SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Das ist ja ekelhaft! Hintergründe eines starken Gefühls Von Ingeborg Breuer Sendung: Donnerstag, 01.09.2016 Redaktion: Charlotte Grieser Regie: Maria Ohmer Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. 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O-Ton Antweiler: ich ekle mich vor Muscheln, Schnecken, sämtlichem Meeresgetier und tendenziell auch vor Fisch. 3. O-Ton Schienle: Wir machen ein neues Projekt mit Hautunreinheiten und das … bedingt, dass wir viele Bilder anschauen mussten mit Pickeln, Mitessern und wenn man das ne längere Zeit tun muss, hab ich auch schon gemerkt, da kommt auch bei mir Ekel. 4. O-Ton Antweiler: Ekel, Abscheu, da muss ich kotzen, das ist doch widerlich! Sprecherin: Faulige, verdorbene Speisen. Fäkalien. Aufgeweichtes, zersetztes Gewebe. Glibber und Schleim. Eiternde Wunden. Achselschweiß. Alles, was kriecht und krabbelt. Erbrochenes. Obst mit Schimmelpelz. Mundgeruch. Ein Teller kross frittierte Kakerlaken. Ansage: Das ist ja ekelhaft! Hintergründe eines starken Gefühls. Eine Sendung von Ingeborg Breuer. 5. O-Ton Ritter: das Empfinden von Ekel ist bei der ganzen Menschheit ausgeprägt. Wir haben die Möglichkeit, Ekel zu empfinden, das ist angeboren. Aber auf was wir reagieren, das ist eine kulturelle Sache. Sprecherin: Prof. Guido Ritter, Ernährungswissenschaftler an der Fachhochschule in Münster: 6. O-Ton Ritter: Es gibt nur ganz wenige Gerüche, bei denen wir sofort Ekel empfinden, dazu gehört ein sehr intensiver Verwesungsgeruch, der ist biologisch festgelegt, scheinbar hat es damit zu tun, dass wir Krankheit und Tod damit verhindern wollen. Aber alles Weitere ist dann kulturell festgelegt. Würggeräusche Sprecherin: Jede Kultur kennt Ekel. Denn er ist, genau wie zum Beispiel auch Angst, Wut oder Überraschung eine so genannte Basisemotion, die bei jedem Menschen zu finden 2 ist. Und auch wenn das, was den Ekel auslöst, oft abhängig von der jeweiligen Kultur und Epoche ist, ist die Emotion Ekel in unterschiedlichen Ausprägungen überall zu finden. Zitator: „Es gibt keinen Menschen, der frei von Ekel wäre; nur das ist denkbar, dass einer nie im Leben dem Anblick, dem Geruch oder sonstigen Sinneneindruck begegnet, der seinen Ekel hervorruft“, Sprecherin: formulierte der Schriftsteller Walter Benjamin. Und wenn ein Mensch sich ekelt, drückt er das überall auf der Welt mit der gleichen Mimik aus. Das hatte schon Charles Darwin, Begründer der Evolutionstheorie, auf seinen Reisen festgestellt. 7. O-Ton Schienle: Also wenn wir angeekelt schauen, dann rümpfen wir die Nase und öffnen den Mund, strecken vielleicht auch die Zunge heraus. Und das wird so als Überbleibsel eines Würgereflexes gesehen, wo wir auch diese schlechte Nahrung wieder ausgespuckt haben. Sprecherin: Anne Schienle ist Professorin für Klinische Psychologie und Neurowissenschaftlerin an der Universität Graz. 8. O-Ton Schienle: Es gibt frühe Experimente, da hat man Neugeborenen z.B. etwas Bitteres auf die Zunge geträufelt. Und schon die Neugeborenen machen die typische Ekelmimik. So dass man zeigen kann, diese Nahrungsabwehrreaktion von der Basis her, die ist schon sehr früh vorhanden und die ist biologisch verankert. Sprecherin: Im Unterschied zu anderen starken Gefühlen wie Liebe, Hass oder Angst ist Ekel wissenschaftlich kaum untersucht. Wahrscheinlich, so mutmaßte einer der ersten Ekelforscher, der US-Psychologe Paul Rozin, Anfang der 1990er Jahre, weil das Thema so unappetitlich sei. Wer spürt schon gern der Wirkung von Erbrochenem nach oder der von madendurchsetztem, verwesendem Fleisch? Die Ursprünge des Ekels waren lange Gegenstand von Spekulation: Sigmund Freud sah seine Aufgabe darin, den Sexualtrieb in die richtige Richtung zu lenken, weg von der analen Lust und anderen ‚perversen‘ Praktiken. Andere, wie der österreichisch-britische Philosoph Aurel Kolnai, sahen darin die Abwehr unmoralischen Verhaltens, und Paul Rozin hielt ihn für ein Hilfsmittel zur Unterdrückung der eigenen tierischen Natur. Dagegen betrachteten Kulturrelativisten wie die Anthropologin Mary Douglas Ekel als kulturell antrainiert. Alles könne – bei entsprechender Formung durch die Kultur zum Ekelobjekt werden. 9. O-Ton Antweiler: Wenn es um Nahrungstabus und Ekel geht, dann ist so eine dominante Strömung in den Kultur- und Geisteswissenschaften, dass es historisch gewachsen ist, dass es mehr oder weniger zufällig ist. 3 Sprecherin: Christoph Antweiler, Professor für Ethnologie an der Uni Bonn, widerspricht dieser These allerdings: 10. O-Ton Antweiler: Wenn man guckt bei neueren neurobiologischen oder auch psychologischen Studien, dann zeigt sich, dass es deutliche Konstanten gibt (...). … Dass das immer mit Körperlichkeit zu tun hat, mit menschlichen Körpern und den Ausscheidungen und den Tieren, das geht quer durch die Geschichte. Sprecherin: Eiter, Kot und verwesende Körper galten quer durch die Zeiten als ekelerregend. Verrottende organische Substanzen sind Träger von Keimen, die wiederum Infektionen auslösen – sie sind also potenziell gefährlich für uns. Deshalb kommen neuere Studien zu dem Schluss, dass Ekel ursprünglich die Funktion hatte, vor Krankheit und Tod zu schützen – und nicht bloß Ausdruck einer kulturellen Prägung ist. Möglicherweise stand am Ursprung des Ekels das Fleisch, mutmaßt der Kognitionswissenschaftler Jason Clark von der Universität Osnabrück: Weil der menschliche Magen verdorbenes Fleisch schlecht vertrage, hätten unsere Vorfahren mit der Zeit einen Ekel davor entwickelt – Ekel wäre demnach ein evolutionärer Vorteil gewesen, ein über Generationen herausgebildetes Gefühl, das uns vor Krankheiten schützen soll. Ähnlich sieht das auch der Ethnologe Christoph Antweiler: 11. O-Ton Antweiler: Die meisten Tiere können gefährlich sein, weil sie Pathogene im Körper haben und vor allem, wenn Tiere tot sind und verwesen, dann locken die noch viel mehr Krankheitskeime an und das kann für Menschen gefährlich werden. Sprecherin: Der Ekel wäre so eine von mehreren Strategien, wie unser Körper mit für ihn schädlichen Stoffen fertig wird: Haut und Schleimhäute dienen dazu, diese aus dem Körper heraus zu halten. Wenn sie es doch in den Körper schaffen, versucht das Immunsystem, mit den Schädlingen fertig zu werden. Die allererste Barriere wäre nach diesem Erklärungsmodell allerdings der Ekel, der verhindert, dass wir überhaupt mit Krankheitserregern in Berührung kommen. 12. O-Ton Schienle: Evolutionsbiologische Ekeltheorien sagen ganz klar, das ist eine Emotion, die ist verankert in einem Nahrungsabwehrsystem. Und ein bisschen breiter gefasste Modelle sagen, das ist eine Krankheitsvermeidungsemotion. Also Ekel motiviert uns, solche Verhaltensweisen zu zeigen, die uns letztlich gesund erhalten. Also Abstand von allem, was uns anstecken könnte, was schmutzig ist. Sprecherin: Die Neurowissenschaftlerin Anne Schienle von der Universität Graz versucht herauszufinden, was sich beim Ekelvorgang im Gehirn abspielt. Dazu schiebt sie ihre Probanden in den Magnetresonanztomografen und sorgt dafür, dass sie sich so richtig ekeln. 14. O-Ton Schienle: 4 Also unsere Probanden und Probandinnen sehen sich Fotos an. Auf einem sind eklige Tiere abgebildet, Maden, Schnecken, aber auch so Inhalte wie mangelnde Hygiene, Körperausscheidungen und dann auch ungewöhnliche und verdorbene Nahrungsmittel. Und das kann man sehr gut im Scanner darbieten und schauen, was im Gehirn passiert. Sprecherin: Die Forscher suchen dabei nach einer Art Schaltzentrale, von der aus die Ekelgefühle gesteuert werden. Und werden fündig. 15. O-Ton Schienle: Es gibt ein Areal im Gehirn, das die Ekelforscher sehr mögen. Und das ist die Insula. Sprecherin: Die Insula, auch Inselrinde oder Inselcortex genannt, ist ein Stück der Großhirnrinde, das etwa auf der Höhe der Schläfen liegt. Es ist wichtig für den Geschmackssinn und die Wahrnehmung von Gerüchen. Und auch die emotionale Bewertung von Schmerzen wird mit Bereichen der Insula in Zusammenhang gebracht. 16. O-Ton Schienle: Und die Insel ist immer aktiviert, wenn Menschen sagen, jetzt ekele ich mich gerade. Aber es wäre sicher zu einfach zu sagen, der Ekel lebt in der Insel. Sondern es ist auch wichtig, welche anderen Bereiche im Gehirn werden aktiviert. Sprecherin: Zum Beispiel: die für Angst. Denn die Hirnareale, die für Ekel und Angst zuständig sind, sind teilweise dieselben. 17. O-Ton Schienle: Und das macht auch Sinn. Wenn wir schauen, was ist der Zweck und das Ziel dieses Erlebens der negativen Emotionen, dann soll ja ein bestimmtes Verhalten angestoßen werden. Und das ist einmal bei der Angst das Weglaufen, aber auch beim Ekel ist es die Distanzierung, Abstandgewinnen zum Ekelobjekt. Also von der Grundtendenz wollen Ekel und Angst doch das Gleiche. Und das sieht man in der Gehirnaktivierung, in den Netzwerken. Musikakzent Sprecherin: Dass wir alle Ekel empfinden und schon Babys den entsprechenden Gesichtsausdruck zeigen, spricht für die Theorie, dass Ekel angeboren ist und evolutionär geformt wurde. Dagegen spricht: Babys und Kleinkinder haben zum Beispiel keine Aversionen, sich etwa Kot oder Würmer in den Mund zu stecken. Und auch verwahrloste Kinder empfinden kaum Ekel. Frühestens ab dem Alter von drei Jahren beginnen Kinder, Schweiß- und Kotgeruch als unangenehm zu erfahren. Das legt den Schluss nahe, dass die Fähigkeit sich zu ekeln zwar angeboren ist, konkrete Ekelgefühle aber erst durch Sozialisation erworben werden. 19. O-Ton Ritter: 5 Es ist so, dass, was wir mit Ekel verbinden, in den ersten Jahren unserer Kindheit sehr stark durch unsere Bezugspersonen, unsere Eltern vorgegeben wird. Sprecherin: Ernährungswissenschaftler Guido Ritter: 20. O-Ton Ritter: Wenn unsere Eltern sagen, igitt, bäh, das darfst du nicht, dann wird das sofort als Achtung, giftig, das kann gar nicht schmecken …. das sind so starke Regeln, die aufgestellt werden, dass das bis zu einem körperlichen Effekt dann führt, dass man Würge-, Brechreiz empfindet, allein nur bei der Vorstellung, dass man das essen würde. Sprecherin: Biologie, Sozialisation und Kultur greifen bei der individuellen Entwicklung von Ekelgefühlen ineinander. Dies gilt wahrscheinlich auch für den weit verbreiteten Ekel vor Spinnen oder Schlangen. Möglicherweise steht an dessen Anfang die evolutionäre sinnvolle Reaktion, auf bestimmte Reize und Objekte mit Abwehr zu reagieren. Und dies ist bei Spinnen und Schlangen durchaus angebracht, weil viele von ihnen giftig und damit gefährlich sind. Die Angst vor Spinnen und Schlangen ist deshalb auch in den Ländern besonders groß, in denen es wirklich gefährliche Exemplare gibt. Ein biologischer Reflex wird also auch hier durch Erziehung „ausdifferenziert“. Musikakzent weiter Sprecherin: Zum Ekel, der vor Krankheitserregern und Gefahren schützt, gesellt sich der, der kulturell geprägt ist und je nach Gesellschaft unterschiedlich aussieht. Im Austauschsemester erfahren ausländische Studierende an der Technischen Hochschule Köln aus erster Hand, wie unterschiedlich ihre Essgewohnheiten sind: 21. O-Töne ausländische Studenten: - Ich esse nicht gerne dieses, dieses – ‚Sauerkraut’, das ist nicht typisch indonesisches Essen. Und die Deutschen mögen nicht unser Obst, das heißt Durian - das stinkt. - In Südchina essen die Leute auch Katze, aber Hund ist in ganz China essbar. Viele Leute denken, im Winter wenn man Hundefleisch gegessen hat, wird einem ein bisschen wärmer. Sprecherin: In nahezu allen nationalen oder regionalen Küchen finden sich Speisen, die von Mitgliedern anderer Kulturen als ekelhaft empfunden werden. So gibt es auf Sardinien einen Käse, in dem sich lebende Maden tummeln. In Schweden wiederum isst man vergorenen Fisch. Asiaten halten das Aroma eines reifen Camemberts für widerwärtigen Gestank. Und in Südkorea können deutsche Touristen ihren kulturell anerzogenen Ekel im Restaurant auf die Probe stellen: 22. O-Ton Tourist 2: 6 „Das sind ganz schön große Hunde. How many kilo one dog? Thirty. Dreißig. Dreißig Kilo Hund, das ist ne Ansage, das ist ja größer als ein Schäferhund. Sprecherin: Neben Schwein, Rind und Huhn hat das Essen von Hunden in Korea – wie auch in Vietnam und China – eine lange Tradition. Z.B. der Eintopf Boshintang - mit Hundefleisch. Oder - gedämpfter Hund mit Gemüse. Hundefleisch gilt in allen drei Ländern als Spezialität und ist teuer. Und dass es schmeckt, geben auch die beiden deutschen Touristen in Korea zu. 23. O-Ton Touristen - War gar nicht schlecht geschmacklich. Ganz ehrlich. - Superzart, wie Rinderbrust.. - Ja, Schweinehälften sehen auch nicht besser aus. Aber es ist ne Kopfsache und ich werde kein Hundeesser werden. Sprecherin: Der Hundeverzehr in Korea ist allerdings rückläufig. Denn zunehmend werden Hunde auch dort als Haustiere gehalten. Und Haustiere isst man nicht: Sie sind uns zu nah, mutmaßte der britische Ethnosoziologe Edmund Leach in den 1960er Jahren. Und dann gelte eine Art Inzesttabu. 24. O-Ton Antweiler: Man kann sagen, Menschen sind ja eigentlich biologisch Allesfresser. Aber es gibt keine Kultur, die man bisher gefunden hat, und es gibt ja ungefähr 7000 Kulturen. Es gibt keine Kultur, in der alles gegessen wird, was gegessen werden könnte. Sprecherin: So Christoph Antweiler. Offensichtlich definiert die eigene Esskultur, eingeübt durch Erziehung und Gewohnheit, für jeden Menschen einen Grobraster, innerhalb dessen er seine Geschmacksvorlieben entwickeln kann. Und diese Raster werden so sehr verinnerlicht, dass auf Überschreitungen, auch und gerade, wenn sie unbeabsichtigt geschehen, mit Ekel und Unwohlsein reagiert wird. Möglicherweise mundet der Braten sogar, doch, wenn man dann erfährt, was da kredenzt wird, ist es mit dem leckeren Mittagessen vorbei: 25. O-Ton Sabine F.: Also ich hab mal bei Freunden Sauerbraten gegessen. Ein bisschen hab ich mich gewundert, dass die Fleischfasern irgendwie anderes aussahen als bei Rindfleisch. Und als ich mir gerade die zweite Scheibe nehmen wollte, klärte mich der Gastgeber auf, dass das Pferdefleisch war, was ich da esse. Naja, das war‘s dann, dann hab ich nicht mehr weiter gegessen. Sprecherin: Ein solcher Ekel entsteht im Kopf – und nicht in den Geschmacksnerven oder Geruchszellen. Es sind Assoziationen und Bilder, die ihn hervorrufen – und nicht das ursprüngliche Geschmacksempfinden. 26. O-Ton Ritter: 7 Das heißt, wenn mir etwas vorgesetzt wird und ich kann’s nicht sehen und mir gesagt wird, das ist jetzt ein toller gereifter Käse, dann kann ich das als sehr angenehm empfinden. Sprecherin: In der Versuchsküche der Fachhochschule Münster lässt Guido Ritter seine Probanden auch schon mal mit geschlossenen Augen probieren. 27. O-Ton Ritter: Wenn man mir aber jetzt sagt „ Käsefüße“, das hat was mit einem Bild zu tun, was ich abstoßend finde, dann ist die Assoziation das Bild, was im Kopf entsteht. Und nicht der Geschmack der dahinter steht, der muss überwunden werden. Sprecherin Zu den kulturell bedingten Ekelgefühlen vor bestimmten Lebensmitteln gehört auch noch eine weitere Kategorie: Religiöse Esstabus. Zitator: „Die Kaninchen wiederkäuen wohl, aber sie spalten die Klauen nicht; darum sind sie unrein. Der Hase wiederkäut auch, aber er spaltet die Klauen nicht; darum ist er euch unrein. Und ein Schwein spaltet wohl die Klauen, aber es wiederkäut nicht; darum soll's euch unrein sein. Von diesem Fleisch sollt ihr nicht essen noch ihr Aas anrühren; denn sie sind euch unrein.“ Sprecherin: Jüdische Esstabus sind wohl die strengsten: Weder Kaninchen noch Hase noch Schwein sind erlaubt, so ist es im 3. Buch Mose, Kapitel 11, festgelegt. Möglicherweise galten Tiere, die zwar Klauen haben, aber nicht wiederkäuen – oder umgekehrt – als mängelbehaftet in der göttlichen Weltordnung. Ähnlich wie bei den Aleviten Hasen und Kaninchen eine „unheilvolle … aus Merkmalen sieben verschiedener Tiere zusammengesetzte Natur“ besitzen. 28. O-Ton Antweiler: was doch interessant ist, dass dann oft Dinge genannt werden, gerade bei der Nahrung genannt werden, die so kategorial dazwischen liegen. Sprecherin: Christoph Antweiler, Professor für Ethnologie an der Uni Bonn. Er glaubt, dass alle Tiere, die sich nicht eindeutig in eine Kategorie einsortieren lassen, misstrauisch beobachtet wurden: 29. O-Ton Antweiler: Also es gibt Echsen, die fliegen können über kurze Distanzen, also das sind einerseits Reptilien, andererseits haben sie eine Eigenschaft, die eigentlich Vögeln zugewiesen wird. Die sind nicht eindeutig, das sind unklare Wesen. Das Schwein ist einerseits so ein Paarhufer ähnlich wie die Pferde, aber es hat keinen Wiederkäuermagen, das ist nicht klar eindeutig kategorisierbar. Und dann entwickeln die Leute eine besondere Aufmerksamkeit und auch Ekel. Sprecherin: 8 Die meisten religiösen Nahrungstabus beziehen sich auf Fleisch: Hindus dürfen kein Rind essen. Bis ins 16. Jahrhundert galt im Christentum der Verzehr von Pferdefleisch als Beweis für Hexerei und teufelsbündlerische Umtriebe. Und sowohl für Juden als auch für Muslime ist Schweinefleisch tabu. Die Erklärungen für diese Tabus sind vielfältig: Man habe die Rinder als Arbeitstiere gebraucht und deshalb nicht schlachten dürfen. Oder: Schweine seien unsaubere Tiere, wälzten sich im Dreck und fräßen ihren eigenen Kot. Aber - auch Hühner und Ziegen fressen ihren Kot. Und die Trichinose, an der man durch den Verzehr von Schweinefleisch erkranken kann, wurde erst im 19. Jahrhundert entdeckt. Rindfleisch hätte dann außerdem auch verboten werden müssen, weil es einen Parasiten enthalten kann, der die tödliche Krankheit Milzbrand hervorruft. 30. O-Ton Ritter: Ich neige dazu, dass es eine Vermischung von mehreren verschiedenen Gründen ist, dass es zu diesen Esstabus kommt. Einer ist, dass es sehr stark mit der Verhinderung von Krankheiten zu tun hat. Dass gerade bei tierischen Lebensmitteln die Gefahr besteht, dass Parasiten sich ausbreiten können. Das ist aber nicht schlüssig für alle Tierarten, deshalb wird es auch überlagert von dieser materiellen ökonomischen Sicht, dass man sagt, Arbeitstiere soll man schützen. Ich würde es nicht auf ein der Theorien beschränken, das ist ne Mischung, was dazu führt, dass bestimmte Tiere tabuisiert werden. Sprecherin: Letztlich ist der Grund für die diversen Speisetabus nicht eindeutig nachzuvollziehen. Sicher ist, dass die Tabus wirken. Und dieser Wirkung kann sich der Angehörige einer bestimmten Esskultur kaum entziehen. 32. O-Ton Jugendliche: Das ist so. Draußen hängst du mit Deutschen ab. Machen die andere Sachen als du machst. Sprecherin: Muslimische Jugendliche in Duisburg. 33. O-Ton Jugendliche: Wie z.B. Schweinefleisch essen. Man ekelt sich vor denen, wenn ich ehrlich bin. Sprecherin: Die Nachbarstämme nannten die Inuit „Eskimos“. Lange dachte man, dies bedeute „Rohfleischesser“, weshalb der Begriff als diskriminierend abgelehnt wurde. Deutsche sind „Krauts“, Italiener „Makkaronis“. Die Briten nennen die Franzosen „the frogs“, weil sie Frösche verzehren, während diese ihre Nachbarn auf der anderen Seite des Kanals „les Rosbifs“ schimpfen. 34. O-Ton Antweiler: Wenn man so guckt, wie grenzen sich wir Gruppen ab, dann fällt häufig der Satz, du isst, was du bist. Sprecherin: 9 Essen, so Ethnologe Christoph Antweiler, ist ein „ethnischer Marker“, er zieht die Grenzen zwischen Gruppen. 35 O-Ton Ritter: Die Tabuisierung und was wir als eklig empfinden ist einem Wandel unterzogen. Sehr schönes Beispiel sind die Innereien, die wir als Delikatesse zum Teil jahrhundertelang gegessen haben. Kutteln, hier im Münsterland Töttchen, ist ein Ragout aus Hirn, aus dem Mark vom Rückgrat, wo man Resteverwertung betrieben hat. Heute haben wir ein gewisses Luxusbenehmen, indem wir bestimmte Teile nicht mehr essen wollen und uns beschränken auf Filetstücke. Obwohl das Tier aus viel mehr besteht. Sprecherin: Ekelschwellen verändern sich im Laufe der Zeit. Auf den öffentlichen Latrinen der Römer ging es ganz gesellig zu. Im Mittelalter wurde der Nachttopf ungestraft auf die Gasse entleert. Heute gelten schon Körperschweiß und Mundgeruch als ekelhaft. Und während früher Euter, Hirn oder Innereien selbstverständlich auf den Tisch kamen, schrecken heute viele vor diesen Speisen zurück. Doch es funktioniert auch umgekehrt: Knoblauch und Chili eroberten die deutschen Küchen erst in den letzten Jahrzehnten. Und lange galt der Verzehr von rohem Fisch in hiesigen Breiten als Inbegriff der Barbarei. 36. O-Ton Ritter: Sushi ist ein sehr schönes Beispiel, wo wir früher in Deutschland auch Ekel empfunden haben. Und heute ist das durchweg akzeptiert und findet sich bis in den Discounter hinein in allen Bereichen und wird als Snack gegessen. Sprecherin: Also können vielleicht auch andere Ekelschranken fallen. 37. O-Ton Kochkurs: Wir fangen ganz harmlos an mit einem Flammkuchen. Dazu brauchen wir frittierte Insekten. Dann haben wir ein Wokgemüse mit Insekten. Dann haben wir als letzten Gang Heuschrecken in Schokoladenmantel und werden das Ganze mit einem Kokoseis servieren. Sprecherin: In vielen Großstädten, wie hier in Bonn, findet man sie mittlerweile im Angebot: Kochkurse mit essbaren Insekten. Frittierte Mehlwürmer, krosse Kakerlaken, Heuschrecken im Teigmantel. 38. O-Ton Ritter: Es ist so, dass wir, wenn wir auf 10 Milliarden Menschen 2050 schauen, einfach die Notwendigkeit haben, uns eine Eiweißstrategie zu überlegen. Sprecherin: Insekten könnten die Proteinlieferanten der Zukunft sein. Die UNO wirbt angesichts einer Weltbevölkerung von bald 10 Milliarden für diese vitaminreiche, mineralstoffhaltige und ökologisch nachhaltige Köstlichkeit. 10 40. O-Töne Teilnehmer Kochkurs: - Es ist ja im Prinzip ein normales Lebewesen. Ich kann ja die Augen zu machen. - Naja man muss sich erst mal überwinden, aber dann ist es echt lecker. - Man müsste den Speck weglassen und mehr Insekten draufmachen. – Da können wir das Fett sparen und haben mehr Eiweiß! Sprecherin: Im europäischen Kulturkreis ist das Essen von Insekten seit dem Untergang des Römischen Reiches verpönt. Das könnte sich zwar prinzipiell wieder ändern, aber nicht jeder ist überzeugt davon, dass in Zukunft panierte Heuschrecken regelmäßig auf unserem Speiseplan stehen werden. 41. O-Ton Antweiler: Insekten werden in manchen Kulturen gegessen, sogar Spinnen werden in Kambodscha präsentiert, aber man muss dazu sagen, das ist sehr selten und meistens gibt’s spezielle Begründungen dafür. Es ist nämlich so, dass die Abscheu gegenüber Insekten, gegenüber Schlangen, die ist schon weltweit stark verbreitet. … Sprecherin: Der Ethnologe Christoph Antweiler hält es für einen Hype, der in Zeiten von Dschungelcamp und anderen Ekel-Reality-Shows um das Insektenessen gemacht wird. 42. O-Ton Antweiler: Wenn Sie die weltweite Speisekarte ansehen, dann sehen Sie, es gibt nicht so viele Länder, wo Insekten gegessen werden. Sprecherin: Zwar finden sich auch in Deutschland alte Kochbücher mit Maikäfersuppe. Doch waren die eher für Notzeiten gedacht und nicht als Delikatesse. Guido Ritter meint, wenn man die Menschen nur geschickt darauf vorbereite, könne man ihnen die Insekten aber durchaus schmackhaft machen. 43. O-Ton Ritter: So dass man wie bei anderen Lebensmitteln auch, wo erst mal ein Ekel da ist, Erfahrungen in die Bevölkerung hineinbringt, so dass es über die Spitzengastronomie kommt. Also man sieht auch, dass viele Spitzengastronomen jetzt schon Experimente mit Insekten in Gerichten machen. Das andere ist, dass, solange ich nicht sehe, was für ein Tier es ist, dann auch die Akzeptanz höher ist, … und dass man es mit Dingen zusammenbringt, die schon akzeptiert sind. D.h. ein Insekt in eine Schokoladenmasse eingearbeitet, … lässt Hürden überwinden, das sind so Ansatzpunkte …. Sprecherin: Sich vor Dingen zu ekeln, die uns krank machen oder gefährlich sein können, ist sinnvoll. Doch der Ekel, der entsteht, weil wir nicht essen wollen, was wir nicht kennen, verbaut uns vielleicht so manches deliziöse Geschmackserlebnis. Meint jedenfalls Guido Ritter: 11 44. O-Ton Ritter: Man kann das trainieren, dass man sich auf das Produkt konzentriert. Und dann verschwinden die Bilder im Hintergrund. So dass ich mittlerweile versuche, alles zu probieren. Weil, sobald man es einmal probiert hat, merkt man, dass es ganz banal ist und dass man solche Produkte dann auch neu entdeckt und dann zum Teil auch lieben lernt. Musikakzent ***** 12
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