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H. Dreßing
Sozialmedizinische Begutachtung de s
chronischen Müdigkeitssyndroms —
Objektivere Beurteilung mit Hilfe
polysomnographischer Diagnostik ?
Ein kasuistischer Beitrag
durchgeführt . [1] Dabei wird der Patient aufgefordert, sich im Abstand von zwei Stunde n
hinzulegen, um einzuschlafen, zugleich wir d
eine polysomnographische Ableitung durchgeführt, die es erlaubt, objektiv festzustellen, o b
der Patient eingeschlafen ist . Entsprechend e
Normwerte (Einschlaflatenz unter 10 Minuten )
gestatten die objektive Feststellung und Quantifizierung einer Hypersomnie . In diesem Test
konnte bei dem Untersuchten jedoch kein e
erhöhte Tagesmüdigkeit objektiviert werden .
Differentialdiagnostisch e
Überlegunge n
Zusammenfassung Begutachtungsfragen im Zusammenhang mit dem chronische n
Müdigkeitssyndrom werden zunehmend häufiger . Dargestellt werden die diagnostischen Kriterien dieses Krankheitsbildes sowie differentialdiagnostische Abgrenzunge n
zur Neurasthenie, Depression, Angsterkrankung und zur Somatisierungsstörung . Weiter werden Besonderheiten der Begutachtungssituation und Kriterien der sozialmedizinischen Leistungseinschätzung einschließlich objektiver und quantifizierender polysomnographischer Untersuchungsverfahren besprochen .
Schlüsselwörter Chronisches Müdigkeitssyndrom – Diagnostik – Polysomnographi e
– Leistungsfähigkeit – Begutachtun g
Einleitun g
Das Konzept des chronischen Müdigkeitssyndroms (Chronic-Fatigue-Syndrom .
CFS) wurde 1988 am amerikanischen
Center of Disease Control als Forschungsprojekt entwickelt, gelangte aber
rasch besonders durch den Einfluß von
Medien und Selbsthilfeorganisationen in
das Zentrum öffentlichen Interesses [61 .
Zunehmend ist auch der Psychiater mi t
Begutachtungsfragen im Hinblick auf di e
Leistungseinschätzung bei Betroffenen
beschäftigt, bei denen diese Diagnose vo n
vorbehandelnden Ärzten gestellt wurde .
Dabei ergeben sich besonders die folgen den drei Problembereiche :
Differentialdiagnostische Einschätzun g
des Krankheitsbildes und Abgrenzung
zu psychiatrischen Krankheitsbildern ,
z . B . der Neurasthenie .
Schwierigkeiten in der Beziehungsaufnahme zu dem zu Begutachtenden .
Bewertung der vorwiegend subjektive n
Symptome im Hinblick auf das Lei stungsvermögen .
Im Folgenden werden am Beispiel einer
Kasuistik diese Problembereiche besprochen und die Wertigkeit zusätzlicher objektivierender Untersuchungsmethode n
Anschrift des Verfassers :
Dr. med . H. Dreßin g
Zentralinstitut fü r
Seelische Gesundhei t
68159 Mannheim
194
(Polysomnographie) für die Leistungseinschätzung diskutiert .
Kasuisti k
Bei dem männlichen Patienten wird von Seite n
des behandelnden Arztes die Diagnose eine s
CFS gestellt . Im Vordergrund der Symptomati k
steht eine ausgeprägte Müdigkeit und Erschöpfung, der Betroffene gibt an, vor Erschöpfun g
mehrmals täglich unwillkürlich immer wiede r
einzuschlafen . Die Tagesaktivität hat sich erheblich verringert . Die frühere berufliche Tätigkeit wird seit zwei Jahren nicht mehr ausgeübt .
In einem auswärtigen Schlaflabor wurde da s
Vorliegen eines Schlafapnoesyndroms bereits ausgeschlossen, eine differenzierter e
polysomnographische Untersuchung erfolgt e
aber bisher nicht .
Da eine ausgeprägte Tagesmüdigkeit im Vordergrund der Klagen steht, äußert ein Vorgutachter auch den Verdacht auf das Vorliege n
einer Narkolepsie . Im Rahmen der neurologischpsychiatrischen Untersuchung ergibt sich ei n
völlig unauffälliger neurologischer Befund . Di e
subjektiv geklagte Müdigkeit und damit ein hergehende Konzentrationsstörungen lasse n
sich in der mehrstündigen Exploration un d
auch der dreitägigen Beobachtung auf Statio n
nicht objektivieren . Es ergibt sich auch kei n
Hinweis auf ein depressives Syndrom . Insgesamt ist der psychopathologische Befund unauffällig .
Die polysomnographische Untersuchung ergib t
weder einen Hinweis auf ein Schlafapnoesyndrom noch auf eine Narkolepsie . Der Nachtschlaf zeigt ein im wesentlichen unauffällige s
Muster .
Zur Objektivierung der berichteten Tagesmüdigkeit wird ein Multipler Schlaflatenz-Test
Die Symptomatik des CFS ist unspezifisch und umfaßt die folgenden Kriterie n
[5] :
Hauptkriterium ist eine neu aufgetretene Erschöpfung, die nicht durch Bettruh e
verschwindet und zu einer Verringerun g
der Tagesaktivität unter 50 % des gewohnten Aktivitätsniveaus führt . Ander e
körperliche oder psychiatrische Erkrankungen, die zu ähnlichen Symptomen
führen, müssen ausgeschlossen sein . Von
den folgenden Nebenkriterien müssen zusätzlich zum Hauptkriterium sechs von
elf weiteren Items erfüllt sein, um di e
Diagnose stellen zu können : mildes Fieber. Halsschmerzen, schmerzhafte Lymph knoten, generalisierte Muskelschwäche ,
Muskelschmerzen, verlängerte Erschöpfung, Kopfschmerzen, Arthralgien, neuropsychologische Symptome wie z . B .
Vergeßlichkeit. Reizbarkeit . Schlafstörun gen, akuter oder subakuter Beginn .
Als wichtigste Differentialdiagnose is t
auf psychiatrischem Fachgebiet die Neurasthenie zu nennen : Die ICD-10-Kriterien nennen hier als Hauptsymptom entweder anhaltende und quälende Klage n
über gesteigerte Ermüdbarkeit nach geistiger Anstrengung oder über körperlich e
Schwäche und Erschöpfung nach geringen Anstrengungen . Weiterhin muß mindestens eines der folgenden Symptom e
vorliegen : akute oder chronische Muskel schmerzen, Benommenheit, Spannungskopfschmerzen . Schlafstörungen, Unfähigkeit zu entspannen, Reizbarkeit.
Aufgrund der weitgehenden Deckungsgleichheit der Symptomatik erfüllen di e
meisten Patienten sowohl die diagnostischen Kriterien des chronischen Müdigkeitssyndroms als auch der Neurastheni e
[2] . Dies trifft auch auf den kasuistisc h
vorgestellten Patienten zu .
In einem sozialmedizinischen Gutachten sollte darauf hingewiesen werden, da ß
es sich hierbei nicht um völlig unter schiedliche Krankheitsentitäten handelt.
sondern eher um eine schulenspezifisc h
unterschiedliche Benennung ähnlich ge MED SACH 97 (2001) No 5
lagerter Beschwerdekomplexe . Letztlic h
ist es für die sozialmedizinische Leistungseinschätzung auch nicht bedeutsam, ob man die Beschwerden nun al s
CFS oder als Neurasthenie diagnostiziert ,
sondern hierfür entscheidend sind die
Auswirkungen der Symptomatik auf die
Leistungsfähigkeit . Differentialdiagnostisch abgegrenzt werden müssen abe r
unbedingt eine depressive Symptomatik –
was aufgrund der dabei klaren psychopathologischen Veränderungen in der Rege l
auch problemlos ist – und somatoform e
Störungen, bei denen die Patienten trot z
vielfältiger medizinischer Untersuchungen mit negativem Ergebnis auf eine r
rein körperlichen Verursachung ihrer Beschwerden beharren .
Beziehungsaufnahme zu de m
Patiente n
Die Beziehungsaufnahme zu einem Patienten, der mit der Vordiagnose eines CFS
zur Begutachtung kommt, kann sic h
schwierig gestalten . Meistens hat der Betroffene eine Vielzahl von für ihn unbefriedigenden Arztkontakten hinter sich ,
bis er – meist aus eigener Initiative durc h
Informationen aus den Medien – z u
einem Zentrum gelangt, in dem die Diagnose eines chronischen Müdigkeitssyndroms gestellt wird . In der Regel ist vo n
einem großen Engagement und auc h
Kenntnisstand des zu Untersuchenden bezüglich dieses Krankheitsbildes auszugehen, oft sind die Betroffenen auch i n
Selbsthilfegruppen organisiert .
Trotz fortbestehender Beschwerden bedeutet die Diagnose des chronischen Müdigkeitssyndroms für viele Patienten ei n
Erklärungsmodell, mit dem sie sich erns t
genommen und akzeptiert fühlen . Da si e
vermutlich häufiger eine ablehnende Haltung von Seiten vieler Ärzte erfahren haben, begegnen sie auch dem Gutachter
eher mit Skepsis, vielleicht auch mit Vor behalten oder gar mit Ablehnung ; es interessiert sie, welche Haltung der Gut achter zu diesem Krankheitsbild hat . D a
gerade auch von Seiten mancher Selbsthilfeorganisationen oder durch Medien berichte gelegentlich eine ideologisieren de und spaltende Atmosphäre geschaffe n
wird, wird eine kritische und abwägend e
Auseinandersetzung mit der Diagnos e
vom Betroffenen unter Umständen scho n
als Ablehnung oder Unkenntnis interpretiert .
Es empfiehlt sich deshalb für den Gut achter, eine offene und nicht wertend e
Haltung gegenüber der Diagnose CF S
einzunehmen, da, wie schon ausgeführt,
MED SACH 97 (2001) No 5
die diagnostische Etikettierung für die relevanten sozialmedizinischen Leistungseinschätzungen ohnedies eher sekundä r
ist . Es ist wichtig, eventuell im Gutachter aufkommende negative Gegenübertragungsgefühle bewußt wahrzunehmen un d
zu kontrollieren, um eine gerechte Leistungseinschätzung vornehmen zu können .
Sozialmedizinisch e
Leistungseinschätzun g
Unabhängig davon, ob man die subjektive Beschwerdesymptomatik des Patienten als CFS oder als Neurasthenie diagnostiziert, sollte man für die Leistungseinschätzung die folgenden vier Ebene n
berücksichtigen, die auch empirisch überprüfbar sind :
Aktueller Befun d
Bezüglich der aktuellen Beschwerden i n
der Untersuchungssituation kann auf eine r
visuellen Analogskala (0 = überhaup t
nicht müde bis 10 = maximale Müdigkeit) das aktuelle Ausmaß der Müdigkei t
und Erschöpfung erfragt werden . Die s
kann dann in Korrelation zu dem beobachtbaren Verhalten (kann z . B . eine
mehrstündige Exploration konzentriert
bewältigt werden?) gesetzt werden . Gib t
ein Proband z . B . eine maximale Müdigkeit und Erschöpfung an, ist dabei aber i n
der Lage, mehrere Stunden an der Untersuchung konzentriert und aktiv mitzuwirken, so ist das Ausmaß der subjektiv empfundenen Müdigkeit eher zu relativieren .
Mittels des Multiplen Schlaflatenz-Test s
(MSLT) ist auch eine objektive Einschätzung der Tagesschläfrigkeit möglich .
Bei dem in der Kasuistik vorgestellte n
Betroffenen wurde diese Untersuchun g
durchgeführt, da er eine ganz ausgeprägte Tagesmüdigkeit auch mit Einschlafneigung schilderte . Eine objektiv erhöhte Tagesmüdigkeit konnte bei ihm im MSLT
aber nicht nachgewiesen werden . Der
Einsatz dieser objektiven polysomnographischen Methode erscheint sinnvoll i n
Fällen, bei denen eine erhöhte Tagesmüdigkeit im Vordergrund der subjektive n
Beschwerden steht, da hierdurch die Leistungseinschätzung eine zusätzliche objektiv quantifizierende Basis erhält .
Bisheriger Verlau f
Ähnlich wie bei der Begutachtung neurotischer Störungen ist zu prüfen, ob ei n
Betroffener bereits mehrere Heilverfahren und ambulante Therapien erfolglo s
absolviert hat und ob der Tagesablau f
vollständig durch die subjektive Be -
schwerdesymptomatik geprägt ist . Is t
dies der Fall, so muß man wie bei neurotischen Störungen von einer Chronifizierung und einem erheblichen Leidens druck ausgehen [3J . Der kasuistisch dargestellte Untersuchte hat dagegen nac h
Diagnosestellung keine weiteren Therapie anstrengungen unternommen . Vielmehr
hat er sich offensichtlich gut mit seine n
Symptomen in einem Alltag ohne Arbeitsanforderungen arrangiert . ein wesentlicher Leidensdruck war nicht erkennbar.
Assoziierte psychopathologisch e
Symptom e
Bei schwerem und chronifiziertem CFS
kann man reaktive psychopathologische
Symptome finden, besonders eine depressive Symptomatik und eine Angstsymptomatik . Diese können eine zusätzliche Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit bedingen . Fehlen diese assoziierten Sympto me, so kann man umgekehrt z . B . eine
depressive Hemmung der Willensfunktionen ausschließen . Dann muß diskutiert
werden, ob bei Anspannung der Willenskraft nicht doch eine vollschichtige Leistungsfähigkeit gegeben ist .
Soziale Kompeten z
Entscheidende Hinweise gibt auch di e
Einschätzung der allgemeinen soziale n
Kompetenz des Betroffenen, für die ma n
wichtige Hinweise aus der Schilderun g
des üblichen Tagesablaufs, der soziale n
Kontakte, der Hobbies, der Vereins- un d
Urlaubsaktivitäten erhalten kann . Auc h
die von Widder und Aschoff 171 erstellte
Indizienliste zur quantitativen Beurteilung des beruflichen Leistungsvermögen s
ist hierfür hilfreich .
Es ist zu betonen, daß es sich bei der
Bewertung der geschilderten Untersuchungsebenen nicht um eine Beurteilun g
der Glaubwürdigkeit der Angaben de s
Betroffenen handelt . Der Begriff der
Glaubwürdigkeit sollte in einem Gutachten auch strikt vermieden werden, da sic h
der Gutachter ansonsten dem Vorwurf der
Befangenheit aussetzt . Bei dem beschriebenen Vorgehen wird ja auch nicht an de r
Diagnose eines CFS beziehungsweis e
einer Neurasthenie gezweifelt, sondern e s
wird deren Ausmaß und Einfluß auf di e
verschiedenen Daseinsbereiche des Untersuchten abgeschätzt . Für die Leistungseinschätzung ist also nicht die Diagnos e
entscheidend, sondern der empirisch feststellbare Ausprägungsgrad und die Dauerhaftigkeit psychopathologischer Auffälligkeiten 14] sowie Einschätzungen de r
sozialen Kompetenz .
Bei dem in der Kasuistik vorgestellte n
Mann wurde die Diagnose eines CF S
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übernommen, differentialdiagnostisch wur de eine Neurasthenie diskutiert . Bei fehlendem Nachweis einer objektivierba r
erhöhten Tagesmüdigkeit (unauffällige r
Multipler Schlaflatenz-Test), deutlicher
Divergenz zwischen subjektiver Einschätzung der Erschöpfung und Konzentrationsstörung auf einer visuellen Analogskala und objektiv zu beobachtendem
Leistungsverhalten, eher geringer therapeutischer Bemühungen, fehlender assoziierter psychopathologischer Symptom e
und einer recht gut erhaltenen soziale n
Kompetenz ist ein vollschichtiges Leistungsvermögen für körperlich leichte
Arbeiten ohne besondere Anforderunge n
an die dauerhafte Konzentrationsleistung
und ohne besondere Streßanforderunge n
anzunehmen .
[4]
Literatu r
[ 1 ] Carscadon, M . A ., W. C. Dement, M. M.
Mitler: Guidelines for the Multiple Slee p
Latency Test : A Standard measure o f
sleepiness . Sleep 9, 519–524 (1986 )
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syndromes in chronic fatigue patientes an d
comparison subjects . British Journal of
Psychiatry 167, 503–506 (1995 )
[3] Foerster, K. : Die psychiatrische Beurteilun g
von Patienten mit neurotischen und somatoformen Störungen im Rahmen der ge -
[5]
[6]
[7]
setzlichen Rentenversicherung . Psychiatrische Praxis 20, 15–17 (1993 )
Foerster, K. : Psychiatrische Begutachtun g
im Sozialrecht . In : Psychiatrische Begutachtung, Venzlaff, U., K. Foerster (Hrsg .) .
Urban und Fischer, München-Jena, 199 9
Holmes, G. P, J. E. Kaplan et al . : Chroni c
fatigue syndrome : a working case definition . Annals of Internal Medicine 108 ,
387–389 (1988 )
Sack, M., P. Henningesen : Neurastheni e
und Chronic Fatigue Syndrome – ein e
Übersicht zur empirischen Literatur . Zsch .
psychosom .Med . 44, 319–337 (1998 )
Widder, W, J. C. Aschoff: Somatoform e
Störungen und Rentenantrag : Erstelle n
einer Indizienliste zur quantitativen Beurteilung des beruflichen Leistungsvermögens . MedSach 91, 14–19 (1995 )
Buchbesprechun!e n
Zum Umgang mit der Leich e
in der Medizi n
Handling of corpse in human medicin e
Von H.-K. Wellmer und G. BockenheimerLucius (Hrsg . )
Band 23 der Reihe „Research in Lega l
Medicine” (hrsg . von M. Oehmichen
und K.-St. Saternus) 2000, 262 S . ,
kartoniert, 50,11 Euro/98,– DM/715,– öS /
89,– sFr., Verlag Schmidt-Römhild,
Lübeck . ISBN 3-7950-0320- 2
Es ist verdienstvoll, daß sich der SchmidtRömhild Verlag dieses wichtige rechts medizinische Thema zu eigen gemacht
und die anläßlich eines Symposiums in
Heidelberg am B . 9 . 1994 gehaltenen Vorträge mit Diskussionsbeiträgen in aktualisierter Form auf 262 Seiten (einschließlich Sektions- und Transplantationsgeset z
im Anhang) abgedruckt hat . Veranstalter
war die Akademie für Ethik in der Medizin, unterstützt von R . Mattem (Heidelberg) sowie den Mitgliedern der Akademie
U. Schlaudraff (Göttingen), E. Seidler (Frei burg) und H.-B . Wuermeling (Erlangen) .
In der thematischen Einführung werde n
dem Inhaltsverzeichnis acht Thesen zur
traumatomechanischen Untersuchung a n
Leichen vorangestellt, die die Schwer punkte des Symposiums klar erkenne n
lassen (aus Platzgründen können nur einzelne hervorgehoben werden) . These 3 :
„Die Quantifizierung der mechanischen
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Einwirkung bei der Verletzungsentstehung und die Analyse der individuelle n
mechanischen Belastbarkeit ist durc h
kontrollierte mechanische Belastun g
menschlicher Leichen genauer meßbar
als durch alle anderen Methoden, etw a
Realunfallanalyse, Versuche mit Dummies etc .” . These 6 : „ . . . Durch traumatomechanische Untersuchungen wird di e
körperliche Integrität der Leiche weit we niger beeinträchtigt als durch klinisch e
Sektionen . Eine derartige vorausgegange ne Belastung ist an der Leiche äußerlic h
nicht erkennbar” . These 7 : „Bei Zustimmung des Verstorbenen zu Lebzeiten ode r
seiner Angehörigen verstoßen traumatomechanische Untersuchungen an Leiche n
nicht gegen Recht und Gesetz . Die Forschungen sind aus ethischer und wissenschaftlicher Sicht geboten, weil sie den
Schutz der Bevölkerung auf anders nich t
erreichbare Weise verbessern . . .” .
Hauptthemen waren, von hervorragen den Referenten bearbeitet : Pathologie de s
Sterbevorgangs, sichere Todeskriterien ,
Status des menschlichen Leichnams (au s
evangelisch- und katholisch-theologischer
sowie islamischer Sicht), Grenzen medizinischen Handelns (hier wird u . a . auf
Experimente mit Leichen in der Unfallforschung von R. Mattem und auf Unfallforschung, Biomechanik und Verkehrssicherheit von H. Appel und G.
Krabbe/ eingegangen), pietätvoller Um gang mit menschlichen Leichen aus der
Sicht des Pflegenden, des Rechtsmediziners und des Klinikseelsorgers .
Durch das Symposium sollten auc h
„Fehlinformationen und beleidigende
Darstellungen in den Medien” richtiggestellt werden . Es wurde auf den dringenden weiteren Diskussionsbedarf zu de n
angesprochenen Themen hingewiesen .
Im Geleitwort zu dem Buch „Sektio n
der menschlichen Leiche” (Brugger/Kühn ,
Enke 1979) hat W. Doerr gesagt : „Es sin d
nicht die Pathologen, die auf das Sezieren angewiesen sind, es sind die behandelnden Ärzte, es ist die Gesundheitsverwaltung eines Landes und es ist i m
letzten Grunde die Öffentlichkeit” .
Aus der Pressekonferenz zum Symposium zitiere ich : „Es besteht Einmütigkei t
darüber, daß die Mediziner nichts zu verbergen haben, aber noch nicht ausreichend gelernt haben, mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren . Allerdings wurde auch beklagt, daß eine gewiss e
Empörungsmentalität sich allzu leich t
vermarkten läßt . Die Gesellschaft kan n
aber nicht zugleich erwachsen sein un d
Kind sein wollen . Auch die für das persönliche Empfinden unangenehmen Wahr heiten müssen ausgehalten werden, daz u
bedarf es der besseren Einübung in di e
Verständigung medizinischer Wissenschaft und Öffentlichkeit” .
Die hoch aktuelle Schrift gehört i n
jede rechtsmedizinische und juristisch e
Bibliothek.
G . Schmidt, Heidelberg
MED SACH 97 (2001) No 5