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Neurologie Kap 1-7_KORR
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Gefäßerkrankungen des Gehirns und des
Rückenmarks
1.1 Ischämisch bedingte Durchblutungsstörungen
des Gehirns
C. Müller, K. Zeiler
Epidemiologie
Etwa 80% der Schlaganfälle werden durch ischämisch bedingte Durchblutungsstörungen des Gehirns verursacht. In Mitteleuropa liegt die Inzidenz von zerebralen Durchblutungsstörungen auf ischämischer Basis in der Größenordnung
von etwa 200/100.000 Einwohner. Unter den Todesursachen liegt der Schlaganfall nach Herzkreislauf-Erkrankungen und malignen Tumoren an dritter Stelle.
Anatomische und physiologische Grundlagen
Die Blutzufuhr zum Gehirn erfolgt über die beiden Aa. carotides internae und die beiden
Aa. vertebrales.
Carotis-Versorgungsgebiet. Die A. carotis communis entspringt rechtsseitig aus dem
Truncus brachiocephalicus, linksseitig meistens direkt aus dem Aortenbogen. An der Carotis-Bifurkation – etwa in Höhe des 4. Halswirbelkörpers – erfolgt die Aufzweigung in die
A. carotis interna und die A. carotis externa. Die A. carotis interna gelangt dann durch den
Canalis caroticus in den intrakraniellen Raum. Im Bereich der Siphonschlinge gibt sie als
ersten großen Ast die A. ophthalmica ab, die den intrakraniellen Raum gleich wieder verlässt und in die Orbita zieht. Im weiteren Verlauf werden die A. communicans posterior und
die A. choroidea anterior abgegeben. Die A. communicans posterior stellt eine direkte
Verbindung zur A. cerebri posterior der gleichen Seite dar. Die A. choroidea anterior versorgt mehrere wichtige tief gelegene Strukturen, wie z. B. Anteile des limbischen Systems,
der Stammganglien, der Capsula interna und des Tractus opticus.
Am sog. „Carotis-T“ erfolgt die Aufzweigung der A. carotis interna in ihre beiden großen
Endäste, die A. cerebri anterior und die A. cerebri media. Beide Gefäße geben in ihren
proximalen Abschnitten kleine perforierende Endarterien (Aa. lenticulostriatae) ab, die benachbarte tief gelegene Strukturen, wie z. B. Teile der Stammganglien, der Capsula interna und des periventrikulären Marklagers, versorgen. Die beiden Aa. cerebri anteriores sind
über die A. communicans anterior miteinander verbunden. Das Versorgungsgebiet der
Aa. cerebri anteriores umfasst die einander zugewandten medialen Flächen der Hemisphären und die Mantelkanten des Frontallappens und des Parietallappens. Die A. cerebri
media verläuft zur Fissura Sylvii und teilt sich dort in ihre Endäste, die sich bis hin zu den
zirkumferierenden leptomeningealen Arterien weiter verzweigen. Von den leptomeningealen Arterien gehen kleine penetrierende Äste ab, die die Konvexität des Frontal-, Parietalund Temporallappens sowie von kleinen Anteilen des Okzipitallappens versorgen. Die
leptomeningealen Arterien der A. cerebri media, A. cerebri anterior und A. cerebri posterior stehen auch untereinander über die sog. „Leptomeningeal-Anastomosen“ (Heubner) in
Verbindung.
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Das Versorgungsgebiet der Carotiden umfasst also den Großteil der Hemisphären mit Ausnahme der okzipitalen Regionen und der mediobasalen Anteile der Temporallappen.
Vertebro-basiläres Versorgungsgebiet. Die Aa. vertebrales entspringen meistens aus
den beiden Aa. subclaviae und ziehen durch die Foramina transversaria der Halswirbelkörper 6 bis 1 kranialwärts. In Höhe des 1. Halswirbels bilden sie jeweils eine Schleife („Atlasschlinge“) und treten dann durch das Foramen occipitale magnum in den intrakraniellen Bereich ein. Relativ häufig ist eine der Vertebralarterien deutlich kaliberschwächer als
die andere (Hypoplasie). Durch den Zusammenschluss beider Vertebralarterien wird die A.
basilaris gebildet. Noch vor der Vereinigung der Vertebralarterien gibt jedes Gefäß Äste zur
Bildung der A. spinalis anterior und die A. cerebelli inferior posterior ab. Als Variante
kann auch eine der Vertebralarterien in die A. cerebelli inferior posterior übergehen und als
solche enden, ohne dass eine Verbindung zur A. basilaris besteht. Über die A. cerebelli inferior posterior werden u. a. Kerne und Teile der Hemisphären des Kleinhirns versorgt.
Die A. basilaris gibt die Aa. cerebelli inferiores anteriores ab, die ebenfalls u. a. Kerne
und Teile der Hemisphären des Kleinhirns versorgen. Die Grenze zwischen dem Versorgungsgebiet der A. cerebelli inferior anterior und jenem der A. cerebelli inferior posterior ist
sehr variabel, diesbezüglich bestehen erhebliche interindividuelle Unterschiede. Knapp vor
der Teilung der A. basilaris gehen auch noch die Aa. cerebelli superiores ab, die u. a. die
noch verbleibenden Abschnitte des Kleinhirns versorgen. Der Hirnstamm erhält direkte Zuflüsse von der A. basilaris (perforierende wie auch zirkumferierende Arterien) wie auch von
allen das Kleinhirn versorgenden Arterien. Schließlich verzweigt sich die A. basilaris in die
beiden Aa. cerebri posteriores. Bald nach deren Ursprung gehen u. a. die Aa. communicantes posteriores, die die direkte Verbindung zum Carotis-Kreislauf herstellen, und die
Aa. choroideae posteriores ab. Von der A. basilaris, den Aa. cerebri posteriores und den
Aa. communicantes posteriores ziehen perforierende Äste zum Thalamus und zum Hypothalamus. Über die Aa. cerebri posteriores werden die überwiegenden Anteile der Okzipitallappen und die mediobasalen Anteile der Temporallappen versorgt. Eine gar nicht seltene Variante ist die Versorgung einer oder beider Aa. cerebri posteriores direkt aus den
jeweiligen Aa. communicantes posteriores; in diesen Fällen erhält auch der Okzipitallappen die Blutzufuhr zur Gänze aus dem Carotis-Kreislauf.
Anastomosen, Kollateralen. Der Hirnkreislauf zeichnet sich durch einen relativ großen
Variantenreichtum aus. So gibt es kaum einen Menschen, bei dem der Circulus arteriosus
Willisi nicht die eine oder andere Abweichung von der Norm aufweist. Ein weiteres Merkmal ist die Präsenz von zahlreichen Kollateralwegen, die dazu beitragen, dass das Gehirn
im Falle eines arteriellen Gefäßverschlusses in vielen Fällen von einem Infarkt verschont
bleibt bzw. dass ein solcher sich nur in einem begrenzten Teil des entsprechenden Gefäßversorgungsgebietes manifestiert.
Das wichtigste Anastomosensystem ist der Circulus arteriosus Willisi selbst. Im Falle einer
umschriebenen Mangelversorgung kann z. B. über die A. communicans posterior Blut vom
Carotis-Versorgungsgebiet in das vertebro-basiläre Versorgungsgebiet umgeleitet werden
und umgekehrt. Bei einem einseitigen Verschluss der A. cerebri anterior in ihrem basalen Anteil können die A. callosomarginalis und die A. pericallosa beider Seiten mit Blut versorgt
werden, sofern eine funktionsfähige A. communicans anterior vorliegt. Bei einem Verschluss
einer A. carotis interna erhalten nicht selten beide Aa. cerebri anteriores und beide Aa. cerebri mediae ihre Blutversorgung über die kontralaterale A. carotis interna („Cross-Flow“).
Ein weiteres wichtiges Anastomosensystem ist die sog. „Ophthalmica-Anastomose“. Im
Falle eines Verschlusses einer A. carotis interna kann Blut über Äste der ipsilateralen A.
carotis externa über die A. ophthalmica (retrograder Blutfluss) in den Carotis-Siphon distal
des Verschlusses geleitet werden; von dort fließt das Blut orthograd weiter in Richtung
Peripherie.
Bei Verschlüssen von Vertebralarterien kann Blut aus dem Versorgungsbereich der A.
carotis externa bzw. der A. subclavia über tiefe Halsgefäße in distal des Verschlusses gelegene Abschnitte der A. vertebralis gelangen.
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An der Gehirnoberfläche besteht ein ausgedehntes Anastomosen-Netz, über das die zirkumferierenden leptomeningealen Äste der Aa. cerebri anteriores, mediae und posteriores
miteinander in Verbindung stehen („Leptomeningeal-Anastomosen“).
Ob und inwieweit es möglich ist, die Blutversorgung in einem gefährdeten Gebiet über
Anastomosen zu gewährleisten, hängt vom mehreren Faktoren ab. Abgesehen von anatomisch vorgegebenen Faktoren spielt sicher auch der Zeitraum, innerhalb dessen sich ein
Verschluss eines arteriellen Gefäßes ereignet, eine entscheidende Rolle. Bei plötzlichem
Verschluss eines bisher voll funktionsfähigen Gefäßes, etwa im Zusammenhang mit einer
Embolie, ist die Aussicht auf eine ausreichende Kompensation über Kollateralen wahrscheinlich geringer als bei allmählich zunehmender Einengung eines Gefäßes bis zum Verschluss.
Pathophysiologische Aspekte
Ischämisch bedingte Hirndurchblutungsstörungen sind die Folge einer zu geringen Zufuhr
von Blut, Sauerstoff und/oder Glukose an das Gehirnparenchym. Da das Gehirn keine relevanten Vorräte an Sauerstoff und Glukose besitzt, ist es auf eine laufende Zufuhr dieser
Substrate angewiesen und toleriert nur eine sehr kurzzeitige Unterbrechung des Angebots.
Wenn die Blutzufuhr etwa 4 Minuten lang unterbrochen wird, entstehen bereits Nekrosen
an Ganglienzellen. Eine Unterbrechung der Blutzufuhr über 10 Minuten geht mit schwersten irreversiblen Schäden einher.
Erste Voraussetzung für eine klaglose Blutversorgung des Gehirns ist ein ausreichender
Perfusionsdruck in den intrakraniellen arteriellen Gefäßen. Ein Abfall des Perfusiondrucks
unter die kritische Schwelle kann aus verschiedenen Gründen erfolgen. Im Rahmen eines
starken Abfalls des systemischen Blutdrucks bzw. des arteriellen Mitteldrucks, etwa bei reduzierter kardialer Auswurfleistung, kann es u. a. auch zu einer diffusen Mangelversorgung
des Gehirns kommen. Eine hochgradige Einengung (Stenose) einer zuführenden Arterie
kann ebenfalls einen Abfall des lokalen Perfusionsdrucks in dem distal der Stenose gelegenen Gefäßabschnitt verursachen. Ein Zusammentreffen beider Faktoren – ein systemischer Blutdruck-Abfall bei arterieller Gefäßstenose – wirkt sich besonders ungünstig aus
und kann in dem vom poststenotischen Abschnitt des betroffenen Gefäßes abhängigen
Gehirnareal einen klinisch fassbaren Substratmangel bewirken.
Es kann jedoch auch bei einem systemischen Blutdruck im Normbereich und bei ausreichendem Perfusionsdruck in den intrakraniellen arteriellen Gefäßen zu einem kritischen
Substratmangel kommen. Diese Gefahr besteht dann, wenn mit dem Blut nicht ausreichend Substrat angeliefert wird, etwa bei ausgeprägter Hypoglykämie oder bei ausgeprägter Anämie mit einer deutlich reduzierten Sauerstoff-Transportkapazität des Blutes.
Ein weiterer pathophysiologischer Faktor, der den Perfusionsdruck in den intrakraniellen
arteriellen Gefäßen erheblich reduzieren kann, ist ein erhöhter intrakranieller Druck
(„Hirndruck“), z. B. im Zusammenhang mit einem Hirnödem, das sich u. a. auch bei ischämisch bedingten zerebralen Durchblutungsstörungen entwickelt. In der ersten Phase entsteht ein zytotoxisches Ödem, im Anschluss daran – bei ausgeprägter Ischämie – im Gefolge des Zusammenbruches der Bluthirnschranke zusätzlich auch noch ein vasogenes
Ödem. Erhöhter intrakranieller Druck jeglicher Ursache gefährdet die arterielle Versorgung
des Gehirnparenchyms. Ein intrakranieller Druckanstieg durch ein Ödem im Zusammenhang mit einer ischämisch bedingten Durchblutungsstörung des Gehirns wirkt sich jedoch
besonders ungünstig aus, da die an sich bereits mangelhafte Blutversorgung des Gehirns
noch zusätzlich beeinträchtigt wird.
Während beim Gesunden durch die Autoregulation der Gehirngefäße die Durchblutung
des Gehirns (jedenfalls innerhalb weiter Grenzen) unabhängig vom Blutdruck konstant gehalten wird, ist dies in einem von einer Ischämie betroffenen Gehirnareal nicht mehr der
Fall. Durch die Vasoparalyse und den Ausfall der Autoregulation erfolgt die Durchblutung
im ischämisch geschädigten Areal ausschließlich druckpassiv: je höher der arterielle Mitteldruck, desto höher der lokale Perfusionsdruck. Dies ist auch der Grund dafür, dass in
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der Akutphase nach einem ischämisch bedingten Schlaganfall ein supranormaler Blutdruck nicht nur toleriert wird, sondern sogar erwünscht ist.
Wenn die Gehirndurchblutung unter einen kritischen Wert („Funktionsschwelle“) absinkt,
kommt es zur klinischen Manifestation von Symptomen, die jedoch grundsätzlich noch reversibel sind. Erst wenn die Durchblutung noch weiter unter einen zweiten kritischen Wert
(„Infarktschwelle“) abfällt, resultieren irreversible Schäden. Der Bereich zwischen den beiden genannten kritischen Werten wird „Penumbra“ („Halbschatten“, Randzone) genannt.
Auf das Überleben der Gehirnzellen in dieser „Penumbra“ konzentrieren sich alle therapeutischen Bemühungen, da dieser Parenchymanteil (noch) nicht verloren ist und die klinischen Symptome grundsätzlich noch reversibel sind (vgl. Diagnostik, MagnetresonanzTomographie).
Territorial-Infarkte. Territorial-Infarkte sind auf das Versorgungsgebiet (Territorium) einer Arterie begrenzt, umfassen den Kortex wie auch die subkortikale
weiße Substanz und sind häufig keilförmig konfiguriert. Falls das gesamte Versorgungsgebiet betroffen ist, spricht man von einem „Totalinfarkt“. Falls die
Randbezirke suffizient kollateralisiert werden, umfasst das Infarktareal nur die
zentralen Abschnitte des Versorgungsgebietes („zentraler Infarkt“).
Territorial-Infarkte werden fast immer durch eine Embolie oder durch eine lokalisierte Thrombose im versorgenden arteriellen Gefäß verursacht, wobei üblicherweise großkalibrige Arterien betroffen sind („Makroangiopathie“). Neben
oberflächlich gelegenen Infarkten sind auch Infarkte im Bereich tief gelegener
Strukturen (z. B. Stammganglien-Infarkt durch einen Verschluss der Aa. lenticulostriatae, Infarkt im Thalamusgebiet) möglich.
Hämodynamisch bedingte Infarkte. Hämodynamisch bedingte Infarkte finden
sich in den am weitesten peripher gelegenen Abschnitten eines arteriellen Versorgungsgebietes (im Bereich der „letzten Wiesen“; „Endstrominfarkte“) oder
im Bereich der „Wasserscheiden“ oder „Grenzzonen“, die zwischen den Versorgungsgebieten von zwei oder drei arteriellen Gefäßen lokalisiert sind („Wasserscheiden-Infarkte“ bzw. „Grenzzonen-Infarkte“).
Ursache ist ebenfalls fast immer eine Makroangiopathie, die hämodynamisch
relevante Stenosen oder Verschlüsse im Bereich der großen extrakraniellen (A.
carotis interna bzw. A. vertebralis) oder intrakraniellen (A. carotis interna, A.
cerebri media, A. cerebri anterior, A. basilaris, A. cerebri posterior) Arterien verursacht hat. In weiterer Folge kann der Perfusionsdruck im Bereich der „letzten
Wiesen“ bzw. der „Wasserscheiden“ nicht mehr aufrechterhalten werden. Auch
im Zusammenhang mit arteriellen Dissektionen können sich hämodynamisch
bedingte Infarkte ereignen.
Lakunäre Infarkte. Lakunäre Infarkte sind bevorzugt im Bereich der Stammganglien, des Thalamus und des Hirnstamms lokalisiert. Nur selten liegt eine
isolierte Lakune vor, fast immer sind multiple Infarkte („Status lacunaris“) zu
beobachten, im Allgemeinen mit einem Durchmesser von maximal 15 mm.
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Lakunäre Infarkte manifestieren sich üblicherweise im Rahmen einer „Mikroangiopathie“, die durch eine Arteriolosklerose (Lipohyalinose) der kleinkalibrigen
perforierenden Arterien (Arteriolen) verursacht wird. Im Einzelfall ist aber auch
eine thrombotische oder embolische Genese möglich.
Ursachen
Atherosklerotische Makroangiopathie. Prädilektionsstellen der Atherosklerose der großkalibrigen Arterien sind die Gefäßteilungsstellen und stark gekrümmte Gefäßabschnitte. Im Bereich der kraniozervikalen Gefäße sind die
Carotis-Bifurkation und die Abgangsstellen der Vertebralarterien bevorzugt
betroffen. Relativ häufig finden sich auch Veränderungen im Bereich des Carotis-Siphons, im proximalen Abschnitt der A. cerebri media, im distalen Vertebralis-Abschnitt, im Bereich der A. basilaris und im proximalen Abschnitt der A.
cerebri posterior.
Im Initialstadium besteht lediglich eine Intimaverdickung. Im weiteren Verlauf
bilden sich dann atherosklerotische Plaques, die von einer intakten Intima überzogen sind oder aber bereits exulzeriert sein können. Auf exulzerierte Plaques
setzen sich gerne Appositions-Thromben auf, die zu einer zunehmenden Einengung des Gefäßes bis zum Verschluss führen können. Von derartigen Thromben
können sich aber auch Thromboembolien lösen, die in den intrakraniellen Bereich eingeschwemmt werden.
Mit zunehmender Einengung des Gefäßes steigt die Gefahr, dass der Perfusionsdruck in den nachgeschalteten Gefäßabschnitten abfällt und sich ein hämodynamisch bedingter Infarkt (Endstrom-Infarkt, Wasserscheiden-Infarkt) manifestiert. Im Bereich der A. carotis interna wird eine derartige Stenose meistens
erst dann hämodynamisch relevant, wenn es zu einer Kalibereinengung um mindestens 70% kommt. Falls sich von einem exulzerierten Plaque Anteile des Appositions-Thrombus lösen und thromboembolisch wirksam werden, kommt es
meistens zur Manifestation eines Territorial-Infarktes, es können aber auch lakunäre Infarkte verursacht werden.
Bei Patienten mit ausgeprägter Atherosklerose an den basalen intrakraniellen Arterien kann es auch zu einer deutlichen Dilatation und Elongation von Gefäßen
kommen, sodass langstreckige fusiforme aneurysmatische Gefäßerweiterungen
entstehen. Meistens ist die A. basilaris („Megadolichobasilaris“) oder die A. carotis interna im Siphonbereich betroffen.
Atherosklerotische Mikroangiopathie (Arteriolosklerose). Die Atherosklerose kann auch kleinkalibrige Arterien befallen (Arteriolosklerose). Diese Form ist
durch eine Hyalinose (Lipohyalinose) und eine fibröse Degeneration der Gefäßwand gekennzeichnet. Folgen sind Gefäßwandnekrosen, auf denen thrombo-
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tische Auflagerungen entstehen, kleine Aneurysmen sowie eine Einengung und
letztlich ein Verschluss des Gefäßes. Das resultierende, relativ kleine Infarktareal kann dann auf CT- bzw. MRT-Bildern als „Lakune“ aufscheinen. Von dieser Form der Atherosklerose sind fast ausschließlich basale penetrierende kleine
Arterien bzw. Arteriolen betroffen. Die Entstehung bzw. die Progression wird
vor allem durch eine arterielle Hypertonie begünstigt, aber auch durch einen
Diabetes mellitus oder eine Hyperlipidämie.
Eine Sonderform ist die subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie
Binswanger. Bei dieser Erkrankung finden sich multiple Lakunen an typischer
Stelle, zusätzlich jedoch auch eine diffuse, ischämisch bedingte Demyelinisierung
im Marklager als Folge von multilokulären Thrombosen kleinkalibriger Arterien
mit multiplen subkortikal gelegenen kleinen Infarkten sowie eine Hirnatrophie.
Die Amyloidangiopathie, die in erster Linie zu intrazerebralen Blutungen führt,
ist an anderer Stelle beschrieben (vgl. 1.3 Spontane intrazerebrale Blutung).
Dissektionen. Mit den Fortschritten in der Entwicklung der bildgebenden Verfahren werden arterielle Dissektionen – v. a. bei Patienten im frühen oder mittleren Erwachsenenalter – immer häufiger als Ursache von Schlaganfällen identifiziert.
Unter arterieller Dissektion versteht man eine Spaltbildung in der Wand einer
Arterie, sodass gewissermaßen ein zweites Lumen entsteht. In manchen Fällen
kommt es zunächst zu einer Blutung in die Wand der Arterie und in weiterer Folge zu einem Durchbruch des Hämatoms in das physiologische Gefäßlumen. In
anderen Fällen entsteht zunächst ein Riss in der Intima (und ev. in Teilen der Media) der Gefäßwand, im weiteren Verlauf wühlt sich dann immer mehr Blut aus
dem physiologischen Gefäßlumen in die Gefäßwand.
Unabhängig vom auslösenden Mechanismus werden die Intima und ev. Teile der
Media vom Hämatom in der Wand zunehmend abgehoben und gegen das Gefäßlumen vorgewölbt. Dadurch entsteht eine lokalisierte, ev. aber auch weit
ausgedehnte Stenose des Gefäßes, im Extremfall kommt es zum Verschluss der
Arterie. Im Falle einer hämodynamisch relevanten Stenose bzw. eines GefäßVerschlusses kann sich im Versorgungsgebiet der betroffenen Arterie ein hämodynamisch bedingter Infarkt manifestieren. Andererseits kann es im Bereich des
Intima-Risses zu thrombotischen Auflagerungen kommen, die ebenfalls das
Gefäßlumen kritisch einengen und einen hämodynamisch bedingten Infarkt auslösen können. Und letztlich können sich von lokalisierten Thromben Thromboembolien lösen, die im Versorgungsgebiet des betroffenen Gefäßes einen Territorial-Infarkt verursachen. Sehr selten entsteht im Bereich der Dissektion ein
umschriebenes Aneurysma (Pseudoaneurysma).
Dissektionen der kraniozervikalen Arterien finden sich meistens im Bereich der
distalen Abschnitte der extrakraniellen Gefäße, wobei die distale A. carotis in-
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terna wesentlich häufiger betroffen ist als die distale A. vertebralis. Dissekate
der A. carotis interna betreffen meistens den Bereich von ca. 2 cm distal der
Bifurkation bis unmittelbar unter die Schädelbasis bzw. die Eintrittsstelle in das
Felsenbein. Dissekate der A. vertebralis sind meistens im Bereich zwischen
dem Austritt aus dem Foramen transversarium des Epistropheus und dem Eintritt in die Schädelbasis (Atlasschlinge) lokalisiert, eine Ausdehnung auf weiter
proximal gelegene Abschnitte ist möglich. Zu Dissektionen intrakranieller
Gefäße scheint es viel seltener zu kommen. Arterielle Dissektionen können in
jedem Lebensalter auftreten, auch bei Kindern. Gelegentlich sind gleichzeitig
zwei oder mehr Gefäße von Dissektionen betroffen.
Bei der Mehrzahl der Patienten ist ein Auslöser der arteriellen Dissektion identifizierbar. Wenn dies nicht der Fall ist, spricht man von „idiopathischer“ oder
„spontaner“ Dissektion. Die häufigsten Ursachen von Dissektionen der extrakraniellen hirnversorgenden Gefäße sind Tabelle 1.1 zu entnehmen.
Tabelle 1.1: Ursachen von Dissektionen der kraniozervikalen Arterien
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stumpfe Traumen im Halsbereich (z. B. Sicherheitsgurt-Verletzung)
Schleudertrauma der HWS
chiropraktische Manöver im Bereich der HWS
Schädelbasis-, Unterkiefer-Frakturen
Sportverletzungen (Karate, Ringen, Fußball, Gewichtheben, Tennis, Schilauf, Golf,
Tanzen mit schleudernden Kopfbewegungen)
längere Überstreckung der HWS im Rahmen handwerklicher Arbeiten
intraorale Verletzungen (z. B. bei Kindern, die mit einem Gegenstand im Mund
stürzen)
Überstreckung der HWS im Rahmen einer Intubation oder Maskenbeatmung
Husten, Niesen, Erbrechen
Pressen während der Geburt
begünstigend wirken präexistente Bindegewebserkrankungen (Ehlers-Danlos-Syndrom Typ IV, Marfan-Syndrom, Osteogenesis imperfecta, fibromuskuläre Dysplasie)
begünstigend wirken vorangegangene Infekte
Arterio-arterielle Thromboembolien. Der embolische Verschluss einer das
Gehirn versorgenden Arterie ist die häufigste Ursache eines zerebralen Infarktes.
Eine der möglichen Emboliequellen ist die Wand der Aorta ascendens bzw. des
Aortenbogens. Wenn atherosklerotische Plaques mit thrombotischen Auflagerungen in diesen Aortenabschnitten einen Durchmesser von mehr als 4 mm aufweisen, steigt das Risiko der Manifestation eines thromboembolisch verursachten zerebralen Infarkts auf das fast 10-Fache. Die weiteren Prädilektionsstellen
von atherosklerotischen Plaques im Bereich der hirnversorgenden Gefäße wurden bereits erwähnt (s. o.). Arterio-arterielle Thromboembolien führen in den
meisten Fällen zu Territorial-Infarkten, es können aber auch lakunäre Infarkte
verursacht werden.