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Häslich ein Jahr nach den Protesten | Manuskript
Häslich ein Jahr nach den Protesten
Bericht: Julia Cruschwitz
Jens Opitz lädt immer noch alle zwei Wochen zur Demo. Er war der Anführer der Anti-HeimProteste hier vor anderthalb Jahren.
Exakt: Ist schon jemand da, Herr Opitz?
Jens Opitz: Keine Ahnung, das werden wir gleich sehen.
Damals kamen bis zu 300 Menschen zu seiner Demo. Heute sind es nur noch sechs.
Jens Opitz: Wir machen bloß unsere kleine Runde. Wir stehen auf der Straße, wir sind
gegen die Umvolkungspolitik der Bundeskanzlerin, so. Dort kommen die nicht dran vorbei.
Seit einem Jahr sind Asylbewerber hier in der Alten Schule in Häslich untergebracht.
Momentan 30 Personen aus dem Irak, Syrien, Eritrea, und Russland. Aus Syrien kamen
Touria Nafar, ihr Mann Ahmad Mohamed und die beiden Kinder. Seit neun Monaten
wohnen sie zu viert in diesem einen Zimmer. Sie sind froh, aus Aleppo raus gekommen zu
sein. Auf unserem Laptop schauen wir uns die neuesten Bilder aus ihrer Heimat an.
Ahmad Mohamed:
Das ist ganz in der Nähe, wo wir gewohnt haben. Ich erkenne aber wegen der Ruinen nicht
genau, wo. Wahrscheinlich war da der Gemüsemarkt.
Hier in Sicherheit zu sein ist für sie das Allerwichtigste. Für die Zukunft haben sie ganz
genaue Vorstellungen.
Ahmad Mohamed:
Wir möchten, dass die Kinder hier weiter zur Schule gehen und ich will Arbeit finden. Aber
mein Wunsch ist: Sobald der Krieg zu Ende ist, gehen wir zurück in unsere Heimat.
Alle Kinder aus dem Heim gehen zur Schule. Jeden Tag fahren sie mit dem Bus ins zehn
Kilometer entfernte Kamenz. Die kleine Siban besucht seit kurzem die erste Klasse. Seitdem
ist sie richtig aufgeblüht und zeigt uns und ihrer Mutter Ide Ismail stolz, was sie schon kann:
Exakt: Was heißt denn das hier? Kannst du das schon vorlesen?
Siban: Ja.
Exakt: Was heißt das denn?
Siban: Siban.
Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für den privaten Gebrauch des Empfängers
verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
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Häslich ein Jahr nach den Protesten | Manuskript
Exakt: Das bist du, ne?
Siban: Ja. – freut sich
Ein knappes Jahr lang ging Siban hier in den Gemeinde-Kindergarten. Dort hat sie so gut
Deutsch gelernt, dass sie jetzt in der Schule mithalten kann. Ihre beiden kleinsten
Schwestern sind dagegen schon seit zwölf Monaten ausschließlich hier im Heim, können
noch kein Deutsch. Denn sie gehen nicht in den Kindergarten, obwohl es dort Plätze für sie
gäbe. Doch der Aufwand ist den Eltern – Ide Ismail und ihrem Mann Kheder Mambein aus
dem Irak - zu groß.
Ide Ismail: Es sind zwei Kinder, ich muss ja alle beide tragen.
Kheder Mambein: Der Weg ist so weit. Deswegen haben wir die beiden nicht angemeldet.
Rund 20 Minuten sind es zu Fuß vom Heim zum Kindergarten. Seit sie in Häslich wohnt,
bringt und holt Touria Nafar ihren Sohn Jussef jeden Tag mit dem Fahrrad. Wer unbedingt
will, findet auch eine Lösung. Es kommt immer auf die einzelnen Personen an. Das ist die
Erfahrung der Ehrenamtlichen nach diesem Jahr. Die pensionierte Lehrerin Adelheid Liefke
kennt kein Pardon, wenn ihre Schüler zu spät sind.
Liefke: Guten Morgen! Es ist 10 Uhr! Aber jallah, jallah, jallah!
Seit einem Jahr gibt sie hier ehrenamtlich Deutschunterricht. Die Großstädterin Touria Nafar
kommt schon von Anfang an jede Woche zum Kurs.
Touria Nafar: Ich schlafe, wir schlafen. Liegen: ich liege, wir lingen.
Adelheid Liefke: Liiiiegen!
Touria Nafar: Liegen.
Der Kurs ist besonders wichtig für die arabischen Frauen. Denn keine von ihnen geht in einen
der offiziellen Deutschkurse. Sie sagen, sie müssten sich um die Kinder und den Haushalt
kümmern.
Adelheid Liefke:
Die Frauen sind einfach reingeboren in die Tradition: der Mann wird das schon richten.
Und verstecken sich teilweise hinter dem Mann. Das ist schwer, diese Tradition zu
brechen.
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verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
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Bei Ide Ismail hat sich im vergangenen Jahr kaum etwas getan. Sie verbringt die meiste Zeit
im Heim, geht selten raus. Als Jesidin wurde sie mit ihrer Familie im Irak brutal vom IS
verfolgt, lebte in ständiger Angst. Ein ganzes Jahr lang hat es gedauert, sie zum Deutschkurs
zu motivieren.
Adelheid Liefke:
Ich habe schon mehrmals, wenn sie hier in der Küche war, gesagt: Komm, Ide, Guten Tag!
usw. Dann stand sie mal hier und ist wieder gegangen.
Und dann traute sie sich auf einmal doch. Jetzt gibt Adelheid Liefke ihr Einzelunterricht. Es
macht Ide Ismail großen Spaß. In ihrer Heimat hat sie nur drei Jahre lang die Schule besucht.
Adelheid Leifke: Bitte gib mir den Stift. Gib heißt geben.
Ide Ismail: Ja, geben.
Die Jesiden sind die einzigen, die seit Eröffnung des Heimes hier noch wohnen. Seit über
einem Jahr warten sie auf die Entscheidung ihres Asylverfahrens. Die anderen Häslicher
Flüchtlinge konnten viel schneller in eigene Wohnungen ziehen. Die meisten Menschen im
Dorf stören sich nicht mehr an ihnen, obwohl es immer mal kleinere Konflikte gab. Und die
Ehrenamtlichen geben nicht auf:
Adelheid Liefke:
Ja klar habe ich auch Rückschläge erlebt, wenn sie z.B. nicht zum Unterricht kommen, und
das leichtfertig nehmen. Dann sage ich: Ihr seid hier, deutsche Kultur, pünktlich zur Arbeit
kommen! Da ist teilweise Frust. Wo ich dann sage: Oh, machst Du das? Nein, ich mache
das weiter.
Inzwischen funktionieren auch die offiziellen Strukturen. Ahmad Mohamed lernt jetzt in
einer Maßnahme Grundkenntnisse im Handwerk. In Syrien hat er als Möbellackierer
gearbeitet. Sein Ausbilder Matthias Dunko ist begeistert:
Matthias Dunko
Herr Mohamed ist einer der Besten. Er ist immer pünktlich, er ist immer da. Und deswegen
schätze ich auch die Zukunft für ihn sehr gut ein.
Demnächst hat Ahmad Mohamed sogar Arbeit in Aussicht. Damit wäre er der erste
Asylbewerber aus Häslich mit einem richtigen Job.
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Jens Opitz veranstaltet weiter alle zwei Wochen seine Demo. Obwohl sich im Dorf so gut wie
niemand mehr dafür interessiert.
Jens Opitz: Es kann durchaus passieren, dass wir vielleicht am Ende auch nur mal zweie
sind. Das kann ich ja so nicht vorhersagen, aus dem einfachen Grunde: Ich weiß es nicht.
exakt: Aber Sie würden trotzdem weiter machen, auch wenn Sie bloß zwei sind?
Jens Opitz: Auf jeden Fall.
Familie Mohamed zieht bald in eine Wohnung nach Kamenz. Für sie und alle anderen
Flüchtlinge ist Häslich nur eine Durchgangsstation.
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