Das Steinzeitmärchen „Rulaman“

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR 2 Wissen
Das Steinzeitmärchen „Rulaman“
Ein Jugendbuch zwischen Poesie und Wissenschaft
Von Pia Fruth
Sendung: Donnerstag, 18.09.2014, 08.30 – 09.00 Uhr, SWR 2 Wissen
Wiederholung: Donnerstag, 18.08.2016
Redaktion: Anja Brockert
Regie: Nicole Paulsen
Produktion: SWR 2014
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Zitator 1:
Es war vor tausend und abertausend Jahren. Die Eiszeit war an ihrem Ende, die
Erde wieder wärmer, die Sonne mächtiger geworden.
AT 01 Waldstimmung 1
MU 01 Rhythmusinstrumente solo (Paläo Swing)
Zitator 1:
In dieser Zeit war es, da sehen wir im Geiste an einem warmen FrühsommerNachmittag auf dem freien, sonnigen Platz vor dem Eingang einer unserer
Albhöhlen, die jetzt einsam und verlassen im Waldesdüster verborgen liegt, ein
lustiges munteres Treiben. Nackte gelbbraune Kinder mit schwarzen struppigen
Haaren kollern auf dem weichen Grasboden herum. Auf einem jungen Bären reitet
ein mutwilliger Knabe. Dort liegt ein zahmer Wolf. Daneben ein etwa vierzehnjähriger
Junge, der ihm Kopf und Nacken streichelt. Im Hintergrund, näher bei der Höhle
kauert mit untergeschlagenen Beinen eine Anzahl Frauen um einen großen
Aschehaufen, aus dem hin und wieder ein Flämmchen empor züngelt.
MU 02 Morgenstimmung Flöte (Schwanengesang)
OT 01 (Conard)
Bis heute gibt es viele Menschen, die Rulaman kennen und lesen. Man kann es auch
mit Freude lesen. Und ich finde, die Verbreitung von Informationen über die
Steinzeitarchäologie und ein Stück weit über menschliche Evolution - obwohl das
nicht wirklich im engeren Sinne im Vordergrund steht – ist ein enormer Verdienst.
Insbesondere wenn man akzeptiert, dass das Buch am Ende des Tages ein Roman
ist und keine wissenschaftliche Präsentation von Grabungsergebnissen. (26 sec.)
Ansage:
Das Steinzeitmärchen "Rulaman". Ein Jugendbuch zwischen Poesie und
Wissenschaft. Eine Sendung von Pia Fruth.
OT 02 (Wertheimer)
Rulaman war nun mal im Kontext einer spätromantischen, patriotischen und ein
bisschen mythensüchtigen Umgebung aufgewachsen und hat da ein gutes Mittelmaß
zwischen Aura und Realität bewahrt. Absolut. Aber jetzt sind andere Bedingungen da
sozusagen. Dieser Spielraum der Deutungen ist enger geworden einfach. Nicht
breiter.
MU 03: Rhythmus mit Flöte (Thoglodytes)
Zitator 1:
Dort unter der Eibe erhebt sich keuchend und ächzend ein altes Weib. Der weit
vorwärts geneigte Kopf ist mit langen schneeweißen Haaren bedeckt, die beinahe bis
zum Boden herabfallen. Die mageren, braunen, runzligen Arme sind auf Stöcke
gestützt. Die Augen sind tief eingefallen und scheinen fast ganz geschlossen, so
dass man sie für blind halten könnte. Über die Schultern hängt ein weißes Wolfsfell.
Es ist die alte Parre, die Urahne der hier versammelten Familie. Langsam tappt sie
über den freien Platz vor der Höhle, wo der steile Fels jäh ins Tal abfällt.
2
Autorin:
Die Geschichte des Steinzeitjungen Rulaman, seinem Vater „Rul“, der alten Parre
und einer Sippe von steinzeitlichen Jägern und Sammlern erscheint im Frühling 1878
auf dem deutschen Buchmarkt. Sie entfesselt einen wahren Begeisterungssturm
unter den Lesern und macht ihren bis dahin völlig unbekannten Verfasser, den
Uracher Theologen und Naturforscher David Friedrich Weinland, praktisch über
Nacht berühmt. Bislang ist er nur als Wissenschaftler in Erscheinung getreten, mit
Berichten über seine Forschungsreisen zu den Kanadischen Indianern und den
Eingeborenen der tropischen Regenwälder. Einige Jahre war er auch Direktor des
Frankfurter Zoos. „Rulaman“ ist Weinlands erstes literarisches Werk. Der
Jugendroman, den er eigentlich für seine Kinder geschrieben hat, wird schnell in
sieben Sprachen übersetzt und tritt einen Siegeszug durch ganz Europa und sogar
nach Übersee an. Im Vorwort zur ersten Auflage schreibt Weinland:
Zitator 2:
Die wissenschaftliche Arbeit hat ihre strengen Grenzen, und es arbeitet sich leichter
innerhalb fester Grenzen. Man steht auf sicherem Grunde, den man auch gegen die
Angriffe der Kritik leicht verteidigen kann, wenn man nur treu gearbeitet hat. Bei der
vorliegenden Aufgabe aber war der Raum frei, fast zu frei, und vor allem die Auswahl
schwierig. Leitender Grundsatz war, von den festen beobachteten Tatsachen
auszugehen, nichts naturwissenschaftlich Unmögliches zu bieten, und auch bei der
Fiktion alles Unwahrscheinliche wegzulassen.
Autorin:
Weinland erzählt von wilden Jagden, von Kämpfen, von Freundschaften und Liebe.
Ein umfangreicher Anhang erläutert detailliert archäologische Forschungsergebnisse
und gibt dem Roman einen wissenschaftlichen Anstrich. Ebenso wie die vielen
historisierenden Bezeichnungen, die Weinland für die steinzeitliche Topographie, die
Tier- und Pflanzenwelt entwickelt. Er entlehnt die meisten dieser künstlichen
Steinzeitwörter verschiedenen realen, fremdklingenden Sprachen: zum Beispiel dem
Gälischen, Hebräischen, Lappländischen, Polnischen oder Tatarischen.
Die Leipziger Verlagsanstalt stattet das Buch mit Zeichnungen von Knochen,
Werkzeugen und mit naturalistischen Radierungen aus. Und so trifft Weinlands
prächtig illustrierte, pseudo-historische und rührselige Steinzeitgeschichte vom edlen
Wilden haargenau den Nerv des ausgehenden 19. Jahrhunderts, erklärt der Tübinger
Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer.
OT 03 (Wertheimer)
Erklärbar ist das sicherlich dadurch, dass eine Geschichte, deren Reste und
Monumente viele kennen, plötzlich einen Inhalt, einen Kontext, Namen, Gefühle
bekommt, und auch noch in einem gewissen Ethos und einer Moral in einem
gewissen Sinngefüge wie eine Sage, eine Legende aus ferner alter Zeit in dem Stil
das erzählt. Das heimelt an im besten Sinne. Das ist kein befremdendes Buch.
Autorin:
Einige Jahre vor dem Erscheinen des „Rulaman“ haben Steinbrucharbeiter das erste
Skelett eines Urmenschen im Neandertal bei Düsseldorf entdeckt. Im November
1859 hatte Charles Darwin sein evolutionsbiologisches Werk über die Entstehung der
Arten veröffentlicht. Am Zürichsee sind im Winter 1853/54 die ersten
Pfahlbausiedlungen entdeckt worden. Der Geologe Oscar Fraas ist ein Freund
Weinlands und in den Höhlen der Schwäbischen Alb unterwegs. Er gräbt dort
3
Knochen von Höhlenbär, Rentier, Mammut und Wildpferd aus. Außerdem fördert er
steinzeitliche Werkzeuge zutage. Das alles facht die Phantasie der Menschen an und
liefert Weinland die wissenschaftliche Grundlage für seinen Erfolgsroman, erklärt
Nicholas Conard, Professor für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Tübingen.
OT 04 (Conard)
Ich denke, ein Hauptverdienst von Weinland ist, dass er diese Informationen in einer
Weise präsentiert hat, dass sie für einen normalen Menschen faszinierend waren.
Auch dass seine Erzählung sehr naturgeschichtlich nahe ist. Die ganze Tierwelt der
Eiszeit kommt vor und die ganzen Steinwerkzeuge und Lebensformen der damaligen
Jäger und Sammler. Es gab kein Radio, es gab kein Fernsehen. Es gab nur Bücher
und Vorträge. Und ich stelle mir vor, dass auch lebhafte Diskussionen daraus
entstanden sind, und dass sich die Leute auch ziemlich stark damit
auseinandergesetzt haben.
MU 04 Leise Flöte mit Trommeln und Rätschen (Indianer)
Zitator 2:
Wir haben Urkunden, so deutlich geschrieben wie die Bücher und vielleicht
untrüglicher als sie. Das sind die merkwürdig bearbeiteten Knochen und
Rentiergeweihe, Feuersteine und Tonscherben, die Waffen und Gerätschaften der
Höhlenmenschen, die wir im Lehm unserer Höhlen finden.
OT 18 (Wertheimer)
Das hat jemand in der Hand gehabt, das hat jemand gemacht, es hat jemand zu
etwas verwendet. Und der Mensch kann nicht anders als sich diese Fragen zu stellen
und wissen zu wollen und sich rekonstruktiv einbilden zu wollen, was es jetzt konkret
bedeutet hat, wenn jemand so ein Objekt mit klammen Fingern bei fast Null Grad
geschnitzt hat.
Zitator 2:
Jahrtausendelang mussten diese Reste da begraben liegen, um endlich der Jetztzeit,
die sie zu entziffern versteht, lautes Zeugnis abzulegen über das Leben und Treiben
jener ersten Bewohner unseres Erdteils. Von diesem uralten Volk und seinem
Untergang im Kampf mit den neuen Einwanderern habe ich euch eine merkwürdige
Geschichte zu erzählen.
AT 02 Straße Bad Urach leise
AT 03 Bach leise
Autorin:
David Friedrich Weinlands Geschichte vom Häuptlingssohn Rulaman beginnt an
einer weit vorspringenden, zerfurchten Felsnase beim heutigen Bad UrachWittlingen. Ein Lehrpfad, der „Rulamanweg“, führt am Fuß des imposanten
Albtrauffelsens hinein in den Wald. Links des Wegs schlängelt sich ein Bächlein,
versickert hier und da im porösen Gestein, um kurz darauf wieder hervor zu gurgeln.
Rechts ragt die fast senkrechte Kalksteinwand himmelhoch über den Wald. Vom
Wind gebeugte Bäume krallen sich an die wenigen schmalen Felsplateaus.
Der Stadtführer und Hobbyhistoriker Otto Rauscher ist in Wittlingen geboren. Schon
als kleiner Junge erkundete er die realen Schauplätze von Weinlands
4
Steinzeitgeschichte: die Schillerhöhle zum Beispiel, die im Roman „Tulka-Höhle“
heißt, nach dem tatarischen Wort Tulka für Fuchs. Oder das Steffesloch, Rulamans
„Staffahöhle“.
OT 05 (Rauscher)
Ja, wir hören ja im Hintergrund den Verkehr von der B 465. Und wir gehen jetzt rein
in das Hörental. Das führt rauf nach Wittlingen. Wir sagen hier auch dazu "Die
Schlucht" oder "Die Wolfsschlucht". Und da gibt es einen Abzweig, wo man dann rauf
kann zu der ehemaligen Tulkahöhle, ja wie man auch sagt, zu der Schillerhöhle. Und
gleich nebendran ist dann auch das Hofgut Hohenwittlingen, wo der David Friedrich
Weinland gewohnt hat.
AT 04 Schritte auf Kies mit Bach
Autorin:
Mit jedem Schritt führt der Rulaman-Lehrpfad ein Jahrtausend in der
Menschheitsgeschichte zurück, insgesamt 500 000 Jahre. Fußabdrücke in einer
Zementplatte veranschaulichen die Entstehung des aufrechten Ganges, Infotafeln
am Wegrand zeigen die Entwicklung der Erdbevölkerung und die wichtigsten
archäologischen Funde der letzten Jahre. In einer Metallkiste liegen
Feuersteinmergel und ein spitzer Hammer.
AT 05 Metallkiste auf
OT 04 (Rauscher)
In Wittlingen hat man auch viele Feuersteine gefunden. Und da sind wir früher mit
dem Lehrer hingegangen und haben so Steine gesucht. Und dann konnte man sich
das vorstellen: Ja, das waren so Pfeilspitzen, hat man als Pfeilspitzen oder Äxte
verwenden können. Und das war halt früher sehr spannend, wenn man das gemacht
hat.
AT 05 Metallkiste zu
OT 05 (Rauscher)
Früher war‘s also so, dass man sagte, in jedem Haus muss es drei Bücher geben:
die Bibel, das Sparbuch und den Rulaman. Und in der Schule hat es dazu gehört,
dass man Geschichten erzählen musste oder aufschreiben vom Rulaman.
MU 05: Flöte solo (Schwanengesang)
Zitator 1:
Es war Mitternacht geworden, eine sternlose Nacht. Düsterer Ernst brütete über den
Männern vor der Tulka, deren gelbbraune Gestalten hin und wieder vom Aufflackern
eines Spans im gegenüberliegenden Herdfeuer grell erleuchtet wurden. Schweigend
erhoben sie sich jetzt. Einer nach dem anderen schritt leise hinein in den finsteren
Raum zur Ruhe.
Autorin:
Die Vorräte sind knapp geworden bei den „Aimats“. So nennt Weinland Rulamans
Sippe, nach dem lappländischen Wort für „Mensch“. Die Jäger haben nur sehr wenig
Beute gemacht, so dass sie schon wenig später wieder zur Jagd aufbrechen
5
müssen. Rulaman, der Häuptlingssohn, darf sie begleiten, um seinen Mut unter
Beweis stellen zu können. Wenig später ist es soweit. Rulamans Vater Rul entdeckt
in der Wolfsschlucht die Spur eines riesigen Höhlenlöwen. Er macht sich mit einigen
seiner Männer auf die Jagd nach dem „Burria“. Rulaman bleibt in der Obhut der
übrigen Jäger zurück.
MU 06 Trommeln solo (Schamane)
Zitator 1:
Da plötzlich hörte man ein donnerähnliches Gebrüll, das schauerlich aus der
Waldschlucht herauftönte, und gleich darauf den herzerschütternden Angstschrei
eines Menschen. „Mein Vater, mein Vater!“ schrie Rulaman erschreckt, ergriff
Steinaxt und Bogen und rannte hinunter in die Schlucht. Schon nach wenigen
Schritten sah er links vom Bach am Fuß einer hohen, senkrechten Felswand das
Ungetüm, mit Pfeilen bespickt, aber noch fast aufrechtstehend, und unter seinen
Vordertatzen einen Mann, regungslos, wie tot. „Rulaba, Rulaba!“ schrie und
schluchzte der Knabe, und dabei schlug er auch schon wütend in wahnsinniger
Verzweiflung mit seiner kleinen Feueraxt von der rechten Seite her nach den
Schläfen des Tieres, die er eben erreichen konnte, denn so hoch war das
Ungeheuer. Brummend schüttelte dieses seinen buschigen Kopf. Als der brave
Junge nicht nachließ, drehte es sich plötzlich um und hieb nach ihm mit der breiten
Tatze, wie um eine Fliege abzuwehren. Bei der Bewegung des Tieres war der alte
Rul, auf dessen Brust die rechte Pranke des Löwen gestanden hatte, frei geworden.
Im Nu raffte er sich auf. Im gleichen Augenblick sauste schwirrend ein Pfeil vom
Baum herab, dem Löwen in den Hals. Er brüllte fürchterlich, zitterte am ganzen Leib,
ein Blutstrom stürzte aus seinem Rachen und er sank röchelnd in die Knie.
MU 07 Sehr schnelle Trommel mit Schwirrholz (Indianer Ende/Troglodytes)
OT 06 (Conard)
Ich finde es ausgesprochen unwahrscheinlich, dass ein Paläolithiker einen frontalen
Kampf mit einem Löwen sucht. Dennoch wissen wir, dass mit einer relativ einfachen
Technik ein Massai einen Löwen töten kann. Ich sage nicht, dass das unmöglich ist.
Aber ich denke, im Großen und Ganzen war das Leben in der Eiszeit schon
gekennzeichnet durch Risikovermeidung. Man kann nicht jeden Tag extrem
gefährliche Herausforderungen suchen. Man hat überwiegend Pferde und Rentiere
gejagt. Aber ich kann nicht ausschließen, dass es direkte Konflikte hin und wieder
gab.
Autorin:
Als die Aimat-Männer mit dem Löwenschädel als Trophäe in die Tulka-Höhle
zurückkehren, berichten Späher, dass sie hellhäutige Menschen mit zahmen Wölfen
und Pferden jenseits des Flusses gesehen haben. Sie tragen Schmuck aus Kupfer,
aus leuchtendem „Sonnenstein“, ihre Kleider sind bunt, ihre Haare glänzend und
lockig. Im Gegensatz zu den naiven Aimats, die im Einklang mit der Natur leben und
keine echten Hierarchien kennen, errichten die Eindringlinge Zwingburgen, verlangen
Frondienste, treiben Handel mit Geld, lügen und stehlen. Die alte Parre hat dann
eine Vision: ihre eigene Sippe wird schon bald von diesen Fremden vernichtet. Und
wirklich geraten die Aimats am Ende des Buches in einen heimtückischen, tödlichen
Hinterhalt der Fremden. David Friedrich Weinland nennt sie „Kalats“ - Kelten, was
6
natürlich wissenschaftlich nicht haltbar ist. Menschen aus Steinzeit und Bronzezeit
sind einander niemals begegnet. Ur-und Frühgeschichtler Nicholas Conard:
OT 07 (Conard)
Da werden Sachen, die über viele zehntausend Jahre geschehen sind, komprimiert
auf ein einziges Menschenleben. Und natürlich ist das reine Fiktion. Alle anderen
Betrachtungsweisen wären vollkommen sinnlos. Und deshalb sehe ich das auch eher
als eine Erzählung mit archäologischem Hintergrund und viel weniger als eine
wissenschaftliche Abhandlung von unserem Wissensstand über archäologische und
evolutionäre Themen.
OT 08 (Wertheimer)
Eines ist die Realität der Fakten, der Objekte und der Dinge. Ein Zweites ist die
Realität der Texte, die die Geschichten erzählen. Wenn Troja keine Ilias, keine
Odyssee über sich hätte, keinen Text, der daraus so etwas Besonderes macht, wäre
das ein vollständig bedeutungsloser, mittelmäßiger Trümmerhaufen, in dem man
nicht sehr viel gefunden hat. Mit der Geschichte im Hintergrund bekommt es eine
Dignität, die es zum abendländischen Mythos werden lässt. Das heißt, Texte haben
schon ein großes Potential an Verwandlungskraft und Realitätshaltigkeit.
AT 06 Wandern mit Stock bergauf, Vogelgezwitscher
Autorin:
Steil zieht sich ein schlüpfriger Fußpfad den Felsen hinauf in Richtung Schillerhöhle.
- oder Tulka-Höhle, wie Weinland sie im Roman nennt. Das graue Karstgestein ist
durchzogen von Furchen, Rissen, Löchern. Das Blätterdach der Bäume so dicht,
dass man den Himmel nicht sehen kann. Hier schickte Weinland seinen Rulaman auf
die Jagd, ließ Kalats und Aimats miteinander kämpfen. Wegen eines Halsleidens
hatte sich der Wissenschaftler aus dem Berufsleben zurückgezogen und lebte mit
seiner Familie auf einem herrschaftlichen Hofgut, gleich neben der zerfallenen
Festung Hohenwittlingen. Von hier aus erkundete der passionierte Naturforscher mit
seinen Kindern die wilden Höhlen der Uracher Alb, Wasserfälle, Blumen, Kräuter,
Sträucher, Insekten.
OT 10 (Rauscher)
Er hat Theologie studiert. Und er hat als junger Mensch immer schon einen Trieb,
einen Hang gehabt zu den Naturwissenschaften. Und das hat er dann nach dem
Theologiestudium auch studiert. Er hat also ein naturwissenschaftliches Studium
angehängt. Er hat sich auch mit der Darwinschen Lehre auseinandergesetzt, also mit
der Urzeugung, mit dem Urknall. Aber er hat gewusst, dass die Wissenschaft und
das Wissen der Menschen irgendwo eine Grenze hat. Und er hat auch gesagt: "Es
reicht nicht, dass man Gott kennt, man muss auch dran glauben." Er war also nicht
nur Wissenschaftler. Er war auch ein guter Christ.
AT 07 Steine kollern:
Autorin:
Der schmale Wanderweg windet sich in einer letzten Aufwärtskehre auf ein
Felsplateau vor der Schillerhöhle, der Wohnhöhle Rulamans und seiner Sippe.
Am einen Ende des kleinen Plateaus geht es senkrecht in die Tiefe, am anderen
Ende öffnet ein steinerner Gang den Weg in den Felsen hinein.
7
AT 08 Höhle
Autorin:
Hinter der Vorhalle versperrt ein mächtiger Felsblock den Weg. Nur ein schmaler
Spalt bleibt rechts und links frei. Ein erwachsener Mensch muss sich seitwärts
gehend hindurch zwängen und eine starke Lampe mitnehmen, wenn er in Rulamans
Reich vordringen möchte.
Zitator 1:
Der Gang wurde enger und enger und dabei höher. Er wendete sich rechts, dann
wieder links, und erst nach etwa hundert Schritten verbreiterte er sich auf einmal wie
zu einer großen Halle. Hier war es schon ganz finster, und hier war die eigentliche
Niederlassung der Bewohner, wo sie besonders von allen Unbilden der Witterung
geschützt waren.
MU 08 Flöte solo II
Autorin:
Fast 250 Meter weit gräbt sich der Gang in den Felsen hinein. Nur die Hälfte davon
ist heute begehbar. Von den Wänden tröpfeln Wasserfäden, sammeln sich in Pfützen
und steinernen Becken auf dem Boden.
Zitator 1:
Überall in den Felsspalten der Wohnungshalle, etwa mannshoch vom Boden, waren
kürzere und längere hölzerne Zapfen und Haken eingesteckt. An den einen hingen
Bogen und wohlgefüllte Pfeilköcher, letztere aus Tierfellen zusammengenäht oder
aus Lindenbast geflochten; an den anderen Steilbeile und Speere; wieder an
anderen waren die langen Unterkiefer der Höhlenbären mit Hilfe eines kleinen
Riemens, der durch ein Loch gezogen wurde, befestigt. Das gab treffliche
Spitzhämmer zum Aufhacken der Markknochen, indem der starke Eckzahn die
Spitze bildete.
OT 11 (Conard)
In den Wintermonaten und kalten Jahreszeiten war es in der Eiszeit natürlich
wesentlich kälter als heute. Die Klimaverhältnisse waren nicht stabil. Selbst bei nicht
den kältesten Phasen hatte man vielleicht fünfzehn Grad im Schnitt kälter als heute.
Und da muss man sich schon im Klaren sein, dass eine verhältnismäßig warme
Höhle im Winter für die damaligen Menschen sehr attraktiv war.
Zitator 1:
Ein Bündel Kienspäne war in der Mitte der Halle zwischen einigen schweren Steinen
aufgerichtet. Diese Fackel glimmte und flackerte Tag und Nacht als ewiges Feuer.
Die Beleuchtung war spärlich, doch ließ sie, wenn man einmal daran gewohnt war,
alles ziemlich deutlich erkennen. Die Lichtwirkungen an den zerrissenen und
vielgestaltigen Wänden und an dem mit Tropfstein bedeckten Dach der Höhle waren
höchst malerisch und erzeugten einen ewigen Wechsel von Licht- und
Schattengebilden.
OT 12 (Conard)
8
Und vieles spricht dafür, dass die Höhle überwiegend in den kälteren Monaten
benutzt wurde. Vielleicht nicht ausschließlich. Und - naja - ich finde "Höhlenmensch"
vielleicht nicht schmeichelhaft, aber völlig daneben ist es auch nicht.
Zitator 1:
Der beständige Rauch, der nach dem Ausgang der Höhle abziehen musste, war
schlimm für die Augen, und Augenleiden waren bei ihnen eine häufige und
schmerzhafte Krankheit; daher rührte wohl auch die Gewohnheit der Aimats, die
Lider halb zu schließen. Dies machte ihren Gesichtsausdruck, der sonst lebhaft und
nicht unangenehm war, etwas blöde.
OT 13 (Conard)
Heutzutage natürlich passt man sehr stark auf, wenn man lebende Menschen
vergleicht mit ausgestorbenen Menschenarten. Heutzutage würde man aus
politischen Gründen sicherlich so etwas vermeiden. Heutzutage geht man davon aus,
dass alle Menschen grundsätzlich gleich sind und gleichwertig sind. Die ganze
demokratische Lebensform und das politische System hängt davon ab. Aber ich
denke, was Weinland damals gemacht hat, war vertretbar.
Autorin:
Jahrzehntelang verschlangen Jugendliche und Erwachsene von Finnland bis
Brasilien Weinlands „Rulaman“ mit Begeisterung. Vor allem auf Menschen, die wie
Otto Rauscher in der Nähe der Original-Schauplätze aufgewachsen sind, übte das
Buch eine ungeheure Faszination aus.
OT 15 (Rauscher)
In den Geschichten geht es ja immer um den Selbsterhaltungstrieb, kann man sagen,
dass man Nahrung besorgt. Immer sind die Geschichten mit der Jagd verbunden.
Und das hat einen schon als Junge sehr arg bewegt.
Autorin:
Spannende Jagdszenen, romantische Naturschilderungen, der Kampf zwischen Gut
und Böse – dieses Erfolgsmuster kennt man bereits aus den im 19. Jahrhundert
ebenfalls sehr beliebten Indianer-Romanen. Neben den Winnetou- und den
Lederstrumpf-Romanen stand der Rulaman darum – genau wie Robinson Crusoe beinahe in jedem Bücherregal.
OT 16 (Wertheimer):
Zum anderen waren historische und historisierende Romane auf den Spuren Scotts
und anderer das Erfolgsgenre schlechthin. Das heißt ein historischer Roman über
eine vorhistorische Zeit durfte schon mit einem gewissen Interesse rechnen. Es hat
offenbar die Bedürfnisse und Sehnsüchte vieler Leser - und zwar nicht nur regionaler
Leser - nach Deutung der Herkunft stark erfüllt. Nicht bedient, sage ich, sondern
erfüllt.
Erzählerin:
Der „Rulaman“ hätte wohl tatsächlich das Zeug zur Weltliteratur gehabt. Die
politischen Umstände in Europa allerdings, der völkische Nationalismus zu Beginn
des 20. Jahrhunderts und schließlich der Rassenwahn der Nationalsozialisten,
hinterließen auch in der Lesart von Weinlands Buch ihre Spuren. Kritiker des
Rulaman wollen versteckten Nationalismus, Heimattümelei und eine Verklärung des
9
Germanentums erkennen können. Und in der Tat lässt Weinland die alte Parre
vorhersagen, dass der Niedergang der edlen Wilden eines Tages von den „wahren
Herren“ mit blauen Augen und blondem Haar gerächt werden würde. Weinland
darum aber als Rassisten und den Rulaman als völkisches Propaganda-Stückchen
zu verurteilen, hält der Ur- und Frühgeschichtler Nicholas Conard für überzogen.
OT 23 (Conard)
In Wissenschaftskreisen - ich meine jetzt wirkliche Wissenschaftskreise, nicht
Romane über Steinzeitmenschen und Kelten - gab es in vielen Ecken, nicht nur in
Deutschland, sondern auch in Frankreich, in USA überall, real rassistische
Forschungszweige. Und einen Autor eines Romans zu verurteilen wegen sowas, in
Fällen, wo es eigentlich eingelesen werden muss oder zumindest rekonstruiert, das
finde ich sehr weit hergeholt.
Autorin:
Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts bleibt das Erfolgs-Buch - die „schwäbische
Kinderbibel“ - wie es einige nennen, mancherorts trotz aller Kritik Pflichtlektüre im
Schulunterricht. „Rulaman“ soll die archäologischen und geschichtlichen Kenntnisse
der Schüler verbessern. Und er soll das Wertebewusstsein der Jugendlichen
schulen: für den edlen Charakter, für die Schwächeren und gegen die Verderbtheit
der Zivilisation. Heutzutage ist der Roman vom Lehrplan der deutschen Schulen
verschwunden. Zum Glück, sagt der Tübinger Literaturwissenschaftler Jürgen
Wertheimer. Denn als sittliche oder wissenschaftliche Aufklärung sei Weinlands
Roman absolut nicht mehr zu gebrauchen.
OT 14 (Wertheimer)
Also im Grunde lässt er die Figuren empfinden wie wir auch noch empfinden: Liebe,
Hass, Freundschaft und Abneigung, Sympathie und Antipathie und Traurigkeit und...
Woher wissen wir das? Woher wissen wir das? Das heißt: Mitleid kann zu dieser Zeit
auch so unbekannt gewesen sein wie im 17. Jahrhundert, wo man das auch
verachtet oder als Schwäche betrachtet hat. Ich bin sicher, in dieser Zeit war es
keine Stärke, mitleidig zu sein. Es hat nicht geholfen. Es hat dem Überleben, der
Evolution nicht geholfen. Kurz: Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir uns mit unseren
immer noch von der Romantik geprägten Vorstellungen von Gefühlen des Menschen
sicher auf einem uns fremden Gelände bewegen können und nicht viele
Zuschreibungen machen. Diese sentimentalen frühen Freundschaften von Kindern,
die da vorkommen, das finde ich alles fruchtbar. Wenn man das so nachstellt, wirds
auch ein klein wenig für mich peinlich.
AT 10: Schritte mit Stock
AT 07: Steine kollern
AT 08: Schnaufen, keuchen
Autorin:
Der Anstieg zum Steffesloch, dem letzten Schauplatz des Romans, ist steil und von
Unkraut und kniehohem Gestrüpp regelrecht zugewuchert. Weinland nennt diesen
Ort „Staffahöhle“.
OT 19 (Rauscher)
10
Also die Staffahöhle ist direkt unterhalb von Hohenwittlingen, an dem Fels, der
Richtung Urach zeigt, an dem markanten großen Fels. Also vom Standpunkt aus
etwa in fünf Meter Höhe gehts rein in die Staffahöhle.
Autorin:
Dort ist im Roman der letzte Zufluchtsort für Rulaman und die alte Parre, nachdem
die fremden Kalats die Stammhöhle der Sippe überfallen und beinahe alle Aimats
getötet haben. Vier einfache Stahlkrampen sind in die senkrechte graue Felsnase
eingeschlagen. Kein Seil, kein Geländer, nur der Fels und ein tiefer Abgrund. Man
muss ein bisschen Mut und Kraft aufbringen, um das Eingangsloch zur Staffahöhle
und damit das Ende des Steinzeitmärchens zu erreichen.
MU 09 Höhle Steinmusik
Zitator 1:
Von dem schmalen Eingang aus, durch den ein Mann eben aufrecht hineinschlüpfen
konnte, führte nur ein enger, unbequemer Gang auf glattem Fels steil abwärts, wie in
einen düsteren Schacht hinunter. War man aber einmal unten angekommen, so trat
man in eine schöne, große, trockene Felsenhalle, hochgewölbt wie die Spitzkuppel
eines gotischen Domes.
Autorin:
Trotz aller Weltabgeschiedenheit des Verstecks spürt der hinterlistige Druide der
Kalats Rulaman und seine Urahnin hier auf. Mit einigen Männern kommt er zum
Höhlenfelsen hinauf, um die beiden letzten überlebenden Urmenschen zu töten. Er
ahnt nicht, dass er damit auch sein eigenes Ende herbeiführt.
Zitator 1:
Noch stand der Druide unbewegt an seiner Stelle, als wäre er mit dem Felsen
verwachsen. Er reckte seine Rechte und rief der Alten im Eingang der Höhle einen
Bannfluch zu, den sie freilich nicht verstand. Da erhob auch sie ihre Arme und schrie:
„Fluch über dich! Du Räuber und Weibermörder, und Fluch über alle, die Dir glauben!
Fünfzig und fünfzigmal hast du arme unschuldige Kinder geopfert für dein Volk.
Heute opfere ich dich und mich für die Aimats!“
OT 20 (Rauscher):
Und dann hat sie sich mit dem in den Abgrund gestoßen. Und das war dann auch
das Ende.
MU 10: Flöte traurig
Zitator 1:
Das ist die Geschichte von Rulaman und der alten Parre. Noch ruhen die alten
Geister nicht. Wenn an Sommerabenden plötzlich die weißen Nebel aufwallen aus
dem Armital zu den Albfelsen hinauf, da erscheinen vor dem hohen Staffafelsen zwei
mächtige Nebelgestalten in wunderbar wirbelnder Bewegung.
*****
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Literaturangaben:
Rulaman: Erzählung aus der Zeit des Höhlenmenschen und des Höhlenbären
David Friedrich Weinland, Knödler Verlag
Rulaman und seine Horden: Reise ins steinzeitliche Südwestdeutschland
Johannes Lehmann, Silberburg Verlag
Die Venus aus dem Eis: Wie vor 40 000 Jahren unsere Kultur entstand
Nicholas J. Conard, Jürgen Wertheimer, Knaus Verlag
Rulaman Hörbuch. Ein Projekt zur Jugendförderung: http://www.rulaman-buch.de/
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