Darf man die Burka verbieten?

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Titelfoto: Ray Tang/REX/Shutterstock (Flüchtlinge auf dem Weg nach Össtereich, aufgenommen am 4.9.2015, auf der ungarischen Autobahn M1)
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DIEZEIT
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WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR
Die Nacht,
in der Deutschland
die Kontrolle verlor
Was geschah am 4. September 2015? Welche Absichten, Pannen und Missverständnisse
dazu führten, dass plötzlich Hunderttausende Flüchtlinge ins Land kamen. Ein Protokoll
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18. AUGUST 2016 No 35
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Achtung,
Achtung,
hier spricht
die Polizei!
Beamte erzählen
von ihrem Alltag:
Notrufe, Einbrüche
– und plötzlich
auch Terror
Dossier
Selbst Göttinnen
werden 80 – zu
Besuch bei den
unsterblichen
Kessler-Zwillingen
Feuilleton, Seite 39
Darf man die Burka verbieten?
Nein: In Deutschland können die Frauen anziehen, was sie wollen.
Dieses Recht muss für alle gelten, die hier leben VON ELISABETH RAETHER
D
ie Burka bringt eine Frau zum
Verschwinden. In der aktuellen
Debatte über ein Verbot der
Vollverschleierung scheint das
einigen Beteiligten ganz recht
zu sein. So kann die verschlei‑
erte Frau nämlich nicht widersprechen, wenn sie
jetzt gewaltsam befreit werden soll.
Aber die Diskussion dreht sich gar nicht da‑
rum, wie es sich in Deutschland unter der Burka
oder dem Nikab lebt. Wie wird es den Frauen
eigentlich ergehen, wenn man ihnen die Burka
weggenommen hat? Wird ein Ehemann, der sei‑
ner Frau zuvor ein Tuch über den Kopf gezwun‑
gen hat, sich mit ihr wirklich über ihre neu ge‑
wonnene Freiheit freuen? Diese Fragen interes‑
sieren in der Debatte nicht. Tatsächlich wird der
weibliche Körper – wieder einmal – zum Sinn‑
bild herabgestuft: Er wird zum Austragungsort
für einen Wettstreit der Kulturen. Wer setzt sich
am Ende durch – die radikal-muslimischen Ehe‑
männer, die ihre Frauen mit Tuch verhängen,
oder die Radikalliberalen, die den Frauen den
Stoff wieder vom Gesicht reißen?
Deshalb wird so emotional diskutiert: Es geht
um die ewige Frage, was eine Frau von sich zei‑
gen darf und was nicht. Um die richtige Menge
Stoff, mit der eine Frau sich zu verhüllen hat.
Eine Burka, die nicht nur Augen, Gesicht und
Haare verdeckt, sondern gleich die gesamte Frau,
ist in der allgemeinen Wahrnehmung eindeutig
zu viel Kleidung. Aber so ungeniert wie in Germany’s Next Topmodel soll Weiblichkeit dann
auch wieder nicht sein.
In den siebziger Jahren riefen die Frauen: Mein
Bauch gehört mir. Dabei ging es um mehr als das
Recht auf Abtreibung. Mit der Reform des Para‑
grafen 218 passierte etwas Neues: Der Gesetzgeber
überließ eine wichtige Gewissensfrage den Frauen
selbst. Damit waren sie nicht mehr Objekt gesell‑
schaftlicher Moralvorstellungen, sondern Han‑
delnde mit einer persönlichen Verantwortung.
Erlässt man jetzt neue Bestimmungen dazu,
was richtige und was falsche Weiblichkeit ist, soll‑
te man sich daran erinnern, dass die Geschichte
der Frau eine traurige Geschichte der Bevormun‑
dung ist. Ein Mann riskiert im feministischen
Deutschland Ärger, wenn er was Nettes über
Brüste sagt. Doch es soll nichts dabei sein, dass
Frauen jetzt per Gesetz zwangsenthüllt werden?
Frauen litten darunter, übersexualisiert zu
werden. So manche hätte sich in den sechziger
Jahren wahrscheinlich zeitweise unter eine Burka
gewünscht. Währenddessen wurde die musli­
mische Frau immer untersexualisiert und muss
in Verhalten und Aussehen einem Möbelstück­
gleichen, um für einen Mann erträglich zu sein.
Das sind zwei sehr unterschiedliche Formen der
Unterdrückung, das Ergebnis ist zumindest in
einem Punkt dasselbe: Eine Frau zu sein heißt,
als Gestalt im Kopf eines Mannes zu leben.
Jetzt treffen mit der Migration zwei Welten
aufeinander, die nicht zusammenzupassen schei‑
nen. Im Westen sind die repressiven Zeiten Ver‑
gangenheit. Das Patriarchat muss hier schon sehr
subtil auftreten, um noch Wirkung zu entfalten.
Die Frage ist, woher die Furcht rührt, dass ein
paar Burkas die gesamte westliche Kultur der Ge‑
schlechtergerechtigkeit zum Einsturz bringen. So
groß ist diese Sorge offenbar, dass man dafür
nicht nur das hohe Gut der Religionsfreiheit ge‑
fährdet – immerhin reklamieren konservative
Muslime die Vollverschleierung als religiöses
Symbol. Auch nimmt man die Wut der Muslime
in Kauf, die ein Burka-Verbot nicht ganz zu Un‑
recht als Strafmaßnahme gegen ihren Glauben
verstehen, schließlich wurde es als Mittel gegen
islamistischen Terror ins Spiel gebracht.
Davon abgesehen: Welches Kleidungsstück
ist vor einem Verbot sicher, wenn es genügt, es
zum Symbol umzudeuten? Was ist mit Hotpants,
die in den Augen mancher ein Sinnbild des Pa‑
triarchats sind? Das ist das Paradox des BurkaVerbots: Es will das Illiberale besiegen, indem es
sich über die grundlegenden Prinzipien der Libe‑
ralität hinwegsetzt.
In den arabischen Ländern wären die Frauen
froh, müssten sie sich nur um den Symbolwert
ihrer Garderobe sorgen. Dort aber ist Sexismus
Gesetz. In Marokko erbt eine Frau die Hälfte
dessen, was ihrem Bruder zusteht. Im Iran be‑
kommt sie keinen Pass, wenn ihr Mann nicht zu‑
stimmt. In Afghanistan hat sie »eheliche Pflich‑
ten«. Und in keinem dieser Länder hat sie auch
nur im Ansatz eine Chance, sich gegen einen ge‑
walttätigen Vater, Bruder, Ehemann zu wehren.
In Deutschland aber genießen Frauen jedes
Recht – auch sich anzuziehen, wie sie wollen.
Diese Rechte gelten für alle, die hier leben. Das
sollte man den Frauen hinter ihrer Mauer aus
Stoff ans Herz legen. Dafür müsste man aber mit
ihnen sprechen, statt ihnen Lektionen zu erteilen.
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Ja: Vollverschleierung ist keine kulturelle Folklore, sondern ein nicht
hinnehmbares Symbol islamischer Fanatiker VON IRIS RADISCH
Z
ugegeben: Wir leben in einer Welt,
in der jeder nach seiner Fasson­
unglücklich werden darf. In einer
freien Gesellschaft darf sich jeder
nach besten Kräften selbst schaden
und sein Leben an den größten
Blödsinn verschwenden, solange es niemanden
außer ihn selbst beeinträchtigt. Und das ist gut
so. Denn das verordnete Glück führt erfahrungs‑
gemäß zu noch größerem Unglück. Das hat Eu‑
ropa aus dem Scheitern des politischen und reli‑
giösen Totalitarismus gelernt. Warum also liegt
plötzlich der Vorschlag wieder auf dem Tisch, in
deutschen Städten zu verbieten, was in Medina
oder Sanaa streng vorgeschrieben ist: die Burka
oder den Nikab? Muss man Frauen, die sich in
Deutschland für den Gesichtsschleier entscheiden,
unverlangt mit den Idealen unverschleierter west‑
licher Lebensart bedrängen?
Ja, man muss. Und zwar nicht, um ihnen
frech ihr persönliches Recht auf ein Leben in
Unterordnung unter einen religiös verbrämten
Machokult zu rauben, der Frauen in schwarze
Nullen verwandelt. Das kann jede Frau ganz
nach ihrem Geschmack und ihren Verstandes‑
kräften halten, wie sie will. Die Zwangsbefreiung
aus dem Kleidergefängnis wäre noch kein hin­
reichendes Argument für ein dem französischen,
belgischen und niederländischen Vorbild folgen‑
des Vollschleierverbot in Deutschland – auch
wenn an der viel gepriesenen Freiwilligkeit der
Gesichtsverschleierung (jede Frau darf doch tra‑
gen, was sie modisch überzeugt) gezweifelt wer‑
den darf. Zu frisch sind die Bilder der vor Freude
weinenden Frauen im vom IS befreiten nordsyri‑
schen Manbidsch, die sofort nach Abzug ihrer
Peiniger den Gesichtsschleier verbrannten.
Wichtiger als die in der Tat rüde staatlich er‑
zwungene Bekehrung der geschätzt 6500 in
Deutschland lebenden Nikab-Trägerinnen ist die
symbolische Kraft, die von einem Vollschleier‑
verbot ausgeht. Aber die ist entscheidend, denn
in der Burka-Debatte geht es keineswegs um Re‑
ligionsausübung. Es geht um Symbolpolitik –
und zwar auf beiden Seiten.
Die Burka, der im Augenbereich vergitterte
blaue Ganzkörpersack, ist ein politisches Kampf‑
textil der radikalen Taliban, die den Frauen auch
das Sprechen in der Öffentlichkeit und den Be‑
such weiterführender Schulen verbieten. In sei‑
nen Herstellungsländern wird das Nichttragen
des Sacks mit Peitschenhieben geahndet. Der
»Huhu, Prof, läuft
das mit Hausarbeit?«
Müssen E-Mails
förmlich sein? Ein
Streit zwischen Dozent
und Studentin
Chancen, Seite 62
PROMINENT IGNORIERT
Nikab, das gespenstische schwarze Ganzkörper‑
textil, das nur die Augen frei lässt, ist eine am
weiblichen Körper befestigte Fahne der Salafis‑
ten und Wahhabiten, die den Frauen auch das
Autofahren untersagen. Was sich beim Tragen
eines Gesichtsschleiers allerdings auch von selbst
versteht. Beide Kleidungsstücke haben wenig
mit religiöser Inbrunst, aber viel mit politischem
Fanatismus und abgründiger Geschlechterapart‑
heid zu tun. Vergleiche mit anderen Erschei‑
nungsformen religiöser Folklore wie etwa dem
Weihnachtsmann führen deshalb genauso in die
Irre wie die naive postmoderne Unterstellung, es
könne sich beim öffentlichen Nikab-Tragen­
womöglich um eine exotische Form weiblicher
Selbstverwirklichung handeln, die im Namen
der kulturellen Differenz unter Artenschutz ge‑
stellt werden müsse.
Ein Burka-Verbot, das einige Landesminister
der Union in diesen Tagen fordern, ist unabhän‑
gig von den absehbaren Schwierigkeiten seiner
Durchsetzbarkeit ein wichtiges politisches und
kulturelles Signal. Nicht zuletzt für die verschlei‑
erten Frauen, die an unserer Gesellschaft partizi‑
pieren sollen und können, wenn sie die Voraus‑
setzungen dafür schaffen – durch Sichtbarkeit.
Dennoch zögert der deutsche Bundesinnen­
minister. Man könne, sagt de Maizière, nicht al‑
les verbieten, was man ablehne. Ein Gutachten
im Auftrag des Bundestages meldet überdies
Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Ver‑
botes an. Das ist nur verständlich. Gesetze, die
für eine Gesellschaft freier und gleichberechtig‑
ter Individuen gemacht wurden, müssen jedoch
manchmal geändert werden, wenn sie mit einer
Kultur der Unfreiheit und der Frauenverachtung
zusammenstoßen. Wer meint, den Vollschleier
im Namen des Grundgesetzes verteidigen zu
müssen, schützt ungewollt einen Fundamenta‑
lismus, der Grundwerte jenes Landes missbilligt,
in dem seine Anhänger leben. Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte hat das franzö‑
sische Burka-Verbot mit dem Hinweis auf den
berechtigten Schutz eines geordneten menschli‑
chen Zusammenlebens in einer offenen Bürger‑
gesellschaft bestätigt. Das Recht darauf, sein Le‑
ben hinter einem Stoffgitter zu verbringen, darf
nicht mehr wiegen als das einer freien Gesell‑
schaft, die selbst darüber entscheidet, wie viel
rückschrittlichen Fanatismus sie ertragen will.
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Späte Reue
1964 besuchte der amerikanische
Journalist Hunter S. Thompson
das Haus des drei Jahre zuvor­
gestorbenen Hemingway in Ket‑
chum, Idaho, schrieb eine Repor‑
tage und ließ das Elchgeweih mit‑
gehen, das über dem Eingang hing.
Er habe sich des Diebstahls immer
geschämt, sagte jetzt die Witwe
und brachte das Geweih zurück.
Der Enkel Sean Hemingway will es
zu Hause in New York aufhängen.
Da lachen ja die Elche. GRN.
Kleine Bilder (v.o.): Smetek für DIE ZEIT; Ullstein;
Aspen Times
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