BayernLB Research | 02.08.2016 Megatrend Demografischer Wandel BayernLB Research Beachten Sie bitte den/die Hinweis/e auf der/den letzten Seite/n www.research.bayernlb.de, Bloomberg: BAYR August 2016 Megatrend Demografischer Wandel Flüchtlinge: Kurzfristiger Impuls für Bau, Gesundheitssektor und Einzelhandel Megatrend Demografischer Wandel August 2016 2 Das Wichtigste im Überblick Im Jahr 2015 waren rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht – so viele wie nie zuvor. In Deutschland sind seit der Schließung der Balkanroute und dem EU-TürkeiDeal deutlich weniger Menschen angekommen. Nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei haben sich die politischen Beziehungen Ankaras mit der EU aber dramatisch verschlechtert. Selbst wenn das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei halten sollte, wird der Flüchtlingszustrom nach Europa mittel- bis langfristig anhalten oder sogar wieder zunehmen. Die Aufnahme von Flüchtlingen beeinflusst die sozialen Sicherungssysteme und die Staatsfinanzen, die derzeit hohe Zuwanderung wirkt sich aber nur sehr begrenzt auf die langfristige Bevölkerungsentwicklung aus. Der Trend zur zunehmenden Alterung kann durch dauerhaften Zuzug zwar abgebremst, aber nicht aufgehalten werden. Kurzfristig wird die Wirtschaft von den staatlichen Mehrausgaben (Versorgung, Unterbringung), profitieren. Auch wenn die gesamtwirtschaftlichen Konjunkturimpulse durch die Flüchtlinge nur mäßig ausfallen, gibt es einige Branchen, die unmittelbar von der Flüchtlingsmigration profitieren: Dazu zählen neben dem Bildungssektor auch die Bauindustrie, die Pharma- und Gesundheitsbranche sowie der Einzelhandel. Flüchtlingskrise ist nach wie vor ungelöst Der Zustrom von Flüchtlingen nach Europa und insbesondere nach Deutschland, der im vergangenen Jahr einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, hat mit dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei über die Rückführung von „irregulär“ aus der Türkei nach Griechenland eingereisten Flüchtlingen seit dem 20. März 2016 deutlich nachgelassen. Auch wenn bislang nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge in die Türkei zurück gebracht wurde, schreckt das Abkommen – in Verbindung mit der Schließung der Balkanroute – viele Menschen davor ab, die gefährliche Überfahrt über die Ägäis zu unternehmen. Ungeachtet dessen ist zu befürchten, dass die derzeitige Situation eher die Ruhe vor dem Sturm als eine dauerhafte Entspannung des Flüchtlingszuzugs nach Europa ist. Denn einerseits haben sich die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei und der drastischen Reaktion von Staatspräsident Erdoğan spürbar verschlechtert. Es stellt sich daher die Frage, ob die Türkei noch ein verlässlicher Partner in der Flüchtlingspolitik ist oder ob das Abkommen letztlich vor dem Aus steht. Andererseits kommen seit dem Frühjahr wieder deutlich mehr Flüchtlinge, nicht nur aus afrikanischen Ländern, sondern auch aus den Krisengebieten im Nahen und Mittleren Osten, über die Mittelmeerrouten nach Südeuropa. Die Situation ist trotz vielfältiger politischer Bemühungen alles andere als gelöst, denn weder hat sich an den Fluchtursachen etwas geändert (was auch nicht zu erwarten war), noch gibt es in der EU eine tragfähige Einigung über die Verteilung der Flüchtlinge, geschweige denn über eine gemeinsame Flüchtlingsbzw. Asylpolitik. Der Zuzug von Flüchtlingen wird kurz- bis mittelfristig unter Schwankungen weitergehen. Er stellt die Gesellschaft und die staatlichen Institutionen vor enorme praktische Herausforderungen (Unterbringung, Gesundheitsversorgung und zunehmend auch psychotherapeutische Behandlung, Sprache, Integration, Arbeitsaufnahme). Sofern es gelingt, diejenigen Menschen, die dauerhaft in Deutschland bleiben, gesellschaftlich und wirtschaftlich zu integrieren, könnte die Zuwanderung mittel- bis langfristig die Belastungen durch die negative demografische Entwicklung in Deutschland zumindest abmildern. Davon sind wir aber noch weit entfernt. Gelingt dies nicht, wäre dies auch mittelfristig eine große fiskalische Bürde für Deutschland. Wir wollen in diesem Papier neben der aktuellen Einschätzung der weiteren Entwicklung nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei einen Überblick darüber geben, welche Auswirkungen die Aufnahme und Unterbringung der Flüchtlinge auf die Konjunktur hat, und welche Wirtschaftszweige kurzfristig davon profitieren. BayernLB Megatrend Demografischer Wandel August 2016 3 2015 sind über eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen Entwicklung der jährlichen Asylantragszahlen in Deutschland seit 2008 Gesamtzahl der Erstanträge Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Zahl der Asylsuchenden ist immens gestiegen Infolge der instabilen Lage im Nahen und Mittleren Osten (Bürgerkrieg in Syrien, Ausbreitung des sogenannten Islamischen Staates (IS)) und mangelnder wirtschaftlicher Perspektiven in vielen nord- und schwarzafrikanischen Staaten ist die Zahl der Asylsuchenden in Europa in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen (siehe Grafik auf der nächsten Seite. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die Flüchtlingswelle im Jahr 2015, als mehr als eine Million Menschen über das Mittelmeer in die EU einreisten. In Relation zur Bevölkerungszahl des Gastlandes kamen die meisten Flüchtlinge zunächst nach Ungarn, Schweden und Österreich; in absoluten Zahlen wurden die meisten Asylanträge in Deutschland gestellt: Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurden im vergangenen Jahr mit 476.649 so viele Asylanträge wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gestellt. Aufgrund des Bearbeitungsrückstaus weist die Zahl für 2015 aber nur einen Teil der tatsächlich eingereisten Flüchtlinge und Migranten auf: Insgesamt wurden über die vom BAMF verwendete Software EASY über eine Million Asylsuchende erfasst. Die meisten Flüchtlinge kommen aus Syrien Der weitaus größte Teil der Migranten kam und kommt aus dem Bürgerkriegsland Syrien (siehe Grafik). Danach folgen die durch Terror des IS sowie der Taliban gebeutelten Länder Irak und Afghanistan. Über drei Viertel aller von Januar bis Mai 2016 gestellten AsylHerkunftsländer der Asylsuchenden in Deutschland im Zeitraum von Januar bis Mai 2016 Gesamtzahl der Erstanträge und prozentualer Anteil der jeweiligen Volksgruppe Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BayernLB Megatrend Demografischer Wandel August 2016 4 anträge stammten aus einem dieser drei Länder. Die Schließung der Grenze in Mazedonien Anfang März 2016 und das EU-Türkei-Abkommen im März haben indessen zu einem deutlichen Rückgang der Flüchtlingszahlen geführt: Setzten in der Woche vor dem Abkommen noch täglich bis zu 2.000 Migranten von der Türkei über die Ägäis nach Griechenland über, so sind es seit dem 1. Mai nur noch knapp 50 Personen pro Tag. Das Abkommen scheint bisher die erhoffte Wirkung zu entfalten. „EU-Türkei-Deal“ erlaubt Rückführung „irregulär“ eingereister Migranten Im Kern besagt der „EU-Türkei-Deal“, dass alle neuen, „irregulär“ eingereisten Migranten, die ab dem 20. März 2016 auf den griechischen Inseln ankommen und die kein Asyl beantragen oder deren Antrag als unbegründet oder unzulässig abgelehnt wird, auf Kosten der EU in die Türkei zurückgebracht werden. Im Gegenzug wird für jeden Syrer, der von Griechenland in die Türkei zurückgeführt wird, ein anderer syrischer Flüchtling aus der Türkei in die EU umgesiedelt. Darüber hinaus hat die EU der Türkei drei Milliarden Euro bis 2018 für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge und eine Aufhebung der Visumspflicht für türkische Bürger ursprünglich bis Ende Juni 2016 zugesagt. Letztere ist jedoch der Knackpunkt, an dem das Abkommen, insbesondere nach den jüngsten Entwicklungen in der Türkei, scheitern könnte. Denn die Türkei muss für die Visaliberalisierung 72 Bedingungen in unterschiedlichen Bereichen (Dokumentensicherheit, Migrationsmanagement, öffentliche Ordnung und Sicherheit, Grundrechte,…) erfüllen. Diese wurden bereits 2013 in einem Fahrplan zur Einführung der Visumsfreiheit mit der Türkei festgeschrieben. Der türkische Präsident Erdoğan lehnt eine Reform der Anti-TerrorGesetze ab In ihrem am 4. Mai veröffentlichten (dritten) Bericht über die Fortschritte der Türkei bei der Umsetzung des Fahrplans für die Visaliberalisierung stellte die EU-Kommission fest, dass von den 72 Bedingungen lediglich 67 erfüllt sind. Zwei besonders strittige, aber aus EUSicht essentielle Punkte, nämlich die Reform der türkischen Anti-Terror-Gesetze sowie mehrere Änderungen beim Datenschutz lassen aber noch auf sich warten, so dass der ursprüngliche Termin für die Einführung der Visaliberalisierung, der 1. Juli 2016, nicht eingehalten werden konnte. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan lehnt die Umsetzung dieser Forderungen nach wie vor strikt ab, so dass es unter anderem deshalb fraglich ist, ob das EU-Türkei-Abkommen tatsächlich noch zu einem „offiziellen“ Abschluss kommt. Denn die endgültige Entscheidung über die tatsächliche Anwendung des Abkommens steht noch aus. Der Fahrplan der EU sieht vor, den Visaliberalisierungsprozess und damit das EU-Türkei-Abkommen bis Oktober 2016 abzuschließen. Dies ist aber mit den politischen Entwicklungen nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei sehr unwahrscheinlich geworden. Risiken für erneutes Aufflammen der Flüchtlingskrise sind hoch Die Türkei entfernt sich immer weiter von demokratischen Grundprinzipien Der gescheiterte Militärputsch hat die Spaltung des Landes weiter vertieft. Erdoğan startete anschließend eine „Säuberung“ und ließ mehrere tausend Richter und Staatsanwälte verhaften, suspendierte Provinzgouverneure, Polizisten, Lehrer und Hochschullehrer und rief einen dreimonatigen Ausnahmezustand aus, der ihm immense Machtbefugnisse gibt und mit dem er de facto am Parlament vorbeiregieren kann. Das Land schreitet rasant in Richtung autokratisches Herrschaftssystem und entfernt sich immer mehr von demokratischen Strukturen. Dazu gehört auch das Verbot von zahlreichen Zeitungen und Fernsehsendern. Die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und der EU wird damit vor eine Zerreißprobe gestellt. Die EU zumindest hat sich mit dem EU-Türkei-Deal in eine vielfach kritisierte Abhängigkeit von der Türkei gebracht. Nachdem die Türkei laut über die Wiedereinführung der Todesstrafe nachdenkt, scheinen die EU-Mitgliedschaft sowie die Visaliberalisierung ausgeschlossen oder zumindest in ferne Zukunft gerückt. Die Wahrscheinlichkeit, dass das EU-Türkei-Abkommen dauerhaften Bestand hat, ist in den letzten Tagen weiter gesunken. BayernLB Megatrend Demografischer Wandel August 2016 5 Erdoğan würde allerdings seine Verhandlungsposition gegenüber der EU (ansonsten evtl. Einführung von Sanktionen und Kapitalverkehrskontrollen seitens der EU) spürbar verschlechtern, wenn er sich nicht an das Abkommen hält. Ein Platzen des Deals hätte zur Folge, dass sich dann erneut tausende von Flüchtlingen auf den Weg von der Türkei über die Ägäis nach Griechenland machen. Sollte sich die politische Lage in der Türkei weiter zuspitzen (und es womöglich zu einem Bürgerkrieg kommen), ist davon auszugehen, dass sich auch zahlreiche türkische Staatsbürger auf den Weg nach Mitteleuropa machen. Die EU träfe das erneut völlig unvorbereitet, da die Politik von einer Übereinkunft über die Verteilung der Flüchtlinge genauso weit entfernt ist wie vor dem Abkommen mit der Türkei. Im Gegenteil: Ungarn, das beim Europäischen Gerichtshof bereits Klage gegen den Verteilungsschlüssel für die Aufnahme von Flüchtlingen eingereicht hat, kündigte für den 2.Oktober 2016 ein Referendum darüber an, ob man sich von der EU die Aufnahme von Flüchtlingen vorschreiben lassen soll. Nach der Brexit-Entscheidung der Briten könnte dies erneut Zweifel am Zusammenhalt der EU befeuern. Flüchtlingsrouten nach Europa Quelle: BayernLB Research Laut UNHCR sind weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie nie zuvor Aber auch wenn der EU-Türkei-Deal halten sollte, werden Europa und insbesondere Deutschland noch längere Zeit mit dem Thema Flüchtlinge konfrontiert bleiben. Ein vom Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR veröffentlichter Bericht hat jüngst dargelegt, dass die Zahl der weltweiten Flüchtlinge 2015 zum ersten Mal die 60-Millionen-Marke überschritten hat. Damit waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie nie zuvor. Brennpunkte der globalen Fluchtbewegung sind laut UNHCR der Mittlere und Nahe Osten und Afrika. Bereits jetzt macht sich die Schließung der Balkanroute (siehe Grafik oben) über das östliche Mittelmeer wieder in Italien bemerkbar. Bis Mitte Juni 2016 sind über die zentrale und südöstliche Mittelmeerroute bereits mehr als 50.000 Migranten in Italien mit dem Boot angekommen. Mindestens 3.000 Menschen sind 2016 bereits im Mittelmeer ertrunken. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex geht davon aus, dass in diesem Jahr rund 300.000 Migranten per Boot über das Mittelmeer nach Italien bzw. in die EU übersetzen werden, die Internationale Organisation für Migration (IOM) erklärte, es hielten sich derzeit sogar bis zu einer Million Flüchtlinge und Migranten in Libyen auf. Sollte es der EU nicht gelingen, mit den Mittelmeeranrainerstaaten Nordafrikas und insbesondere mit Libyen ein BayernLB Megatrend Demografischer Wandel August 2016 6 ähnliches Abkommen wie mit der Türkei zu schließen, dürfte der Zustrom aus dieser Region anhalten. Angesichts der instabilen Lage in Libyen dürfte sich das aber als schwierig erweisen. Auch wenn 2015 der Peak des Flüchtlingszustroms in Deutschland zumindest vorläufig erreicht wurde, wird der Zufluss mittel- bis langfristig anhalten oder sogar wieder zunehmen. Flüchtlingsstrom kann Ausmaß und Tempo der Gesellschaftsalterung mindern Zuwanderung könnte demografische Entwicklung Deutschlands beeinflussen Die Aufnahme der Flüchtlinge hat zweifelsohne einen Einfluss auf die demografische Entwicklung in Deutschland. Diese spielt insbesondere eine wichtige Rolle, wenn es um die Finanzierung der Sozial- und Rentensysteme geht. Das Statistische Bundesamt kommt in einer aktuellen Studie zu dem Schluss, dass die derzeit hohe Zuwanderung allerdings nur eine beschränkte Einflussnahme auf die langfristige Bevölkerungsentwicklung hat. Der Trend zur zunehmenden Alterung könne dadurch nicht umgekehrt werden, jedoch durch eine hohe Nettozuwanderung könnte das Ausmaß und das Tempo der Alterung zumindest gemindert werden. So wird die Anzahl der Menschen in Deutschland in der Gruppe der 20bis 66-Jährigen bis 2040 voraussichtlich ohne Zuwanderung um rund ein Viertel schrumpfen. Um diesen Effekt zu kompensieren, wäre in dieser Alterskohorte dauerhaft ein jährlicher Wanderungssaldo von 470.000 Menschen nötig. Dass Deutschland in den nächsten Jahrzenten eine so hohe Zuwanderung erlebt, ist unrealistisch. Allerdings wird beim Zuzug auch ein entscheidender Punkt sein, wie vielen Flüchtlingen es gestattet sein wird, Verwandte nach Deutschland nachzuholen. Deutsche Wirtschaft profitiert von Konjunkturimpulsen durch Zuwanderung Voraussetzung erfolgreiche Integration Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Flüchtlingsmigration waren Untersuchungsgegenstand einer Studie des ifo-Instituts. Dabei wurden die staatlichen Ausgaben, die für Migranten aufgewendet werden müssen, den möglichen gesamtwirtschaftlichen Beiträgen der Menschen – die davon abhängen, wie schnell sie Arbeit finden und wie produktiv sie sein werden – gegenübergestellt. Die Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass selbst unter einem pessimistischen Szenario der wirtschaftliche Beitrag der Flüchtlinge die staatlichen Ausgaben nach fünf bis zehn Jahren übertreffen könnte. Dies gilt aber nur unter der Prämisse, dass die Integration der Flüchtlinge erfolgreich verläuft. Auf kurze Sicht würde der zusätzliche Konsum (Nachfrageeffekt) – staatliche Ausgaben für Unterbringung, Versorgung und Integration der Flüchtlinge sowie deren privater Verbrauch – die Wirtschaft stimulieren. Anfängliche Kapazitätsbeschränkungen werden über Investitionen, einen steigenden Kapitalstock und über eine zunehmende Arbeitsnachfrage abgebaut. Davon profitieren vor allem die bereits in Deutschland lebenden Menschen. Mittel- bis langfristig würde die Angebotsseite zum Tragen kommen, wenn die Flüchtlinge nach und nach die nötige Qualifikation erwerben und sich zunehmend in den Arbeitsmarkt (auch geringqualifizierte Tätigkeiten) integrieren. Indirekte Effekte auf das Wirtschaftswachstum entstehen durch ein größeres Arbeitsangebot z.B. im Betreuungs- und Pflegebereich, die Freiräume für Hochqualifizierte schaffen. Diese könnten dadurch verstärkt am Arbeitsmarkt aktiv werden und zusätzliche Einkommen generieren. Wirtschaftsimpulse durch Flüchtlinge eher gering Diese Perspektive ist aber vielmehr die Idealvorstellung. Bei den Auswirkungen auf die Wirtschaft handelt es sich wohl eher um vorübergehende Konjunkturimpulse und nicht um Wohlfahrtsgewinne. Auch werden die anhaltenden fiskalischen Belastungen, welche die Zuwanderer mit sich bringen – da sie wohl sehr viel Zeit brauchen werden, bevor sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können – vernachlässigt. Kurzfristig wird die Wirtschaft von den staatlichen Mehrausgaben (Versorgung, Unterbringung), die sich schätzungsweise auf rund 1.000 Euro oder mehr pro Person und Monat belaufen, profitieren. Eine Nachfragebelebung ergibt sich allerdings aber auch nur dann, wenn die Mehrausgaben nicht BayernLB Megatrend Demografischer Wandel August 2016 7 durch Ausgabenkürzungen in anderen Bereichen oder höhere Steuern finanziert werden, sondern mit höheren Staatsschulden bzw. reduzierten Überschüssen einhergehen. Erste Schätzungen legen nahe, dass die Wachstumsimpulse, die sich aus den Mehrausgaben für die Flüchtlinge ergeben, moderat ausfallen: Für 2016 erwarten wir einen zusätzlichen Konjunkturschub von etwa zwei Zehntel Prozentpunkten. Der Sachverständigenrat geht von einem Wachstumseffekt für die Jahre 2015 und 2016 von lediglich 0,06 bzw. 0,09 Prozentpunkten aus. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass Deutschland 2017 durch die Zuwanderung einen zusätzlichen Wachstumsschub in Höhe von 0,3 Prozentpunkten verzeichnen dürfte. Ob dieser Konjunkturschub mittel- bis langfristig anhält, hängt maßgeblich davon ab, wie erfolgreich die Flüchtlinge sowohl in die Gesellschaft als auch in den Arbeitsmarkt integriert werden. Pharma-, Bau- und Bildungssektor profitieren kurzfristig Branchen profitieren unterschiedlich stark von der Flüchtlingskrise Auch wenn die gesamtwirtschaftlichen Konjunkturimpulse durch die Flüchtlinge nur mäßig ausfallen, gibt es einige Branchen, die unmittelbar von der Flüchtlingsmigration profitieren (siehe Tabelle unten). Dabei spielt nicht nur die Erstversorgung der Flüchtlinge eine Rolle. Diese müssen auch in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft betreut werden. Einer der Gewinner wird kurzfristig sicherlich die Bau- und Immobilienbranche sein. Davon abgesehen, dass nicht nur neue Flüchtlingsheime gebaut werden müssen, sollte die Baubranche auch einen positiven Effekt dadurch erfahren, dass die Flüchtlinge nach einiger Zeit in kleineren Unterkünften oder Wohnungen untergebracht werden müssen. Der Bedarf an Erstaufnahmekapazitäten zur Unterbringung von Flüchtlingen wird dazu führen, dass auch der Umbau von Wohn- und Nichtwohngebäuden neben dem Neubau wieder mehr Impulse bekommt. Zwar findet man in manchen Landstrichen Deutschlands noch genügend Wohnraum, jedoch ist dieser insbesondere in den großen Ballungsräumen knapp. Der Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen GdW schätzt den Bedarf für neue Wohnungen für Flüchtlinge auf jährlich bis zu 160.000. Die Bundesarchitektenkammer geht davon aus, dass mehr als 400.000 Wohnungen benötigt werden, um die Flüchtlinge dauerhaft unterzubringen. Die Gewinner wären sicherlich Unternehmen, die sich auf die Herstellung von einzelnen, standardisierten Modulen spezialisiert haben. Kurzfristige Auswirkungen der Flüchtlingsmigration auf Branchen ++ Branche profitiert spürbar; + Branche profitiert leicht; o kaum Auswirkungen auf Branche Branche/Sektor Pharma & Gesundheit Chemie Luftfahrt Telekommunikation Einzelhandel Versorger Logistik Technologie Auswirkung ++ + o + + + + o Branche/Sektor Medien Öl & Gas Tourismus Bau/Immobilien Verarbeitende Industrie Automobil Rohstoffe Bildung Auswirkung o o o ++ o o + ++ Quelle: BayernLB Research Impulse für den Einzelhandel Dabei muss nicht nur die Unterkunft, sondern auch die Verpflegung sichergestellt werden, so dass vom Zuzug auch der Einzelhandel (Nahrungsmittel, Kosmetik, Haushaltswaren) profitieren dürfte. Neben den täglichen Verbrauchsgütern spielt auch die Telekommunikation eine wichtige Rolle. Nachdem Mobilfunkgeräte zur Koordination der Route bereits auf der Flucht „lebensnotwendig“ wurden, sind Handy und Internet auch im Zielland unersetzlich, nicht nur um Kontakt mit den Familien zu halten, sondern auch um Informationen zu erhalten und Kontakte zu Behörden etc. zu ermöglichen. Die größten positiven Effekte werden aber wohl der Gesundheitssektor und die Pharmaindustrie verzeichnen. Nachdem die Flüchtlinge aus teilweise schlecht entwickelten Ländern sowie Kriegsgebieten kommen BayernLB Megatrend Demografischer Wandel August 2016 8 und die Flucht meist sehr strapaziös war, wird bei vielen Flüchtlingsmigranten Nachholbedarf bei der Gesundheitsversorgung bestehen. Auch wenn die Flüchtlinge laut Bundesärztepräsident Montgomery überdurchschnittlich gesund sind und das Gesundheitssystem voraussichtlich weniger stark belasten als zunächst befürchtet, steigt die Nachfrage nach medizinischen Dienstleistungen spürbar. Die Beratungsfirma Deloitte prognostiziert, dass bei 800.000 Zuwanderern pro Jahr 2.250 zusätzliche Klinikbetten und 2.100 Ärzte und Pflegekräfte nötig werden. Gewinner der Flüchtlingskrise ist auch der Bildungssektor Ein weiterer Profiteur der Flüchtlingskrise ist der Bildungssektor (siehe Grafik unten). Da der soziale und wirtschaftliche Nutzen, der durch die Flüchtlinge – im Idealfall – langfristig generiert werden soll, hauptsächlich von ihrer Integration abhängig ist, stellt dies eine Investition in die Zukunft dar, deren Erfolg allerdings nicht garantiert ist. Dieser hängt wesentlich von den Integrations-, Bildungs-und Qualifizierungsanstrengungen aller Altersgruppen ab. Laut Bundesregierung hat die Integration höchste Priorität. Bei rund 325.000 Schülern unter den Asylbewerbern würden über 20.000 Lehrer mehr benötigt, sagte die Präsidentin der Kultusministerkonferenz Kurth. Die Länder könnten den Neubedarf an Lehrern für Flüchtlingskinder etwa durch die Reaktivierung pensionierter Pädagogen, eine Aufstockung der Stundenzahl von Teilzeitkräften, die Zuhilfenahme von Studienreferendaren und die Weiterqualifizierung aktiver Lehrer für Deutsch als Fremdsprache schultern. Neben dem Spracherwerb der Flüchtlinge geht es auch um kulturelle Bildung und die Vermittlung von Grundwerten, bessere Regelungen zur Anerkennung im Ausland erworbener Qualifikationen und verbesserte Zugänge zu Ausbildung, Studium und Arbeitsmarkt. Hierfür ist eine Aufstockung des Personals notwendig. Laut Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) liegt der zusätzliche Finanzbedarf des Bildungswesens für die Integration der Flüchtlinge bei jährlich 4,2 Milliarden Euro. Davon profitieren sowohl der staatliche Lehrbetrieb als auch die private Bildungsindustrie. Bildungsausgaben 2013 Bildungsausgaben/Flüchtling in € (lS) 8.000 Jährl. Gesamtkosten durch Flüchtlinge in Mio. € (rS) 7.862 6.864 5.534 6.870 1.200 6.000 1.000 4.000 800 2.000 493 0 195 600 400 Anmerkung: Die Gesamtkostenschätzungen beruhen auf einer Schätzung von jährlich 800.000 zu versorgenden Flüchtlingen mit einem Altersprofil, das demjenigen der Asylbewerber am 31.12.2014 entspricht. Quelle: Finanzwissenschaftliches Forschungsinstitut an der Universität zu Köln Fazit Obwohl der EU-Türkei-Deal zunächst die politisch gewünschte Wirkung zeigt und der Flüchtlingsstrom nach Mittel- bzw. Nordeuropa eingedämmt wurde, ist die Krise nicht gelöst. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Abkommen dauerhaft Bestand haben wird, ist mit den jüngsten Entwicklungen in der Türkei weiter gesunken. Unabhängig davon gibt es neben der Balkanroute aber auch zahlreiche andere Routen (z.B. über Italien), die als Zugang in die EU genutzt werden; mit einem Abreißen des Zustroms ist nicht zu rechnen, BayernLB Megatrend Demografischer Wandel August 2016 9 auch wenn der Höhepunkt voraussichtlich 2015 erreicht wurde. Obwohl das Ausmaß der Flüchtlingsmigration auf das deutsche Wachstum eher mäßig ausfällt, gibt es doch Wirtschaftszweige, die zumindest kurzfristig Nutzen aus der Flüchtlingskrise ziehen können: Dazu zählen neben dem Bildungssektor auch die Bauindustrie, die Pharma- und Gesundheitsbranche sowie der Einzelhandel. Ob das Wachstum Deutschlands durch die Migration auch mittel- bis langfristig auf ein höheres Niveau gehoben werden kann, und ob der wirtschaftliche Nutzen die höheren Staatsausgaben, die durch die Aufnahme und Versorgung anfallen, überkompensieren wird, hängt maßgeblich von der Integration der Flüchtlinge in Gesellschaft und Arbeitswelt ab. [email protected] [email protected] BayernLB Megatrend Demografischer Wandel August 2016 10 Das Research-Team der BayernLB BayernLB Research Dr. Jürgen Michels, Chefvolkswirt und Leiter Research, -21750 Anna Maria Frank, -21751 Sekretariat Ingo Bothner, -21787 Medienfachwirt (IHK) Volkswirtschaft Dr. Johannes Mayr, Euro-Raum, EZB, -21859 Investment Research Alexander Plenk, CFA, -27076 Manuel Andersch, -27448 Pfund/UK, Schweizer Franken/Schweiz Zinsstrategie, Staatsanleihen, SSA Christiane von Berg, -28745 USA/Fed, Japan/BoJ Wolfgang Kiener, -27058 Dollar, Yen Dr. Stefan Kipar, -27346 Deutschland Alexander Aldinger, -24877 Asja Hossain, CFA, -27065 Dr. Norbert Wuthe, -27209 Covereds & Financials Alfred Anner, CEFA, -27072 Covered Bonds Dr. Ulrich Horstmann, CEFA, -21873 Financials Länderrisiko- und Branchenanalyse Hubert Siply, -21307 Stefan Voß, -21808 Financials Länderrisikoanalyse Credits Dr. Alexander Kalb, -22858 Westeuropa, Südamerika Amir Darabi, -25727 Corporate Bonds & SSD Manuel Schimm, - 26845 Asien, Nordamerika Matthias Gmeinwieser, CIIA, -26323 Corporate Bonds & SSD Gebhard Stadler, -28891 Osteuropa/GUS, Mittelamerika Miraji Othman, -25888 Strategie Verena Strobel, -21320 Naher und Mittlerer Osten, Afrika Christian Strätz, CEFA, CIIA, -27068 Corporate Bonds & SSD, Strategie Branchenanalyse Aktienmarkt/Strategie/Privatkunden Wolfgang Linder, -21321 Auto, Chemie, Pharma, Luftfahrt, Rohstoffe & Stahl, Öl & Gas, Logistik Manfred Bucher, CFA, -21713 Christoph Gmeinwieser, CIIA, -27053 Thomas Peiß, -28487 Bau, Elektroindustrie, Maschinenbau, Versorger, Handel, Telekom, Medien Technische Analyse E-mail: [email protected] Telefon: 089 2171 + angegebene Durchwahl Hans-Peter Reichhuber, -21780 Zinsen, Währungen, Aktien Stand: Juni 2016 #END1# BayernLB Megatrend Demografischer Wandel August 2016 11 Disclaimer Diese Publikation ist lediglich eine unverbindliche Stellungnahme zu den Marktverhältnissen und den angesprochenen Anlageinstrumenten zum Zeitpunkt der Herausgabe der vorliegenden Information am 02.08.2016. Die vorliegende Publikation beruht unserer Auffassung nach auf als zuverlässig und genau geltenden allgemein zugänglichen Quellen, ohne dass wir jedoch eine Gewähr für die Vollständigkeit und Richtigkeit der herangezogenen Quellen übernehmen können. Insbesondere sind die dieser Publikation zugrunde liegenden Informationen weder auf ihre Richtigkeit noch auf ihre Vollständigkeit (und Aktualität) überprüft worden. Eine Gewähr für die Richtigkeit und Vollständigkeit können wir daher nicht übernehmen. Die vorliegende Veröffentlichung dient ferner lediglich einer allgemeinen Information und ersetzt keinesfalls die persönliche anleger- und objektgerechte Beratung. Für weitere zeitnähere Informationen stehen Ihnen die jeweiligen Anlageberater zur Verfügung. Impressum Megatrends abgeschlossen am: 2. August 2016 BayernLB Research Bayerische Landesbank 80277 München (Briefadresse) E-Mail: [email protected] Leitung: Dr. Jürgen Michels, Telefon 089 2171-21750 Redaktion: Hubert Siply, Telefon 089 2171-21307 Layout &Grafik: Ingo Bothner, Telefon 089 2171-21787 Redaktion: Bayerische Landesbank Unternehmensbereich 5700 80277 München (=Briefadresse) [email protected] Geschäftsgebäude: Bayerische Landesbank Brienner Straße 18 80333 München (=Paketadresse) www.bayernlb.de BayernLB Megatrend Demografischer Wandel August 2016 12 BayernLB
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