20 Jahre Arbeitsschutzgesetz

4/2016
Das Magazin des VDSI – Verband für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz bei der Arbeit
20 Jahre
Arbeitsschutzgesetz
Arbeitgeber und Gewerkschaften ziehen Bilanz 06
10 Achtung Explosionsgefahr Zur Novellierung der Betriebssicherheits- und der Gefahrstoffverordnung | 14 Arbeitsschutz Aktuell Einladung zur Jahreshauptversammlung 2016 | 18 Gefährliches
Sonnenlicht Nordbayerisches Forum befasst sich mit den Gefahren von UV-Licht für Beschäftigte
Titel
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Eine positive Bilanz
mit Luft nach oben
Seit 20 Jahren dient das Arbeitsschutzgesetz als rechtliche Grundlage auf dem Gebiet der betrieblichen Sicherheit und Gesundheit
und regelt die Rechte und Pflichten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied im Deutschen
Gewerkschaftsbund (DGB), und Alexander Gunkel, Mitglied der
Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen
Arbeitgeberverbände (BDA), ziehen Bilanz und geben einen Ausblick, wohin die Reise noch gehen könnte.
Frau Buntenbach und Herr Gunkel,
welche Bilanz ziehen Sie nach 20 Jahren Arbeitsschutzgesetz?
Annelie Buntenbach (DGB): Die Einführung des Arbeitsschutzgesetzes 1996
war eine wichtige Reform auf Basis
der Europäischen ArbeitsschutzrahmenRichtlinie. Das Arbeitsschutzrecht ist
modernisiert und weiterentwickelt worden – von der reinen Unfallverhütung hin
zu einem ganzheitlichen Ansatz. Für die
Gewerkschaften ist das ein Meilenstein.
Das 20-jährige Jubiläum darf jedoch
nicht darüber hinwegtäuschen, dass in
der Umsetzung des betrieblichen Arbeitsschutzes noch erhebliche Defizite
bestehen – insbesondere bei psychischen
Belastungsfaktoren. Wir wollen das Regelwerk deshalb verbindlicher ausgestalten und an die Veränderungen in der
Arbeitswelt anpassen.
Ein zeitgemäßer Arbeitsschutz ist allerdings seitens der Arbeitgeberverbände
stark unter Beschuss. Die BDA versucht
insbesondere die Debatte um die Digitalisierung der Arbeit zu nutzen, um Deregulierungen durchzusetzen. Die Arbeit
der Zukunft braucht eine zeitgemäße
Rechtsetzung.
Alexander Gunkel (BDA): Das Arbeitsschutzgesetz hat sich grundsätzlich bewährt. Seine Konstruktion, sich auf die
Benennung von Grundpflichten und
Schutzzielen zu konzentrieren, ist überzeugend. Es hat sich als richtig erwiesen,
die konkrete Ausgestaltung von Verordnungen, technischen Regeln und den
betrieblichen Experten vor Ort zu überlassen. Die positive Entwicklung im Arbeitsschutz zeigt, dass die Konstruktion des
Regelwerks insgesamt stimmt. Es ist ein
großer Erfolg, dass sich die Zahl der Arbeitsunfälle in den letzten 20 Jahren von
einem ohnehin bereits geringen Niveau
halbiert hat.
Welche Auswirkungen wird Ihrer
Meinung nach das Arbeiten 4.0 auf
die betriebliche Arbeitssicherheit
und Gesundheit und damit auch auf
das Arbeitsschutzgesetz haben?
Annelie Buntenbach (DGB): Die Digitalisierung wird die Arbeitswelt in den
kommenden Jahren auf fundamentale
Weise verändern. Das bietet Chancen,
insbesondere in der Produktion (Industrie
4.0). Beschäftigte können zum Beispiel
durch neuartige Robotik von schweren
körperlichen Arbeiten oder ungünstigen
Körperhaltungen entlastet werden. „3DTätigkeiten“ – dirty, dangerous and
demanding – können automatisiert werden. Auch können digitale Assistenzsysteme die Arbeit erleichtern.
Die Interaktion von Menschen mit intelligenten Maschinen und digitalen
Arbeitsmitteln wirft aber neue Fragen
hinsichtlich der Arbeitsgestaltung, des
Datenschutzes oder der Qualifizierung
auf. Hier haben wir die Chance, die Veränderungsprozesse präventiv für eine
Humanisierung zu nutzen. Gleichzeitig
muss der Arbeitsschutz weiterentwickelt
werden. Die Digitalisierung führt vor allem zu einer tiefgreifenden – externen
wie internen – Flexibilisierung der Arbeit.
Hier sind die Entwicklungen bislang kritisch: wir sehen schon seit Jahren eine
Entgrenzung der Arbeitszeiten, einen zunehmenden Leistungsdruck durch unrealistische Zielvorgaben und einen Boom an
psychischen Erkrankungen.
Mit Arbeit 4.0 kommen noch zwei wesentliche Faktoren dazu: Zum einen
ermöglicht die Datentransparenz Leistungsvergleiche und Verhaltenskontrollen, denn die Arbeit wird zum Beispiel
durch Cloud Computing, Crowdwork
oder GPS-Ortung sichtbar. Beschäftigte
können so – nicht zuletzt bei Formen
indirekter Steuerung schnell in ein System ‚permanenter Bewährung‘ geraten.
Darüber hinaus gibt es Überwachungssoftware, die längst in Unternehmen eingesetzt wird, um die Beschäftigten zu
‚optimieren‘. Datenschutz und Arbeitsschutz müssen also enger zusammengedacht werden. Zum anderen wird die
Flexibilisierung von Arbeitszeiten, Ar- 씰씰
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씰씰 beitsorten und auch Arbeitsverhältnissen
weiter zunehmen. Sowohl die digitale
mobile Arbeit oder Home Office als
auch Plattformarbeit brauchen einen
Ordnungsrahmen, der die menschengerechte Gestaltung der Arbeit zum Ziel
hat. Arbeit 4.0 kann neue Freiräume für
Beschäftigte ermöglichen, doch dazu
braucht es eine Arbeitsgestaltung unter
Beteiligung der Beschäftigten und eine
Anpassung des regulativen Rechtsrahmens.
Alexander Gunkel (BDA): Auch in Zeiten von Digitalisierung und Arbeiten 4.0
ist das bestehende Arbeitsschutzsystem
gut aufgestellt, um die Arbeitswelt sicher
und gesund gestalten zu können. Das
Arbeitsschutzgesetz ist ausdrücklich auf
eine ständige Verbesserung von Sicherheit und Gesundheitsschutz und sich
ändernde Gegebenheiten ausgelegt. Es
gewährleistet damit, dass künftige Veränderungen in der Arbeitswelt zu den
gebotenen Anpassungen im Bereich Arbeitsschutz führen. Die bestehenden
Regeln sind damit flexibel genug und
werden neuen Arbeitsformen und Arbeitsbedingungen gerecht.
Die zu erwartenden Veränderungen in
der Arbeitswelt bieten zudem viele Chancen für Sicherheit und Gesundheitsschutz. Die technische Entwicklung
reduziert oder beseitigt viele Gefährdungen, die Unfallrisiken sinken: Intelligente
Schutzkleidung warnt vor Gefahren;
durch ferngesteuerte Systeme können
Personen von gefährlichen Umgebungen
getrennt werden; Roboter übernehmen
günstigen Tätigkeiten zu entlasten. Mit
Blick auf die von vielen gewünschte größere Flexibilität in Hinblick auf Arbeitszeit
und -ort werden die Anforderungen bei
Eigenverantwortung und Gesundheitskompetenz der Beschäftigten steigen:
Beim Arbeiten am Notebook im Café
kann der Arbeitgeber nicht auf die Arbeitsumgebung Einfluss nehmen. Direkte
Kontaktmöglichkeiten zu Vorgesetzten
Wir sind mit dem Instrument
der Gefährdungsbeurteilung
auch für die Arbeit 4.0 gut aufgeAnnelie Buntenbach (DBG)
stellt“
sowie Kolleginnen und Kollegen können
abnehmen und müssen bewusster gepflegt oder ergänzt werden. Beim
souveränen Arbeiten gewinnt auch die
Fähigkeit zum eigenverantwortlichen
Abschalten und Erholen an Bedeutung.
Klare Absprachen im Betrieb können dabei helfen.
Und welche Konsequenzen resultieren daraus für die Gefährdungsbeurteilung?
Annelie Buntenbach (DGB): Wir sind
mit dem Instrument der Gefährdungsbeurteilung auch für Arbeit 4.0 gut aufgestellt. Entscheidend ist, dass sie ange-
Auch in Zeiten von Digitalisierung und Arbeiten 4.0 ist das
bestehende Arbeitsschutzsystem gut
Alexander Gunkel (BDA)
aufgestellt.
riskante Tätigkeiten. Das bringt einen
echten Fortschritt in der Arbeitswelt und
einen erheblichen Mehrwert für Unternehmen wie Beschäftigte. Auch Beschäftigte mit vorübergehenden oder chronischen Einschränkungen – wie sie im Zuge
alternder Belegschaften häufiger vorkommen – können bessere und
wirkungsvollere Unterstützung erhalten.
Zusätzlich kann etwa die Mensch-Roboter-Kollaboration wesentlich dazu beitragen, Menschen von monotonen und unVDSIaktuell 4.2016
reagiert werden. Der geltende Rechtsrahmen bietet alle Möglichkeiten, um innerhalb eines Betriebs potenzielle Gefährdungen für einzelne Tätigkeiten zu
ermitteln und die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Jede weitere Regulierung – etwa zur Stressvermeidung oder
zur Einschränkung der Erreichbarkeit –
würde nur mehr Bürokratie, Handlungsund Rechtsunsicherheit bringen. Wichtig
wandt wird, um den Arbeitsschutz ausreichend zur Geltung zu bringen. Das Problem ist, dass nur jeder sechste Betrieb die
Gefährdungsbeurteilung als kontinuierlichen Prozess umsetzt. Insbesondere in
Betrieben ohne Betriebs- und Personalrat
ist eine umfassende, ganzheitliche Gefährdungsbeurteilung ein Fremdwort.
Alexander Gunkel (BDA): Die Gefährdungsbeurteilung wird das Kernelement
des Arbeitsschutzes bleiben. Mit ihr kann
zeitnah und flexibel auf Veränderungen
ist, dass die Betriebe noch besser mit
praktikablen Handlungsleitfäden zur
Durchführung der Gefährdungsbeurteilung unterstützt werden.
Wie sieht abschließend Ihre Prognose
für das Arbeitsschutzgesetz aus?
Annelie Buntenbach (DGB): Für wirksamen Arbeits- und Gesundheitsschutz
bedarf es der rechtlichen Erfassung neuer
Risiken sowie eine bessere Kooperationsbereitschaft der Arbeitgeber. Ein großes
Problem ist die Zunahme psychischer
Erkrankungen. Die Fehltage aufgrund
psychischer Diagnosen sind seit dem Inkrafttreten des Arbeitsschutzgesetzes vor
20 Jahren bei allen Krankenkassen um
bis zu 160% gestiegen. Daher brauchen
wir eine umfassende und vor allem verbindliche Anti-Stress-Politik. Eine AntiStress-Verordnung, die für mehr Klarheit
in Bezug auf das betriebliche Handeln
sorgt, gehört ebenso dazu wie wirksame
Sanktionen bei Verstößen im Arbeitsschutzrecht. Darüber hinaus muss die
Kontrollfunktion der Aufsichtsbehörden
gestärkt werden, mit denen wirksam gegen Missbrauch vorgegangen werden.
Nicht zuletzt brauchen wir eine Stärkung
der Mitbestimmung. Wo starke Interessenvertretungen aktiv sind, ist das Arbeitsschutzniveau höher.
Alexander Gunkel (BDA): Das Arbeitsschutzgesetz bleibt auch in Zukunft der
richtige Rahmen. Mit ihm kann gut auf
Veränderungen in der Arbeitswelt reagiert werden. Es ist eine verlässliche
Rechtsgrundlage für die Sicherheit und
Gesundheit der Beschäftigten.
Die Interviews führte Anja Merkel
Fotos: Fotolia, vishnukumar; BDA; DGB, Simone M. Neuman
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