MZSG Seminardokumentation 2001 F. Malik Die neue Position Die ersten 100 Tage Quelle: Auszug aus: M.o.M.Letter (Malik on Management) 06016026 Seite 1 von 1 Ein Stellenwechsel, eine Beförderung, die Übernahme neuer Aufgaben ist immer ein kritischer Schritt. Nur wenige Führungskräfte sind sich darüber im klaren, dass sie in dieser Situation wie sonst selten ihres eigenen Glückes Schmied sind. Insbesondere die jüngeren Manager, sagen wir unter Vierzig, geben sich darüber kaum Rechenschaft – kein Wunder, sie haben ja auch noch sehr wenig Erfahrung mit Beförderungen. Nicht selten eignen sie sich gerade wegen ihrer Beförderung eines der schlimmsten Verhalten an – sie werden arrogant. Sie glauben, jetzt hätten sie es geschafft. Bis dahin recht vernünftige Leute, die lernfähig und lernwillig waren, werden "bossy idiots". Leider richten sie ziemlich viel Schaden an; Schaden, der leicht vermeidbar ist, wenn man sich an ein paar einfache Regeln hält. Man hat nur wenig Zeit, um sich als neuer Chef zu etablieren. Es sind die ersten 100 Tage, in denen Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Kompetenz aufzubauen sind. 1. Keine Ankündigungen, keine grossen Programme, den Mund halten – und lernen Das Dümmste, was man in einer neuen Position tun kann, ist, am zweiten Tag nach Stellenantritt grosse Ankündigungen zu machen und allen zu sagen, "wo's lang geht". Das ist der sicherste Weg, allen in einer Abteilung, einem Profit Center, einem Unternehmen zu signalisieren, dass ein Dummkopf in eine Führungsposition befördert wurde. Kluge Leute verkünden weder grosse Programme, noch stellen sie ihre Abteilungen auf den Kopf. Sie arbeiten sich zuerst ein. Sie lernen soviel sie nur können über ihr neues Verantwortungsgebiet; sie führen Gespräche mit allen Mitarbeitern, zumindest mit den Schlüsselpersonen ihres neuen Aufgabenbereiches, und zwar lange und ausführliche Gespräche. Sie sagen niemandem "wo's lang geht", sondern sie stellen Fragen, viele Fragen, auch die vermeintlich dummen. Sie wollen niemandem vormachen, dass sie klug sind, auch wenn sie zwei Universitätsdiplome haben. 06016026 Seite 2 von 2 Sie haben die Grösse, zuzugeben, dass sie nichts von ihrem neuen Bereich verstehen, und daher arbeiten sie hart daran, herauszufinden, wie die Lage ist und worum es geht. Die einzige Ausnahme ist jener Fall, bei dem es für alle erkennbar um eine Sanierung geht, um eine Notlage also, in der rasche Entscheidungen notwendig sind, weil man keine Zeit verlieren darf. Aber das ist eine Ausnahme, und nicht die Regel. Im Regelfall wird jedem Neuen eine Schonfrist von 80 – 100 Tagen zugestanden. Während dieser Zeit erwartet niemand besondere Aktionen. Selbstverständlich sind alle Augen auf den neuen Chef gerichtet; er wird aufmerksam beobachtet; man verfolgt und registriert, was er tut und was er nicht tut – aber die Leute erwarten keine grossen Taten. Aktionitis, grosse Reformprogramme usw. ruinieren im Gegenteil Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Führerschaft. Die ersten 100 Tage sind die Zeit des Lernens, Beobachtens und Fragens. Praktisch immer ist es in dieser Zeit auch empfehlenswert, ja notwendig, nicht nur über den neuen Aufgabenbereich alles herauszufinden, was man wissen kann, sondern auch über sich selbst. Es lohnt sich, eine persönliche Standortbestimmung zu machen und Bilanz zu ziehen. Die wichtigsten Fragen sind: Wo liegen meine wirklichen Stärken? Was kann ich besser als andere? Welche meiner Stärken wird gerade für diese neue Position wesentlich sein? Worauf werde ich mich konzentrieren müssen? Die Antworten auf diese einfachen Fragen sind nie leicht und nie offenkundig. Es ist erstaunlich, wie wenige Menschen sich diese Fragen überhaupt systematisch und regelmässig stellen. Sie sind aber ausschlaggebend für den Erfolg jeder Person. Wo immer man grosse Leistungen sieht, darf man sicher sein, dass zwei Faktoren zusammengekommen sind: Die klare Erkenntnis einer Stärke, und die (fast) kompromisslose Konzentration darauf. 06016026 Seite 3 von 3 2. Was einem die Beförderung eingebracht hat, ist an der neuen Stelle eher falsch als richtig Punkt 1 ist der schwerste Fehler, den man nach einer Beförderung machen kann. Er kostet die Akzeptanz. Der häufigste Fehler ist aber Punkt 2, und auch er hat einen hohen Preis: Er kostet die Wirksamkeit. Die meisten Leute, die befördert werden, glauben, dies sei geschehen wegen ihrer besonderen Leistungen auf der vorhergehenden Stelle. In der Regel stimmt das auch. Darauf stützen sie dann die Überzeugung, sie müssten jetzt so weitermachen, wie bisher. Das ist aber fast immer falsch. Eine neue Stelle erfordert neue und andere Verhaltensweisen, eine andere Arbeitsweise, andere Schwerpunkte und Prioritäten und meistens auch ein anderes Handwerkszeug. Ein typisches Beispiel: Der beste Konstrukteur wird zum Konstruktionsleiter gemacht. An seiner bisherigen Stelle hat er vor allem konstruiert, und seine Konstruktionen haben dem Unternehmen vielleicht jedes Jahr zwei oder drei Patente eingebracht. Jetzt ist er aber Konstruktionsleiter. Was er jetzt mit Sicherheit nicht mehr tun darf, ist konstruieren. Er wird dazu auch gar keine Zeit mehr haben. Jetzt muss er eben die Abteilung leiten, jetzt muss er führen – und das ist etwas völlig anderes, als konstruieren. Nun werden von ihm keine Patente mehr erwartet, sondern die Erstellung eines Budgets, die Erarbeitung von Abteilungszielen, das Führen von Personalgesprächen, Personalbeurteilungen, Personalentwicklung, die Lösung von Organisationsfragen, Kontrolle, vielleicht die Mitwirkung an strategischen Entscheidungen – kurz, er muss Führungsarbeit leisten. Andere Beispiele sind: Die Beförderung des besten Verkäufers zum Verkaufsleiter, des besten Forschers zum Forschungsleiter; oder die Beförderung von der Spitze einer Fachabteilung (z.B. Marketing) an die Spitze eines Unternehmensbereiches, eines Geschäftsfeldes oder eines Profit Centers, wo gesamtunternehmerische Verantwortung nötig ist. 06016026 Seite 4 von 4 Möglicherweise ist die beförderte Person nicht besonders gut auf die neue Aufgabe vorbereitet worden. Das ist – im Gegensatz zu dem, was man meinen möchte – gar keine Seltenheit. Je weniger jemand vorbereitet wurde, umso mehr wird er sich an das klammern, was er kennt und was er kann. Die Folge ist, dass solche Leute mit grösstem Arbeitseinsatz (an dem fehlt es ja meistens nicht) das exakt Falsche tun, nämlich dasselbe wie bisher. Die entscheidenden Fragen zur Vermeidung dieses Fehlers lauten: Worauf kommt es für meinen Erfolg auf dieser Stelle an? Wofür werde ich hier bezahlt, und woran wird meine Leistung in dieser Position gemessen werden? Die Antworten auf diese Fragen liegen keineswegs auf der Hand, und vielleicht kann man sie auch gar nicht allein beantworten. Diese Dinge müssen gründlich durchdacht werden, und man ist gut beraten, dies alles mit seinem Chef zu besprechen und für Klarheit und Eindeutigkeit zu sorgen. Ganz sicher wird man die Verwendung seiner Zeit neu überdenken müssen. Es ist daher wichtig, seine Agenda neu zu strukturieren. Man muss das während der ersten 100 Tage tun und mit Sicherheit danach, in voller Kenntnis des Aufgabenbereiches, noch einmal. Alte Verpflichtungen fallen weg, neue kommen hinzu. Bisher ist man vielleicht zu Sitzungen aufgeboten worden, und hat als Teilnehmer einen eng begrenzten Beitrag zu leisten gehabt; jetzt muss man selbst Sitzungen terminieren, vorbereiten und durchführen. Oder man muss ganz andere Sitzungen, mit anderen Schwerpunkten und mit anderer Häufigkeit durchführen. Bisher hat man Dinge selbst erledigt; jetzt muss man sie erledigen lassen. Die Neustrukturierung der Agenda und das systematische Durchdenken der Zeitverwendung sind entscheidend für den Erfolg in einer neuen Position. 06016026 Seite 5 von 5 3. Identifikation der Schlüsselaufgaben des Bereiches Die Übernahme einer neuen Aufgabe erfordert nicht nur zu durchdenken, was man selbst anderes und anders machen muss als bisher. Sie verlangt gleichzeitig die folgenden Fragen zu durchdenken und zu klären: Welches sind die Schlüsselaufgaben für den ganzen Verantwortungsbereich? Welches sind die kritischen Erfolgsfaktoren, die wesentlichen Herausforderungen, die Key Issues? Was muss getan werden, damit dieser Bereich richtige und volle Leistung erbringt? Diese Fragen sind von jenen in Punkt 2 zu unterscheiden. Punkt 2 betrifft die neuen Anforderungen an die Arbeitsweise der beförderten Person. Punkt 3 stellt den ganzen Verantwortungsbereich in den Mittelpunkt. In den ersten 100 Tagen muss man herausfinden, welches die eigenen Schlüsselprioritäten und jene der wichtigsten Mitarbeiter sein müssen. Es gilt also, die Assignments zu bestimmen (siehe dazu M.o.M. 8/95). Worin bestehen die besonderen Stärken und Fähigkeiten dieser Abteilung? Was kann dieser Bereich besser als andere, und was kann er besser als die Konkurrenz? Was ist besonders änderungsbedürftig? Wo lassen sich die schnellsten Erfolge erzielen? Welche wenigen Dinge, Massnahmen, Entscheidungen usw. sind hier "kriegsentscheidend"? Fragen dieser Art, und die Antworten darauf sind es, die im Mittelpunkt der ersten 100 Tage stehen müssen. Ich empfehle, die Assignments aufzuschreiben. Sie sind der Schlüssel zum Erfolg oder zum Versagen in der neuen Position. Sie müssen daher klar dokumentiert sein. Und eine weitere Empfehlung: Wenn man glaubt, die Schlüsselaufgaben richtig identifiziert zu haben, muss man sie mit seinem Chef besprechen. Man muss herausfinden, wie er die Dinge sieht. Vielleicht sieht er sie gleich; dann hat man eine hervorragende Basis für die weitere Arbeit. Vielleicht sieht er sie anders. Dann ist es nötig, die Dinge auszudiskutieren und Konsens herzustellen. 06016026 Seite 6 von 6 4. Nur zwei Grundlagen für den Erfolg In einer neuen Position hat man, abgesehen von den bisher besprochenen Punkten, nur zwei Grundlagen für den Erfolg: Erstens, die Qualität der Mitarbeiter, die man hat, und zweitens, die neuen Anforderungen, die man an sie stellt. Mit dem ersten Aspekt meine ich die Qualität jener Leute, die schon da sind. Viele Führungskräfte würden am liebsten das ganze Personal, das sie vorfinden, austauschen, und manchmal wäre das vielleicht das Beste. Aber diese Alternative existiert leider nicht, sie ist eine Illusion. Niemand kann unter normalen Umständen innert nützlicher Frist eine ganze Mannschaft austauschen. Vielleicht kann man seine bisherige Sekretärin mitnehmen und unter sehr günstigen Bedingungen (aber meistens nur in sehr hohen Positionen) ist es vielleicht möglich, einige frühere, enge Mitarbeiter, auf die man sich verlassen kann, nachzuziehen. Im wesentlichen muss man aber mit jenen Leuten arbeiten, die man vorfindet. Der wesentliche Punkt ist, ihre Stärken zu erkennen und darauf aufzubauen. Der zweite Aspekt, die neuen Anforderungen, die man stellt, erweist sich in aller Regel als wesentlich für die Führerschaft in einer neuen Position. Man kann zwar meistens die Leute nicht austauschen, aber man kann andere Anforderungen an sie stellen. Diese neuen Anforderungen müssen während der ersten 100 Tage gründlich durchdacht werden. Sie müssen an den Stärken der Mitarbeiter orientiert sein und – sie müssen hoch sein, jedenfalls höher als bisher. Man verkündet also, wie schon gesagt, nicht grosse Programme, sondern man stellt hohe Anforderungen. Dabei können einem natürlich Fehler unterlaufen. Die Anforderungen können zu hoch sein. Der Grundsatz lautet aber: Man kann Anforderungen immer senken, wenn sie sich als zu hoch herausstellen; man kann sie aber kaum noch erhöhen, wenn man zu niedrig gegriffen hat. 06016026 Seite 7 von 7 5. Die besten Leute und die Mitstreiter herausfinden Die Qualität aller Mitarbeiter ist wichtig, aber eine der wesentlichen Aufgaben der ersten 100 Tage besteht darin, die wirklich besten Leute herauszufinden und diese, so gut es geht, als Mitstreiter zu gewinnen. Dies ist umso wichtiger, je grösser der Änderungsbedarf ist, den man feststellt. Hier sind zwei Dinge zu beachten: Erstens, man kann nie alle, auch nicht alle Besten gewinnen. Zum Glück ist das meistens auch gar nicht notwendig. Es genügt, eine kritische Zahl von guten Leuten zu haben, die mitzieht, die echten Einsatz zeigt, die Initiative ergreift und Verantwortung übernimmt. Die anderen, und es wird wahrscheinlich immer die grössere Zahl sein, sind Mitläufer, die anständige Arbeit leisten, aber keine neuen Standards realisieren. Zweitens, man darf keine Angst vor starken Leuten haben. Gute Leute, und darunter typischerweise die besten, sind meistens auch starke Persönlichkeiten und daher im Regelfall schwierig und eher unangenehm. Wer Angst hat vor starken Leuten, gehört nicht in eine Führungsposition, weder in eine niedrige, noch in eine hohe. Angst vor starken Leuten ist ein sicheres Anzeichen für Führungsschwäche, und es zeigt sich meistens sehr rasch. Man erkennt es daran, dass jemand angenehme und nette Mitarbeiter um sich schart, dass er gehorsame und gefügige Leute um sich sammelt, Jasager und Kopfnicker. Wer bei sich selbst diese Neigung in einer neuen Position verspürt, muss hart daran arbeiten, diesem Impuls nicht nachzugeben. 06016026 Seite 8 von 8 6. Ein neuer Chef und neue Kollegen Eine neue Position bringt es sehr oft mit sich, dass man auch einen neuen Chef und neue Kollegen hat. Aber selbst wenn es die alten Personen sind (das wird in den mittelständischen Unternehmen häufig der Fall sein), so ist doch die Beziehung zu ihnen eine neue und andere. Es ist daher unabdingbar, zu überlegen, ob und in welcher Weise sich die Zusammenarbeit mit ihnen verändert, und was man selbst tun muss, um eine konstruktive Arbeitsbeziehung herzustellen. Die Grundregeln für die Zusammenarbeit mit Chefs und Kollegen sind nach Antritt einer neuen Stelle besonders wichtig. Ich habe sie in M.o.M. 3/95 und 5/95 behandelt und bitte, dort nachzulesen. 7. Klare Direktiven am Ende der ersten 100 Tage Wer die kritische Periode der – grob gesprochen – ersten drei Monate auf die besprochene Weise nützt, wird am Ende dieser Zeit in der Lage sein, eine klare Situation für sich, für seine Mitarbeiter, für seinen Chef und für seine Kollegen zu schaffen. Er hat herausgefunden, was in der Abteilung, im Bereich zu tun ist; er kennt die Leute und hat die Besten identifiziert und sie gewonnen (oder er ist dabei, sie zu gewinnen); er hat die Dinge mit seinem Chef abgestimmt. Jetzt müssen die ersten Entscheidungen getroffen werden, die die Leute sehen und spüren können; jetzt müssen die neuen Massstäbe und Anforderungen allen klargemacht werden – und dann müssen sie gelten – bis die Lage sich wesentlich verändert hat, oder man erkennt, dass einem ein Fehler unterlaufen ist. 06016026 Seite 9 von 9 8. Rasche und sichtbare Erfolge Die Direktiven, Entscheidungen, Ziele und Massstäbe am Ende der ersten 100 Tage müssen mit einem Auge auf den raschen und sichtbaren Erfolg getroffen werden. Dies darf zwar nicht das Hauptkriterium sein. Mitarbeiter, Kollegen und der Chef würden sehr rasch den dahintersteckenden Opportunismus erkennen. Aber in den auf die ersten 100 Tage folgenden sechs bis neun Monaten muss man doch einige Erfolge vorweisen können, die die anderen sehen können. Es müssen nicht unbedingt grosse Erfolg sein. Aber es müssen Erfolge und Ergebnisse sein, die man sehen oder sichtbar machen kann. Der neue Chef muss spürbar sein, und zwar nicht nur durch Worte, durch Ziele und Massstäbe, sondern durch erste Resultate. Je besser das gelingt, umso grösser werden Vertrauen und Glaubwürdigkeit sein. Alle Menschen arbeiten lieber mit erfolgreichen Leuten zusammen, als mit solchen, die zwar hart arbeiten, denen aber das Ergebnis versagt bleibt. Die ersten Erfolge geben der neuen Richtung Überzeugungskraft und Schub. 9. Und was ist, wenn man erkennt, dass man am falschen Platz ist? Es ist denkbar und in Wahrheit gar nicht so selten, dass man nach den ersten 100 Tagen erkennt, dass man eigentlich in der falschen Position ist. Vielleicht fühlt man sich überfordert; man stellt fest, dass man nicht über das nötige Rüstzeug verfügt und es innert vernünftiger Zeiträume auch bei noch so grossem Einsatz nicht erwerben kann. Vielleicht will man aber die neuen Aufgaben auch gar nicht, selbst wenn man besser bezahlt wird – ein Fall, der zum Beispiel dann häufig vorkommt, wenn der beste 06016026 Seite 10 von 10 Konstrukteur Konstruktionsleiter wurde oder der beste Verkäufer Verkaufschef. Nun steht man vor einer sehr schwierigen Situation: Soll man sich durchbeissen? Soll man das tun, selbst auf die Gefahr hin, dass man scheitert oder Jahre der Frustration, nagender Selbstzweifel, schlafloser Nächte und aller anderen Begleiterscheinungen einer solchen Lage vor sich hat? Oder soll man zu seinem Chef gehen, ihm das in aller Offenheit sagen und ihn um eine Stellenänderung bitten? – auf die Gefahr hin, dass man in seinen Augen, jenen der Kollegen und Mitarbeiter und vielleicht auch in den Augen der eigenen Ehefrau und seiner Kinder als Versager dasteht? Hier ist guter Rat wirklich sehr schwer – insbesondere ein allgemeiner Rat. Im Einzelfall, wenn man die betreffende Person kennt und alle Umstände besprechen und klären kann, ist es sehr viel leichter, eine vernünftige Empfehlung zu geben. Wenn ich einen allgemeinen Rat geben muss, so neige ich zur Empfehlung, die Sache offen auszusprechen und eine Änderung der Stelle herbeizuführen. Ich weiss, dass das ungeheuer viel Mut verlangt und in die Nähe des Martyriums kommt. Jedenfalls schlage ich vor, diesen Schritt als Alternative sehr gründlich zu durchdenken und nicht einfach reflexhaft nach dem Motto zu handeln: "Augen zu und durch". Dieser Schritt, wenn er gemacht wird, ist in mehrfacher Hinsicht schwi erig – das Ansehen, die finanzielle Situation, die weitere Karriere – alles muss bedacht werden. Es ist eine echte Charakterprobe. Bei allen Schwierigkeiten, die das mit sich bringt, die Folgen sind per Saldo doch leichter zu ertragen, als jene des Verbleibens in einer Position, der man nicht gewachsen ist. An sich müssten natürlich alle diese Fragen bereits vor Antritt der neuen Stelle durchdacht und geklärt sein. Sie müssen Gegenstand der Beförderungsentscheidung als solcher sein und einer Bedenkfrist, die man jedem einräumen muss. Damit erspart man sich eine Fülle von Peinlichkeiten und Schwierigkeiten. Aber es ist besser, diesen Schritt nach den ersten 06016026 Seite 11 von 11 100 Tagen zu tun, als gar nicht und ihn ständig vor sich herzuschieben und hinauszuzögern. Vorgesetzte und Personalchefs sind gut beraten, diese Entscheidung ernst zu nehmen und die Person, die sie trifft, nicht fallen zu lassen. In aller Regel handelt es sich um sehr wertvolle Mitarbeiter, wenn sie auf der für sie richtigen Position eingesetzt werden. Es sind verantwortungsvollere Leute als jene, die eine Überforderung zu verschleiern und zu vertuschen versuchen. 10. Die neue Position an der Spitze einer Unternehmenseinheit Wer an die Spitze einer unternehmerisch-ergebnisverantwortlichen Einheit, eines Unternehmensbereiches, einer Tochtergesellschaft oder gar eines ganzen Unternehmens kommt, ist wahrscheinlich schon beförderungsgeprüft. Die hier dargelegten Dinge werden ihm bekannt und vertraut sein, aus mehreren Erfahrungen und aus vielen Fehlern. Alles bisher Gesagte gilt sinngemäss auch an der Unternehmensspitze. Man muss es dort aber mit noch grösserer Präzision anwenden. Es ist dort noch wichtiger, vor allem deshalb, weil man an der Unternehmensspitze definitiv sichtbar ist, man kann sich nirgends verstecken, auch nicht hinter einem pompösen Chefgehabe. Man steht – ob man will oder nicht – im Rampenlicht. An der Unternehmensspitze hat man meistens keine vollen 100 Tage Schonzeit. Man hat vielleicht die Hälfte oder noch weniger. Aber auch diese verkürzte Zeit sollte man in der dargelegten Weise nützen. Man muss eben noch schneller lernen und sich noch rascher einarbeiten. Ich habe Führungskräfte kennengelernt, die in solchen Situationen erheblich mehr gearbeitet haben, als sie das ohnehin taten. 16- bis 18Stundentage sind keine Seltenheit in dieser Lage. 06016026 Seite 12 von 12 Über die bereits gemachten Empfehlungen hinaus möchte ich für die neuen Aufgaben an der Unternehmensspitze die folgenden Punkte besonders betonen: 10.1 Die beiden Hebel: Finanzen und Personal Auf obersten Positionen mit gesamtunternehmerischer Verantwortung sind zwei Gebiete von besonderer Bedeutung, oft sind es die einzigen Hebel, die man hat: die Finanzen und das Personal. Sie sind in jeder Hinsicht erfolgsentscheidend, was auch immer sonst noch an Aufgaben erfüllt werden muss. Besonders die in obersten Positionen immer zahlreicher werdenden Techniker und Naturwissenschaftler haben meistens einen beträchtlichen Nachholbedarf in Fragen des Rechnungswesens und der Personalentscheidungen. Für die Finanzen und das Rechnungswesen kann man zwar Spezialisten einsetzen, aber man muss selbst doch ansehnliche Sachkenntnis aufbauen, weil man sonst ewig unsicher ist und das Geschäft eigentlich nie richtig versteht. Im schlimmsten Fall wird man von den Spezialisten "zum Affen gemacht". Die wesentlichen Personalentscheidungen kann man nie delegieren; man muss sie letztlich selbst treffen und selbst verantworten. 10.2 Neues Reporting Relativ schnelle und sichtbare Signale kann man durch neue Formen des Reportings setzen. Das gewöhnliche Controlling sollte in einem bisher einigermassen gut geführten Bereich bereits etabliert sein und gut funktionieren. Aber es genügt nicht. Man muss über alle Messgrössen für den Unternehmenserfolg und die Gesundheit eines Geschäftes orientiert sein. 06016026 Seite 13 von 13 Es gibt deren sechs. Ich habe sie ausführlich in M.o.M. 1/95 beschrieben. Mit ihrer Hilfe steuert man die Aufmerksamkeit der Mitarbeiter auf die richtigen Dinge. Was will der neue Chef wissen? Worüber will er orientiert sein? Das sind wichtige Fragen, die die Leute sich stellen, und man kann hier, wie gesagt, rasch neue Massstäbe setzen. 10.3 Schlüsselkontakte ausserhalb des Unternehmens In obersten Positionen muss man sich zwangsläufig mit Personen auseinandersetzen, die nicht im Organigramm des Unternehmens zu finden sind. Es sind wichtige Leute ausserhalb des Unternehmens: Kunden, Lieferanten, die Bankkontakte, Kooperationspartner, Medienleute usw. Ein erheblicher Teil der kritischen Einarbeitungszeit wird zwangsläufig den Gesprächen mit diesem Personenkreis zu widmen sein. Die wichtigen Beziehungen muss man selbst haben und pflegen. Auch das sind zu einem wesentlichen Teil undelegierbare Aufgaben. 10.4 Aufsichtsorgane Ebenso wichtig sind die eigenen Aufsichtsorgane – Aufsichtsrat, Beirat usw., ihre Präsidenten und ihre wichtigen Ausschüsse. Auch diese Kontakte müssen hergestellt und gepflegt sein, die Sicht dieser Personen ist wesentlich für den Erfolg, und man muss ihnen seine eigenen Auffassungen verständlich machen. 10.5 Neue Mitarbeiter Obwohl man auch an oberster Stelle im wesentlichen mit jenen Mitarbeitern arbeiten muss, die man bereits vorfindet, und deren Stärken nutzen muss, wird man sich hier doch relativ rasch fragen müssen, ob man Schlüsselstellen mit neuen Mitarbeitern besetzen soll. Die Stellenbesetzungen und die damit verbundenen Personalentscheidungen sind ohne Zweifel das stärkste, wichtigste und sichtbarste Si- 06016026 Seite 14 von 14 gnal neuer Führerschaft. Ich empfehle auch hier nicht, innerhalb der ersten zwölf Monate ganze Teams auszuwechseln. Durch gezielte Neubesetzung von Schlüsselpositionen kann man aber in sehr kurzer Zeit erstaunliche Wirkung erzielen. Das Kritische bei diesen Massnahmen ist aber, dass sie perfekt sein müssen. Man kann sich auf diesem Gebiet keine Fehler leisten, sonst sind Glaubwürdigkeit und Vertrauen in die Führung rasch und meistens irreversibel verloren. Abschliessend sei noch einmal betont, dass der Antritt einer neuen Position zu jenen Situationen gehört, in denen eine Führungskraft wie selten sonst zeigen kann, dass sie ihr Handwerk beherrscht. Sie kann aber auch innert weniger Wochen, manchmal genügen Tage, das Gegenteil beweisen. Die Beförderung auf eine neue Stelle ist eine Gelegenheit, die in der Laufbahn eines Managers nicht allzu häufig vorkommt – vier- bis sechsmal darf als Regel gelten. Was deutlich darüberliegt, ist eine Ausnahme oder es ist suspekt. Es sind also seltene Gelegenheiten und das bedeutet, dass dies eben praktisch immer aussergewöhnliche Situationen und Bewährungsproben ersten Ranges sind. Man kann kaum Routine in ihrer Bewältigung erwerben. Gleichzeitig sind es aber auch ungewöhnlich wichtige Situationen. Sie sind wichtig für die beförderte Person, denn es hängt ihr unmittelbarer Erfolg davon ab, aber meistens auch ihre zukünftige Karriere. Sie sind weiter wichtig für jene Personen, die den Beförderungsentscheid getroffen haben; auch ihr Erfolg und ihre Reputation als kompetente Manager hängen davon ab, dass die Beförderung ein Erfolg wird. Und schliesslich kann sich auch ein Unternehmen als Ganzes nicht viele fehlschlagende Beförderungsentscheidungen leisten. 06016026 Seite 15 von 15
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