1 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Daddy an Ben: Bitte kommen

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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Daddy an Ben: Bitte kommen …!
Als Neil Young Kraftwerk entdeckte
Autor:
Wolf Eismann
Redaktion:
Ellinor Krogmann
Regie:
Maidon Bader
Sendung:
Montag, 15.08.16 um 19.20 Uhr in SWR2
Wiederholung:
Dienstag, 16.08.16 um 10.05 Uhr in SWR2
Wiederholung aus dem Jahr 2014
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
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DADDY AN BEN: BITTE KOMMEN …!
Musik:
Neil Young: Heart of Gold
I wanna live, I wanna give / I've been a miner for a heart of gold / It's these expressions I
never give / That keep me searching for a heart of gold / And I'm getting old / Keeps me
searching for a heart of gold
Neil:
Weißt du, ich hab schon als kleiner Junge angefangen, Gitarre zu spielen.
Mein Daddy – dein Grandpa – hatte eine Ukulele. Deshalb kam alles irgendwie
von selbst. Ich konnte irgendwann an nichts anderes mehr denken. Plötzlich
musste ich einfach eine Gitarre haben. Und dann war alles klar. – Oh, ich bin
auch schon früh durch Clubs getingelt und bei Schulbällen aufgetreten… Warte mal… Ja, zum ersten Mal habe ich glaube ich in der Cafeteria der
Kelvin-Highschool vor Publikum gesungen. „Money, that’s what I want“. Von
den Beatles.
Pegi:
(aus einem anderen Raum rufend) Hast du was gesagt, Neil?
Neil:
Ich rede mit Ben…
Musik:
Neil Young: Heart of Gold
David:
Oh, du hast eine Modelleisenbahn…?!
Neil:
Ja.
David:
Soll ja viele Männer geben, die noch mit der Eisenbahn spielen…
Neil:
Die Streckenführung… die ganze Anlage… - Das vermittelt für mich so eine Art
Zen-Erfahrung.
David:
Zen-Erfahrung?
Neil:
Ja, Zen. Buddhismus. Meditation. Du verstehst?
David:
Buddhismus.
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Neil:
Ja, es schafft innere Ruhe und Konzentration. Also, es hilft mir, das Chaos, die
Menschen und die Gefühle zu sortieren. All das, was mich seit meiner Kindheit
verfolgt.
David:
Ja, das Leben ist ein Sandwich mit Scheiße drauf, sag ich immer. Friss oder
stirb.
Neil:
Es sind nicht unbedingt negative Dinge. Aber eben auch nicht richtig positive.
Na ja, und die Anlage ist natürlich auch für Ben Young. Das macht ihm Spaß.
David:
Dein Sohn?!
Neil:
Unser spastischer, an allen vier Extremitäten gelähmter und nicht sprechender
geistiger Anführer. Mein Sohn, ja!
David:
Wieso nennst du ihn Ben Young? Wieso nicht einfach Ben? Und wieso
spastisch?
Neil:
Er hat eine Gehirnlähmung. Schon seit seiner Geburt. Und das Spiel mit der
Modelleisenbahn ist gut für ihn, denke ich. Außerdem ist er jetzt drei Jahre alt.
Das ideale Alter für eine Modelleisenbahn, oder nicht? --- Hier. Ich hab ein
System mit einem großen roten Knopf für ihn gebaut. Damit er die Anlage
selbst bedienen kann, verstehst du? Das Zusammenspiel von Ursache und
Wirkung. Das macht ihm Spaß.
David:
Und wieso Ben Young? Wieso nicht einfach Ben?
Neil:
Aus Respekt. Ich bin sehr stolz auf ihn. Er hat einen wirklich großartigen
Charakter.
Musik:
Neil Young: There’s a World (live 1971)
There's a world you're living in / No one else has your part / All God's children in the wind /
Take it in and blow hard / Look around it, have you found it / Walking down the avenue? / See
what it brings, could be good things / In the air for you
Pegi:
Dave Crosby hat gestern angerufen.
Neil:
Vergiss es. Ich geh nicht mit ihnen auf Tour.
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Pegi:
Ich soll dir sagen: Mit der Band zusammen Musik zu machen, geht ihm echt
über alles.
Neil:
Wenn er endlich die Finger von den Drogen lässt. Dann gehe ich mit ihnen auf
Tour. Aber so, wie ich es sehe, wird er eher an einer Überdosis krepieren.
Solange er nicht clean ist, bin ich nicht dabei. So einfach ist das. Die anderen
kennen meinen Standpunkt.
Pegi:
Ruf ihn doch wenigstens mal zurück.
Neil:
Ich werde nicht mit Crosby, Stills & Nash auf Tour gehen, mir anhören, wie
genial und wie bedeutend wir doch sind, und diesem Typ zusehen, wie er an
der beschissenen Nadel hängt. Erst dann, wenn er endlich mehr Achtung vor
dem Leben zeigt, wenn er mehr Achtung zeigt vor seinem eigenen Einfluss auf
die jungen Leute da draußen. Dann können wir drüber reden.
Musik:
Neil Young: Don’t Let It Bring You Down
Blind man running / through the light / of the night / With an answer in his hand, / Come on
down / to the river of sight / And you can really understand, / Red lights flashing / through the
window / in the rain, / Can you hear the sirens moan? / White cane lying / in a gutter in the
lane, / If you're walking home alone. / Don't let it bring you down / It's only castles burning, /
Just find someone who's turning / And you will come around.
Atmo:
Modelleisenbahn
Neil:
Meine allererste Eisenbahnplatte… daran erinnere ich mich noch ganz genau…
- Mein Dad hat sie für mich gebaut. Sie war L-förmig, und sie stand in einer
Ecke gegenüber von meinem Bett. --- Weißt du, wir lebten damals in einer
Kleinstadt in Ontario. „Omemee, 750 Einwohner“ stand auf einem Schild am
Stadtrand. Wir haben in einem Haus in der Hauptstraße gewohnt. Highway
Nummer 7, und oben in der Dachkammer stand die Schreibmaschine von
meinem Dad. Niemand durfte hinaufgehen. Natürlich hab ich es doch getan,
um nachzusehen, warum. Daddy konnte jederzeit mit Tippen aufhören und
mit mir reden. Er nannte mich gern Windy. „Was ist los, Windy?“ fragte er
mich dann immer. Und dann habe ich ihm von den Schildkröten in meinem
Sandkasten erzählt oder so etwas. Er war Schriftsteller. Also saß er da oben
und schrieb.
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Er ist jeden Tag da hochgegangen und hat sich an seine große alte
Underwood gesetzt. Mit Farbbändern. Eine echt erstaunliche Maschine war
das, an der sein Herz hing.
Musik:
Neil Young: The Old Country Waltz
And we're playin' it, that old country waltz / In this empty bar echoin' off the wall. / Ain't got no
excuses, we just want to play / That good old country waltz. / I ain't got no excuses, I just
want to play / That good old country waltz.
Neil:
Können wir ihm überhaupt gerecht werden?
Pegi:
Wir sind nicht die Einzigen, die ein behindertes Kind haben.
Neil:
Und was ist mit uns? Werden wir uns nicht irgendwann alle auf die Nerven
gehen? Du weißt, ich habe das alles schon mal durchgemacht…! – Und was
passiert mit ihm, wenn wir uns einmal nicht mehr um ihn kümmern können?
Pegi:
Neil, wir können unsere Zukunft nicht vollkommen planen. Das lässt uns
andererseits aber auch bewusster in der Gegenwart leben. Wir müssen lernen,
die Ansprüche an uns selbst zurückzunehmen. Wir müssen lernen, uns
einzugestehen, dass uns nicht alles gelingen wird, was wir uns vornehmen.
Neil:
Aber…!
Pegi:
Wenn wir Ben so akzeptieren, wie er ist, werden wir lernen, auch unsere
eigenen Unzulänglichkeiten zu akzeptieren.
Musik:
Neil Young: Comes A Time
Comes a time / when you're driftin' / Comes a time / when you settle down / Comes a light /
feelin's liftin' / Lift that baby / right up off the ground
Neil:
Ben Young war eine Frühgeburt. Er musste noch eine Weile im Krankenhaus
bleiben. --- Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, wo wir ihn
endlich nach Hause holen durften. In einem blauen Jeep… Wir sind mit ihm
auf eine Weide gefahren, hier ganz in der Nähe. Nach einiger Zeit ist uns dann
aufgefallen, dass Ben Young nicht die gleichen Sachen machte wie andere
Babys. Wir haben uns gefragt, ob irgendwas vielleicht nicht in Ordnung ist.
Unsere Freunde haben uns dann beruhigt. Jedes Kind entwickelt sich anders,
haben sie gesagt.
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Aber als Ben Young sechs Monate alt war, saßen wir in der Praxis bei einem
Arzt. Er hat uns angesehen und gesagt: „Offensichtlich hat ihr Sohn zerebrale
Kinderlähmung.“ Der hat uns das einfach so ins Gesicht gesagt. Ohne
Vorwarnung. Das war echt ein Schock. Ich konnte das nicht begreifen. Ich
hätte nicht gedacht, dass es ein zweites Mal passieren könnte. Die Jungs
haben doch verschiedene Mütter. Es muss also an mir liegen, oder?
David:
Dein erster Sohn hat das auch…?
Neil:
Ja, mein Sohn aus erster Ehe. Ich hab zum Himmel geguckt und dachte: Da
muss doch irgendwo ein Zeichen auftauchen. Was ist da los? Warum trifft das
meine Kinder? Was habe ich gottverdammt getan?
David:
Wie alt ist dein erster Sohn?
Neil:
Er ist acht. Aber bei Ben ist es nicht nur die schwere zerebrale Lähmung. Er ist
außerdem Tetraplegiker… das ist eine Art Querschnittlähmung… - und Ben
kann nicht sprechen. Das ist schon eine verdammte Menge, findest du nicht?
David:
Was sagen denn die Ärzte?
Neil:
Sie sagen, dass es an nichts Bestimmtem liegt. Es ist keine Krankheit oder so
etwas --- Ich denke, Gott hat Ben so gemacht, wie er ist, um mir etwas zu
zeigen. Weißt du, er ist ein so wundervoller Junge. Und es macht soviel Spaß,
mit ihm zu spielen…
Musik:
Neil Young: Little Wing
All her friends call her Little Wing / But she flies rings around them all / She comes to town
when the children sing / And leaves them feather as if they fall / She leaves her feathers as if
they fall…
Pegi:
Du sitzt in letzter Zeit zuviel mit ihm am Computer, findest du nicht? Ich
denke nicht, dass das gut für ihn ist, Neil!
Neil:
Ben liebt das!
Pegi:
Woher willst du das wissen? Er kann es dir nicht sagen!
Neil:
Schau ihn dir an! Es macht ihm Spaß! Der Computer hilft ihm, Aufgaben zu
lösen. Es ist wie ein Spiel für ihn. Ben kann sich darüber mitteilen.
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Pegi:
Wem? Dieser Maschine?
Neil:
Ja, vielleicht. Maschinen sind die Zukunft. Denk nur mal an diese Fahrstühle
mit digitaler Stockwerksanzeige. Menschen fahren von Stockwerk zu
Stockwerk, und alles wird von Maschinen kontrolliert. Da leuchten nur Zahlen
auf, und einen Augenblick später bist du hundert Meter über der Erde.
Pegi:
Eher beängstigend, oder?
Neil:
Weil du es nicht verstehst. Ich meine: Was weißt du schon darüber?
Pegi:
Aber du!
Neil:
Nein… - Ich meine: Klar, ich stehe vor all diesen elektronischen Geräten wie
ein alter Hippe mitten im Wald. Sag’s ruhig! – Aber man kommt aus dem
Staunen kaum heraus.
Musik:
Neil Young: Rapid Transit
Rapid transit. / Public service. / I'm standing in my line. / Melt down. / Containment. / I'm
standing in my line / Hang ten pipeline, let's go trippin' / Hang ten pipeline, let's go trippin' /
Hang ten pipeline, let's go trippin' / Every wave is new until it breaks.
David:
Auf gute Zusammenarbeit!
Neil:
Auf gute Zusammenarbeit!
David:
Du bist wirklich der Country-Star. Und es ist mir eine verdammte Ehre, deine
nächsten Alben produzieren zu dürfen, Neil! Also: Auf ein neues „Harvest“,
oder?
Neil:
Ein neues „Harvest“? Was heißt das?
David:
Nun, du solltest dein bislang erfolgreichstes Album zum Maßstab nehmen,
denkst du nicht? Deshalb bist du bei Geffen Records gelandet, mein Freund.
Wir verkaufen jede Menge Platten, denn bei uns sind die Stars.
Atmo:
Woosh
Neil:
Seine Einstellung gefällt mir nicht.
Pegi:
Von wem redest du?
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Neil:
Von David.
Pegi:
Deinem neuen Produzenten?
Neil:
Ja. Er erwartet einen Hit.
Pegi:
Wär doch nicht schlecht, oder?
Neil:
Ich meine, er denkt nur ans Verkaufen. An das Geld, was er verdienen kann.
Pegi:
Das ist sein Job, nehme ich an.
Neil:
Und was ist mein Job dabei?
Pegi:
Ihnen zu zeigen, dass sie mit dir eine gute Wahl getroffen haben.
Neil:
Ich denke nicht, dass es meine Aufgabe ist, die Plattenfirma gut dastehen zu
lassen. Umgekehrt wird ein Schuh draus.
Musik:
Kraftwerk: Nummern
Neil:
(Stimme verzerrt) Transformer man. Transformer man. You run the show.
Remote control. Direct the action with the push of a button. You're a
transformer man. Power in your hand…
Pegi:
Was machst du da? Das klingt ja furchtbar!
Neil:
Das macht der Vocoder.
Pegi:
Vocoder?
Neil:
Das ist ein elektronisches Gerät. Stammt eigentlich aus der militärischen
Forschung. Du kannst damit die menschliche Stimme verzerren. (mit verzerrter
Stimme) Sie klingt dann eben so, als käme sie aus dem Computer.
Pegi:
Wozu soll das gut sein?
Neil:
Weißt du, ich hab vor kurzem eine ziemlich seltsame, ganz ungewöhnliche
Musik gehört.
Pegi:
Aha.
Neil:
Die Band nennt sich Kraftwerk.
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Pegi:
Kraftwerk? Klingt sehr deutsch.
Neil:
Ja, die Band kommt aus Deutschland. Die Platte heißt „Computerwelt“.
Pegi:
(ironisch) Oh, dein Thema. Neuerdings. Computer…!
Neil:
Es geht bei dieser Platte inhaltlich darum, dass Computer in der Zukunft eine
immer wichtigere Rolle spielen werden. Und sie verzerren ihre Stimmen mit
diesem Vocoder. Das ist ziemlich revolutionär, finde ich…
Musik:
Kraftwerk: Heimcomputer
Am Heimcomputer sitz ich hier / programier mir die Zukunft hier / Am Heimcomputer sitz ich
hier / programier mir die Zukunft hier / It's more fun to compute
Neil:
Ich denke dabei auch an Ben.
Pegi:
Wie meinst du das?
Neil:
Ich meine, welche Herausforderung es für ihn bedeutet, mit seiner Umwelt zu
kommunizieren. Er kann nicht sprechen…Ich meine, er kann sich eben nicht
auf dieselbe Art verständlich machen wie wir. Wie wir alle. Oder wie die
meisten zumindest. Und wenn ich meine Stimme nun durch eine Maschine
jage, bin ich auch nicht mehr für andere so verständlich. Ich transponiere sie
gewissermaßen auf eine andere Ebene.
Pegi:
Aber was soll das? Wie soll das Ben helfen? Wie soll daran gut für ihn sein?
Neil:
Es ist die Idee, dass man dann vielleicht mittels Maschinen, Computern und
Schaltern auf eine andere Art miteinander Kontakt aufnehmen kann.
Musik:
Neil Young: Transformer Man
Transformer man, transformer man / Transformer man / Still in command / Your eyes are
shining on a beam / Through the galaxy of love / Transformer man, transformer man / Unlock
the secrets / Let us throw off the chains that / Hold you down.
Neil:
(mit verzerrter Stimme) Cars and trucks, fly by me on the corner. But I'm all right.
Bikes and vans, fly by me on the desert. But I'm all right. --- Daddy an Ben.
Daddy an Mr. Ben Young.
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Bitte kommen. --- (mit normaler Stimme) Drück den Knopf! Ja, hau auf die Tasten
meinetwegen. --- (mit verzerrter Stimme) I need you. To let me know that there's
a heartbeat. --- Bitte kommen. Bitte kommen.
Musik:
Neil Young: Computer Age
Cars and trucks / Fly by me on the corner / But I'm all right / Standin' proud before the signal /
When I see the light / I know I'm more than just a number. / And I stand before you / Or else
we just don't see the other / Computer age computer age / Computer age.
Überblenden:
Musik:
Kraftwerk: Nummern
Neil:
Weißt du immer, was er will?
Pegi:
Wenn ich ihn frage: „Bist du müde?“ Dann versteht er das.
Neil:
Manchmal bilde ich mir ein, dass er spüren kann, was ich fühle, obwohl es mir
selbst noch nicht bewusst ist.
Pegi:
Aber wir wissen nicht, ob er uns verstanden hat. Und wir müssen ständig da
sein, ständig aufpassen. Er braucht so viel Hilfe.
Neil:
Wir müssen viel mehr auf Ben Young zugehen und ihn viel mehr anregen.
Erinnere dich! Jeder Schritt in seiner Entwicklung ist nach unendlich vielen
Übungen entstanden. Und das macht uns glücklich. Deshalb haben Eltern zu
ihrem behinderten Kind meist auch eine intensivere Beziehung, denke ich.
Pegi:
Wenn wir mit Ben in den Park fahren… - Ist dir schon mal aufgefallen, dass
andere Menschen dann betreten wegsehen? Oder sogar die Straßenseite
wechseln. Oder sie starren Ben an, als wäre er ein Monster.
Neil:
Klar, wenn wir ihn mit anderen Kindern seines Alters vergleichen, dann ist er
immer unterlegen. Wir können ihn natürlich nur mit sich selbst vergleichen,
mit seinem eigenen Maß messen. Dann aber können wir doch Veränderungen
erkennen! Jeden Schritt erleben wir dann wie ein kleines Wunder. So können
wir uns über Kleinigkeiten freuen, die von anderen gar nicht gesehen werden.
Musik:
Kraftwerk: Nummern
Neil:
Hör zu David, ich denke wir sollten Videos dazu drehen.
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David:
Videos? Wie weit bist du mit den Songs? Ich will die Songs hören!
Neil:
Ich komme gut voran. Es ist etwas ganz Neues. Aber ich denke, es wäre gut,
wenn wir Videos dazu drehen würden. Sie würden in einem Krankenhaus
spielen. Ein Haufen Wissenschaftler und Ärzte versucht, die Geheimnisse eines
kleinen Wesens zu entschlüsseln. Dieses kleine Wesen hat viel zu sagen, aber
es hat keine Möglichkeit, sich mitzuteilen.
David:
Was für ein kleines Wesen? Wovon redest du?
Neil:
Es sind Träume, und in diesen Träumen gibt es eine Menge Roboter und
halbmenschliche Wesen. --- Ich hab auch eine Idee, wie man das
kostengünstig produzieren kann.
David:
Ich will keine Scheißvideos. Lass mich die Musik hören. Und erzähl mir nichts
von Robotern, verdammte Scheiße!
Musik:
Neil Young: Computer Cowboy
Well, he rides / the range 'til midnight / And the wild coyotes yowl / As he trots / beneath the
floodlights / And of course / the rhythm is perfect! / Computer Cowboy. / Ride along computer
cowboy / To the city just in time / To bring another system down / And leave your alias behind:
/ Computer syscrusher.
David:
Kraftwerk…? Was hast du mit diesem hochindustrialisierten westdeutschen
Umfeld von Kraftwerk zu tun? Du bist auf deiner kalifornischen Ranch
zuhause. Das klingt, als würde man eine Satellitenschüssel auf eine Blockhütte
schrauben.
Neil:
In diesen Songs findest du jede Menge Anspielungen auf meinen Sohn. Und
auf alle anderen Menschen, die versuchen, ihr Leben zu führen, indem sie auf
Knöpfe drücken. Menschen, die die Kontrolle über ihre Umgebung bekommen
möchten, mit anderen Menschen reden wollen, die nicht sprechen können.
Und Computerstimmen benutzen oder ähnliches.
David:
Ich meine, das ist ein dermaßen drastischer Bruch. Wieso siehst du dich
genötigt, deine Lyrik durch computerisierte Morsecodes durch zu häckseln?
Deine Stimme durch Vocoder zu verändern?
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Was sollen wir mit dieser schönen neuen Wirklichkeit anfangen, wenn unsere
besten Songwriter sich in geklonte Computerwesen verwandeln?
Neil:
Wenn wir die Videos dazu drehen würden, dann würde man es verstehen!
David:
Was soll das? Das ist einfach absolut untypisch.
Neil:
Untypisch?
David:
Ja, verdammt! Absolut untypisch. Für dich!
Neil:
Meine gesamte Karriere basiert auf Zerstörung. Das hält mich am Leben. Man
zerstört, was man vorher gemacht hat, und besitzt dadurch die Freiheit, etwas
anderes zu tun. Etwas Neues.
David:
Scheiß drauf! Dafür hab ich dich nicht zu Geffen Records geholt. Wollen wir
den Erfolg? Oder wollen wir ihn nicht? Gib mir eine Antwort. Gib mir eine
verdammte Scheißantwort!
Neil:
Es gab bei der Produktion viele technische Probleme. Aber inhaltlich ist sie
hervorragend.
David:
„Heart of Gold“. Das war hervorragend!
Neil:
Man kann nicht immer wieder dasselbe Buch schreiben.
Musik:
Neil Young: We R In Control
We control the data banks / We control the think tanks / We control the flow of air. / We're
controlling traffic lights / We control computer flights…
Überblenden:
Musik:
Kraftwerk: Computerwelt
Interpol und Deutsche Bank, / FBI und Scotland Yard / Flensburg und das BKA, / Haben unsere
Daten da…
Musik:
Neil Young: We R In Control
Überblenden:
We control the chief of staff. / We control the TV sky / We control the FBI / We control the flow
of heat…
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Pegi:
Es ist ein Flop.
Neil:
Ja.
Pegi:
„Trans“ ist ein Flop. Keiner will es hören.
Neil:
Geffen hätte die Platte subtiler bewerben müssen. Sie haben versucht, sie wie
einen Hit zu vermarkten. Sie ließen einfach ihre übliche Publicity-Maschine
laufen.
Pegi:
Deine Fans werden sich gefragt haben, warum du diesen Vocoder benutzt.
Das ist ihnen unheimlich, nehme ich an.
Neil:
Die Videos fehlten. Ich hatte Geffen gesagt, dass wir die Videos dazu
brauchen. Dann hätten die Leute das verstanden. --- Ben Young mag die
Musik. Es macht ihm Spaß, wenn er meine Stimme durch den Vocoder hört.
Musik:
Neil Young: Sample And Hold
I need a unit to sample and hold / But not the lonely one / A new design, new design. / Sample
and hold. / We'll send it out right away / Satisfaction guaranteed. / Please specify / The color of
skin and eye / We know you'll be happy.
Musik verhallt, dabei überblenden:
Musik:
Heart of Gold (ohne Gesang)
Neil:
Es heißt ja immer: Mach den Abgang, wenn du am heißesten brennst. Wenn
du auf dem Höhepunkt deiner Tatkraft bist. Nun, wahrscheinlich habe ich den
Moment verpasst. Ich bin mit mittlerweile 65 vielleicht nicht mehr auf dem
Höhepunkt meiner Zeit als Musiker. Mag sein. Aber: Niemand weiß, was
passieren wird. Das ist aufregend und erschreckend zugleich. Deshalb ist jeder
Tag so wertvoll und jede Minute kostbar. Weil das Leben so unberechenbar
ist.. - --- Meine Frau Pegi hat mittlerweile übrigens ihre eigene Band. Ist also
auch im Musikgeschäft und macht mir kräftig Konkurrenz.
Pegi:
Ich habe Neil nie gefragt, ob er bei mir mitspielen will. Ich ging ins Studio auf
unserer Ranch und suchte die Band zusammen. Wir ließen dann in einer Ecke
etwas Platz, falls er vorbeikommen würde.
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Am ersten Tag hielt er nur kurz ein Ohr hinein, um zu hören, wie es lief. Aber
am nächsten Tag setzte er sich schließlich dazu und mischte mit.
Neil:
Warum auch nicht? Ich kenn die Jungs alle gut.
Pegi:
Neil hat übrigens eine Schule gegründet, die sich um die Sozialisation von
sprach- oder körperbehinderten Kindern und Jugendlichen kümmert.
Neil:
Die Bridge School.
Pegi:
Einmal im Jahr organisieren wir ein Benefiz-Konzert. Viele Kollegen
unterstützen das Projekt. Elton John, Bruce Springsteen, John Fogerty,
Metallica, Thom Yorke von Radiohead…
Neil:
Ben Young sitzt übrigens gerade draußen auf der Veranda und frühstückt. Per
Magensonde. Ich frage mich, wie sich das anfühlt. Er ist inzwischen 32 Jahre
alt. Wie hat er früher sein Glas Milch geliebt, nach dem Abendessen...! Wir
mussten irgendwann aufhören, Ben durch den Mund zu ernähren, weil er sich
häufig verschluckt hat und dadurch seine Lunge gefährdete. Essen ist eine
komplexe Angelegenheit. Aber er akzeptiert alles.
Pegi:
Manchmal geben wir ihm heute auch noch eine Kleinigkeit zu kosten. Der
guten alten Zeit wegen.
Neil:
Ben ist glücklich. Na ja, nicht immer. Wenn wir irgendwohin unterwegs sind
und etwas verzögert sich, dann neigt er dazu, ungeduldig zu werden. Er
schreit dann einfach los. Dann weiß man, dass er sauer ist. Und nichts kann
ihn stoppen. (lacht) Nur zu, Ben Young! --- Er wird zwar nie mit mir
paddelsurfen können, aber Zugucken, das macht ihm Spaß. Das weiß ich. Das
ist eine seiner großen Begabungen, dass er uns zugucken kann. Und dadurch
teilhaben kann an dem, was wir machen. Er freut sich an unserer Freude.
Darin ist er ein Meister geworden.
Pegi:
Das Leben ist schön.
Neil:
Ja, Mann! Das Leben ist schön!
Aufblenden:
Musik:
Heart of Gold (mit Gesang)
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Pressetext:
Daddy an Ben: Bitte kommen…!
Als Neil Young Kraftwerk entdeckte
Country-Star Neil Young wurde 1981 auf die deutsche Band Kraftwerk
aufmerksam. Fasziniert von den avantgardistischen Synthesizer-Klängen war er
entschlossen, selbst mit elektronischer Musik zu experimentieren. Mittels eines
Vocoders begann er – wie Kraftwerk, seine Stimme elektronisch zu codieren. Auf
diese Weise hoffte Neil Young, auch einen Zugang zu seinem dreijährigen Sohn
Ben zu finden, der aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung nicht
ansprechbar war. Neil Youngs musikalische Experimente erschienen später auf
seinem Album „Trans" – und blieben in jeder Hinsicht ohne Erfolg.
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