichte an OpferGedenktag Vor 77 Jahren teilten Hitler und Stalin den Europäischen Kontinent unter sich auf. Der fatale Pakt von 1939 war der Höhepunkt einer schon länger praktizierten Zusammenarbeit der beiden totalitären Regime. Am 23. August unterschrieben beide Seiten dieses Abkommen und es begannen für die Völker zwischen den beiden Mächten unheilvolle Jahre voller Leid und Tod. Doch schon vor 1939 litten die Völker der Sowjetunion unter dem Verfolgungswahn Stalins und einer kommunistischen Ideologie, die Massenmord als legitimes Mittel der Politik ansah. Der 23. August, heute der „Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“, ist in der deutschen Öffentlichkeit wenig präsent. Die Medien berichten kaum darüber. Grund genug für die Bundestagsabgeordneten Arnold Vaatz (CDU) und Andreas Lämmel (CDU) in Kooperation mit der Europäischer Austausch gGmbH aus Berlin und ihrer Geschäftsführerin Stefanie Schiffer, verantwortlich auch für die „Kiewer Gespräche“, gefördert durch das Auswärtige Amt, mit einer Diskussionsveranstaltung daran zu erinnern unter dem Motto: „Mal ernsthaft: Haben wir aus der Geschichte gelernt?“ Reichlich 170 Dresdner fanden den Weg in den Rudolf-Mauersberger-Saal vis-a-vis der Kreuzkirche. Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand, nach Grußworten von Vaatz und Schiffer, die Vorführung des Dokumentarfilms „The Soviet Story“ des Letten Edvīns Šnore aus dem Jahr 2008, ein Film der aufgrund seiner sehr emotionalen Betrachtung der stalinistischen Verbrechen bereits für Kontroversen gesorgt hatte. Die Diskussion nach dem Film zwischen Publikum und dem hochkaratigen Podium war dementsprechend lebhaft. Prof. Uwe Backes, Vize-Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung und Politikwissenschaftsprofessor an der TU Dresden, bescheinigte dem Film eine weit gehende saubere Faktengrundlage: „Der Film ist im Großen und Ganzen seriös und auch die französischen Historiker die zu Wort kommen, vielfach Mitautoren des Schwarzbuch des Kommunismus, sind seriöse Wissenschaftler.“ Backes bezeichnete den Film als erinnerungspolitischen Film, der sich vor allem an das osteuropäische Publikum wendet. Dass der Film diese Zielgruppe anspricht, ist nicht verwunderlich, so war man sich auf dem Podium einig, wurde doch die Wahrheit über die Verbrechen der Sowjetzeit, ob nun die Gulags, die Massenmorde und Deportationen oder etwa der organisierte Hungertod in der Ukraine 1932 / 1933 im ehemaligen Ostblock jahrzehntelang vertuscht, verschwiegen und sogar das Reden darüber verboten. „Es spricht Empörung aus dem Film“, erklärte Backes die emotional eingesetzte Bilderflut von Massengräbern und Leichenhaufen. Gleichzeitig seien dem Film durch die Art der Montage und Kombination der ausgewählten Ereignisse propagandistische Züge nicht abzusprechen. Die sehr eindrücklichen Filmsequenzen ließen das Auditorium nicht unbeeindruckt. „Einmal mehr sieht man hier wozu der Mensch fähig ist, wozu menschliche Gesellschaften fähig sind“, äußerte ein Besucher nachdenklich. Viele neue Fakten, so Publikum und Podium unisono, enthüllte der Dokumentarfilm allerdings nicht. Genau dieser Umstand löste gleichzeitig aber auch ein intensives Nachdenken über die Frage aus: Wissen wir in Deutschland darüber wirklich alle Bescheid? Historiker, so Siegfried Reiprich, Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, hätten vor allem die Aufgabe die Fakten zusammenzutragen, die Politik und die Gesellschaft in einer Demokratie müssten dann die Bewertung vornehmen. Hier besteht bei der Behandlung der Verbrechen der Stalinära Nachholbedarf in Deutschland, kritisierten mehrere Diskutanten aus dem Publikum. Die Naziverbrechen, so etwa ein Zuhörer, würden in den Schulen sehr ausführlich behandelt, die Verbrechen der Stalin-Ära hingegen kaum. Doch nicht nur die Schule sei der Ort, wo man sich mit dieser dunklen Seite des Sowjetkommunismus beschäftigen sollte, sondern auch in der Familie zu Hause: „Die Schule fängt zu Hause an“, bekräftigte ein anderer Diskussionsteilnehmer aus dem Publikum und bekam Szenenapplaus. „Bis 89“, so Arnold Vaatz dazu, „wurde im Osten nichts darüber bekannt. Nach 89, als alles offen lag, hieß es dann: Aber das ist doch alles schon bekannt. Es scheint, als wolle man sich nicht wirklich mehr damit beschäftigen.“ Neu für viele, selbst für manch einen Historiker auf dem Podium, war allerdings der Bericht des Films über einen seitenlangen Kooperationsvertrag zwischen der deutschen SS und dem sowjetischen Geheimdienst NKWD aus dem Jahre 1938. Die enge Zusammenarbeit, so besuchten SS-Delegationen in dieser Zeit zum Beispiel sowjetische Gulags, war dann doch nicht in diesem Ausmaß bekannt. Ausführlich gingen an diesem Abend Liudmyla Grynevych von der Akademie der Wissenschaften in Kiew und Direktorin des „Holodomor Forschungs- und Bildungszentrums sowie Toomas Hiio, Direktor des Estnischen Instituts für das Historische Gedächtnis auf die Stalinzeit in ihren Ländern ein. Grynevych berichtete detailliert über die von Moskau zur Unterdrückung jeglicher Unabhängigkeitsbestrebungen (mutwillig) besser: vorsätzlich in der Ukraine organisierte Hungerkatastrophe in den Jahren 1932 und 1933. Ein Verbrechen welches auch im vorgeführten Film ausführlich behandelt wurde. „Hunger ist die brutalste Verletzung des Menschenrechtes auf Leben. Stalin benutze ihn als Waffe. Gemeinsam mit den Grausamkeiten der Kollektivierung kamen in diesen Jahren in der Ukraine über 7 Millionen Menschen um. In die leeren Häuser wurden russische Freiwillige zur Ansiedlung geschickt. Sie kamen in ein Land der Trauer und viele kehrten wieder zurück. Am Ende wurden Sie wieder in die Ukraine gezwungen.“ Grynevych appellierte mit Blick auf die heutige Zeit: „Für uns ist es unheimlich wichtig, Ihre Unterstützung zu haben und mein Land wird alles dafür tun, damit es einmal ein berechtigtes Mitglied der EU werden kann. Wichtig ist, dass Sie dabei unsere schwierige Geschichte beachten.“ Auch Estland hatte massiv unter dem Stalinismus zu leiden. Toomas Hiio verneinte aber die Frage, ob es eine planmäßig organisierte Russifizierung gegeben habe. „Moskau hatte nicht das Ziel das Baltikum ethnisch massiv zu verändern. Die Region war vielmehr strategisch wichtig als westlicher Vorposten der Sowjetunion. Marine-Häfen und Militärbasen sowie die neue Industrien wurden aufgebaut. Im Zuge dessen kam dann russisch sprechende Bevölkerung in unser Land. Auch, als beispielsweise bei den olympischen Spielen 1980 die Segelwettbewerbe in Tallinn stattfanden, kamen russische Bauarbeiter“, so Hiio. „Ab Ende der 70er Jahre und in den 80er Jahren gab es dann aber doch eine Russifizierungswelle im Zuge des Konzeptes „Entwickelter Sozialismus“. In diesem „Entwickelten Sozialismus“ sollten alle Menschen russisch sprechen. Ende 89 waren es noch 64 Prozent Esten im Vergleich zu 88 Prozent in der Zwischenkriegszeit.“ Auch Hiio betonte wie wichtig die Aufarbeitung der Vergangenheit ist. „Alle drei baltischen Staaten haben 1998, als es um den Betritt zur EU ging, Historikerkommissionen eingesetzt. Sie beschäftigten sich intensiv mit dem Holocaust und der Beteiligung der Balten daran. Die Arbeit ist mittlerweile weitgehend abgeschlossen. Die Bevölkerung unserer Länder forderte aber dann dass sich auch ebenso intensiv mit der Sowjetzeit beschäftigt wird, etwa mit den vielen Deportationen nach Zentralasien.“ „Wir müssen uns immer alle grausamen Verbrechen der Zeit von 1917 bis 1990 zusammen ansehen, nur so wird das Bild komplett“, bekräftigte Arnold Vaatz. „Ohne eine Verständigung über diese Dinge können wir nicht die Zukunft Europas gestalten.“ Der Film „The Soviet Story“ so Vaatz sei ein wichtiger Beitrag dazu, nur leider: „Mit den öffentlichrechtlichen und privaten Fernsehsendern in Deutschland habe ich verhandelt, keiner wollte den Film synchronisieren und ins Programm nehmen. Das ist immens schade.“ Das überaus interessierte Publikum harrte bis nach 21.30 Uhr im Mauerberger Saal aus um zu diskutieren. Da es unmittelbar nach der Filmvorführung einen kleinen Imbiss gab, gingen die Anwesenden gut gestärkt in den zweiten Teil der Veranstaltung. Sie verfolgten aufmerksam die streckenweise historisch-spannenden Beiträge der Referenten und beteiligten sich rege an der Diskussion. Andreas Lämmel, der das Podium moderierte, zeigte sich am Ende der Veranstaltung sichtlich zufrieden über die gute Resonanz. Einen Wehrmutstropfen hatte aber auch er parat. „Keine Zeitung in Deutschland berichtete über den Gedenktag vom 23. August und neben unserer Filmvorführung hat deutschlandweit lediglich die Landeszentrale für politische Bildung in Brandenburg ebenfalls eine Veranstaltung zum Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus ausgerichtet.“ Edwin Seifert MEDIENKONTOR Dresden
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