Sünde und Erkenntnis Die Frucht in der Kunst Begleitheft zur Ausstellung Im Museum Sinclair-Haus Sünde und Erkenntnis Man kann hier nur die wundersamen Früchte pflücken, Die Frucht in der Kunst Um welche euer Herz in seinem Hunger fleht; So laßt euch von der fremden Lieblichkeit berücken Museum Sinclair-Haus, Bad Homburg Des einen Nachmittags, der nie zu Ende geht! 17. Juli bis 25. September 2016 Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal Die Nummerierung der Werke dient zur Orientierung in der Ausstellung. Die Sammlung Prof. Dr. Rainer Wild Früchte sind in Gestalt, Haptik, Form und Farbe in höchstem Maße anziehend und sprechen alle Sinne an. Es erscheint daher kaum verwunderlich, dass das Paradies in der Bibel als ein blühender Garten mit unzähligen Obstbäumen dargestellt ist. Und bis heute ist der Apfel, von dem Adam und Eva kosteten, ein Symbol für Sünde und Erkenntnis gleichermaßen. Genauso vielfältig wie der Formenreichtum von Früchten selbst ist ihre Darstellung in der Kunst. Seit jeher zeigen Künstlerinnen und Künstler Früchte als Zeichen für Leben und Vitalität, aber auch für Vergänglichkeit und Verfall. Das Museum Sinclair-Haus stellt die weltweit einzigartige Sammlung von Prof. Dr. Rainer Wild aus, die das Motiv der Frucht in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts in den Fokus genommen hat. Der Wissenschaftler, Unternehmer und Stifter interessierte sich schon während seines Studiums für die Inhaltsstoffe und die pharmakologische Wirkung von Früchten und widmete diesen Themen seine Diplom- und Promotionsarbeiten. Dieses Interesse an Früchten übertrug sich schließlich auch auf seine Tätigkeit als Sammler und so baut er seit über 40 Jahren eine eindrucksvolle Kunstsammlung auf, die annähernd 300 Gemälde, Aquarelle, Grafiken, Zeichnungen, Filme und plastische Arbeiten umfasst. Die Ausstellung greift in das große Füllhorn dieser Sammlung und zeigt einen umfassenden Ausschnitt. # 1 # 2 Hans op de Beeck Joseph Beuys Geb. 1969 in Turnhout, Belgien, lebt und arbeitet in Brüssel und Geb. 1921 in Krefeld, gest. 1986 in Düsseldorf Gooik, Belgien Das „Multiple“ Capri-Batterie von Joseph Beuys entstand im SepMit seiner Plastik Vanitas (Variation) 1 zeigt der belgische Künst- tember 1985, als sich der Künstler zur Genesung einer Lungen ler Hans op de Beeck ein Objekt, das zunächst an Kompositio- erkrankung in Neapel und auf der Insel Capri befand, die berühmt nen klassischer Stilllebenmalerei erinnert. Auf einem scheinbar ist für ihre üppigen Zitronenbäume. In Neapel stellte er das Werk vor der Wand schwebenden Tisch sind verschiedene Gegenstände mit einem Verweis auf Goethes Gedicht „Kennst du das Land, wo versammelt, die sich auf den zweiten Blick als wenig „klassisch“ die Zitronen blühn“ aus. Die gelbe Glühbirne mit entsprechendem herausstellen: Neben Früchten und einer halb abgebrannten Kerze Steckeranschluss und die Zitrone gehören in eine kleine Holzkiste, finden sich u. a. ausgedrückte Zigarettenstummel, ein Feuerzeug auf welcher die Gebrauchsanweisung des „Ready-Mades“ zu lesen und eine PET-Flasche. Alle Objekte sind aus Gips hergestellt und in ist: Die Batterie sei nach 1000 Stunden auszutauschen. Tatsäch- grauer Farbe gehalten, beinahe als läge das Stillleben unter einer lich muss die Batterie-Zitrone aber alle paar Tage ausgewechselt Staubschicht. Tatsächlich schafft Hans op de Beeck eine Vanitas- werden, da sich sonst Fäulnis bilden würde. Das Objekt sugge- Darstellung unserer Zeit: Vergänglichkeit und Verfall symbolisiert riert durch seine Anordnung, dass die Zitrone als ausreichender er mithilfe von „Wegwerf“-Artikeln der heutigen Gesellschaft. Energielieferant die Glühbirne tatsächlich zum Leuchten bringen Plastikflaschen und Aluminiumdosen sind Abfallgegenstände, die kann – schließlich enthält die Frucht, wie auch gebräuchliche sich nicht zersetzen können. Sie sind in ihrem Verfallsprozess er- Batterien, Säure – wenn auch in einer deutlich geringeren Kon- starrt und stauben sinnbildlich ein. Auch die Früchte kommen zentration. Beuys gibt dieser Illusion von der Zitrone als potenter mit einer makellosen Oberfläche daher, die sie eher synthetisch Energiespenderin ein Bild und fragt damit, welche Energien letzt- erscheinen lässt denn natürlich. Nach dem Vorbild Alter Meister lich in allen Dingen im Verborgenen schlummern. überträgt der Künstler das Stillleben in unsere Zeit, um die Zusammenhänge zwischen Blüte und Verfall, Zeit und Vergänglichkeit neu auszuloten. Vanitas (Variation) 1, 2015 Capri-Batterie, 1985 # 3 und 4 # 5 ˇ Dokoupil JiRí Edgar Ende Geb. 1954 in Krnov, Tschechoslowakei, lebt und arbeitet in Geb. 1901 in Hamburg, gest. 1965 in Baiern Berlin und Prag Der Schriftsteller Michael Ende beschreibt in seinen Erinnerungen, Mit vierzehn Jahren flüchtete Jiří Dokoupil während des Prager wie sein Vater Edgar Ende in einer Art „Dunkelkammer“ zahlreiche Frühlings 1968 mit seiner Familie aus der Tschechoslowakei nach Skizzen anfertigte und so seine surreal anmutenden Bilder ge- Deutschland. Für seine Arbeit Ohne Titel (Orangenscheiben) be- funden hat. Die Surrealisten sprechen bei dieser Vorgehensweise nutzt er die Orange wie einen Stempel und ihren Saft wie Farbe von einer „écriture automatique“, von Zeichnungen, die in einer auf einer Nesselleinwand. Durch den natürlichen Verfallsprozess Art Trance-Zustand entstehen. Mit diesem Verfahren versuchte er, ist die einstmals orangefarbene Fruchtflüssigkeit bräunlich ge- sich von der eigenen vorgeprägten Gedanken- und Bilderwelt worden – durch seine organischen Materialien unterliegt das zu lösen, um neuen und assoziativen Bildergedanken Raum zu Werk einem fortwährenden Gestaltwandel und erinnert als mo- geben. Sein Gemälde Die Nähmaschine des Dionysos von 1962 dernes Vanitasbild an die Vergänglichkeit der Dinge. Die Frucht bringt zwei disparate Objekte zusammen: das Bild zeigt eine Näh- nimmt auch in Dokoupils plastischem Werk eine große Rolle maschine, die ganz und gar aus Weintrauben zu bestehen scheint. ein – so auch bei der Arbeit Komposition mit Früchten, die zur Der Bildtitel weist zwar auf Dionysos, den Gott des Weines hin und Serie Fruitarchitecture gehört. Für die Bronzearbeiten benutzt er lässt damit auch die Weintrauben als Material der Nähmaschine die verschiedenen Fruchtformen als Bauelemente, die er zu hoch sinnvoll erscheinen, tatsächlich aber bleibt dieser Zusammenhang aufragenden Türmen zusammenfügt – auf humorvolle Weise ord- vollkommen ungeklärt. Edgar Ende war stets darauf bedacht, so net er so das klassische Stillleben neu an und bringt es in die beschreibt es sein Sohn, den Betrachter mit den Bildtiteln zu ei- Vertikale. genen Assoziationen anzuregen, ihn jedoch in keine festgelegte Richtung zu lenken. Gerade in ihrer Unlösbarkeit liegt das Prinzip seiner Bilderfindungen, die den Gedanken des Ersten Manifest des surrealistischen Bildes von André Breton nahestehen: für ihn sei das stärkste Bild „von einem höchsten Grad an Willkür gezeichnet“ und „für das man am längsten braucht, um es in die Alltagssprache zu übersetzen“. Ohne Titel (Orangenscheiben), 1992 Komposition mit Früchten, 1992 Die Nähmaschine des Dionysos, 1962 # 6 # 7 Jan Fabre Conrad Felixmüller Geb. 1958 in Antwerpen, lebt und arbeitet ebd. Geb. 1897 in Dresden, gest. 1977 in Berlin Auf den Spuren seines Urgroßvaters, des Entomologen Jean-Henri Der Dresdner Maler Conrad Felixmüller bildet in vielen seiner Fabre, setzte sich Jan Fabre schon früh mit Insekten und Käfern Werke die eigene Familie ab. So ist auf dem Aquarell Die Apfelsine auseinander. Sein naturwissenschaftliches Interesse beeinflusste von 1929 sein Sohn Luca zu sehen. Der elfjährige Junge ist in seine künstlerische Herangehensweise. Neben der Insekten- und das Schälen einer Zitrusfrucht vertieft. Die atmosphärisch friedli- Tierwelt ist auch der menschliche Körper ständiger Gegenstand che Szenerie ist von Blau- und Grüntönen bestimmt, die jedoch seiner bildnerischen Untersuchungen. So beschäftigte er sich in- durch das leuchtende Orange der Apfelsine kontrastiert werden, tensiv mit der Arbeit des Hirnforschers Giacomo Rizzolatti, der mit welches sich auch in der Hautfarbe des Kindes wiederfindet. der Entdeckung der „Spiegelneuronen“ die menschliche Empa- Im Vergleich zu seinen früheren expressionistischen Werken, ist thiefähigkeit erklärte. Fabres Skulptur Brain of an Atheist, die aus diese Arbeit in ihrem klar geordneten Bildaufbau und durch die weißem Carrara-Marmor gefertigt ist, zeigt ein Gehirn mensch Konzentration auf den zentralen Bildinhalt schon eher der Neuen licher Größe, auf welchem ein Apfel liegt. Ein langer Wurm hat Sachlichkeit verhaftet. Die Wertigkeit der Apfelsine, wie sie hier sich sowohl durch das menschliche Organ als auch durch die zum Ausdruck kommt, erinnert an eine Szene aus Erich Kästners Frucht gefressen. Zudem ist das Gehirn von einem Aderngeflecht Roman Pünktchen und Anton, der 1931 erstmals publiziert wur- eingefasst, das den Apfel „hinaufzuwachsen“ scheint. Die Plastik de, in welcher die beiden Freunde in einem Restaurant Apfelsinen lässt mit ihren Bezügen zu Kunst- und Kulturgeschichte eine Viel- mit Schlagsahne essen: „Anton nahm eine Papierserviette, die falt von Deutungsmöglichkeiten zu. Die Anordnung erinnert an auf dem Nebentisch lag, drehte eine kleine Tüte und legte sechs den Apfelschuss von Wilhelm Tell. Zudem ist der Apfel als Frucht Apfelsinenschnitten hinein. Dann schloß er die Tüte in sein Hand- der Erkenntnis ein religiös bedeutungsträchtiges Symbol für die köfferchen. Und wie ihn Pünktchen fragend anschaute, sagte er Gefühls- und Triebwelt sowie gleichzeitig für den Wissensdurst verlegen: ‚Bloß für meine Mutter.‘“ des Menschen – der Titel der Arbeit Brain of an Atheist birgt gerade im Bezug auf diese biblische Interpretation eine humorvolle Wendung. Mit diesen verschiedenen Blickwinkeln zeigt Jan Fabre das Gehirn als Quelle menschlicher Rationalität und Emotionalität. Brain of an Atheist, 2014 Die Apfelsine, 1929 # 8 # 9 Lucian Freud Jörg Immendorff Geb. 1922 in Berlin, gest. 2011 in London Geb. 1945 in Bleckede, gest. 2007 in Düsseldorf Die kleinformatige Zeichnung einer Quitte von Lucian Freud gehört Jörg Immendorff studierte an der Kunstakademie in Düsseldorf, zu den frühen Arbeiten des britischen Künstlers und zeigt eine ab 1964 bei Joseph Beuys. Schon zu dieser Zeit war sein Kunst- seiner seltenen Frucht-Darstellungen. Der Enkel des berühmten schaffen – wie das seines prominenten Lehrers – von gesell Psychoanalytikers wurde später insbesondere für seine Porträts schaftskritischen und politischen Inhalten bestimmt. Dabei wurde und seine brachialen Aktmalereien bekannt, auf denen er den er vor allem mit der Serie Café Deutschland für eine Art erneu- menschlichen Körper in seiner ganzen Unvollkommenheit und erte Historienmalerei bekannt, in der Fragen nach der Identität fleischlichen Vergänglichkeit darstellt. Auch bei dieser Quitte, als deutscher Künstler zwischen nationalsozialistischer Vergan- wenngleich fein und sorgfältig ausgeführt, arbeitet er die Makel genheit und der Gegenwart eines geteilten Deutschlands gestellt und schwarzen Druckstellen heraus. So betont er das Schöne der werden. Frucht und ihre Vergänglichkeit zugleich und schafft beinahe ein Wie in einigen Arbeiten seiner frühen Werkphase wird das Gemäl- individuelles Portrait der Quitte. de Esst deutsche Äpfel von 1965 am oberen und unteren Bildrand von den Nationalfarben schwarz-rot-gold gesäumt. Der Titel ist als Aufforderung und Parole in das Bild hineingeschrieben und wirkt dennoch wie eine Parodie auf nationalistische Agitation. Zudem erinnert er an den Slogan „Iss Äpfel gegen Putin“ von 2014, mit welchem in Polen nach dem russischem Einfuhrstopp dafür geworben wurde, allein polnische Äpfel zu essen. Gleichzeitig beinhaltet das Gemälde eine satirische Sicht auf die messianische Dimension von Person und Werk seines Lehrers Joseph Beuys. In der Anhäufung aus flächig gemalten grünen, gelben und roten Äpfeln taucht auch der Kopf seines Lehrers mit dem zum Markenzeichen und zur Uniform stilisierten Filzhut dreimal auf. Ohne Titel (Quitte), 1947 Esst deutsche Äpfel, 1965 # 10 # 11 Karin Kneffel Laura Kuch Geb. 1957 in Marl, lebt und arbeitet in Düsseldorf und München Geb. 1980 in Rauenberg, lebt und arbeitet z. Zt. in London Von dem dreiteiligen, 5,40 m hohen Gemälde Äpfel von Karin Der kleine Schaukasten voller getrockneter Früchte, Gemüsesorten Kneffel, wird in dieser Ausstellung eine Leinwand gezeigt. Das und Kerne der Objekt- und Konzeptkünstlerin Laura Kuch erin- Werk entstand im Jahr 2002 im Auftrag der ALTANA AG für das nert zunächst an historische Sammlungen in Naturkundemuseen. Herbert-Quandt-Haus (heute Inge-Quandt-Haus). Die Komposi- Bei genauerer Betrachtung wird jedoch keine strukturierte bota- tion zeigt den Ausschnitt aus einem Apfelbaum vor einem neu nische Anordnung ersichtlich, vielmehr scheint die Komposition tralen grauen Hintergrund, der keinerlei topographische Hinweise einem subjektiven und ästhetischen Gliederungsprinzip zu ent- erlaubt. Groß und schwer leuchten die naturalistisch gemalten springen: Heimische und exotische Früchte werden kombiniert rot-gelben Früchte zwischen grünem Laub und dunkelbraunem und eine quer aufgeschnittene Paprika hängt neben einem ab- Geäst. Jeder einzelne Apfel erscheint makellos, wie poliert, keine genagten statt sauber präparierten Apfel. In dieser sonderbaren Faulstelle und kein Wurmloch, kein welkes oder durch Insekten Ansammlung verweist die Arbeit auch auf Kuriositätenkabinette befallenes Blatt stören den Eindruck der vollkommenen Schön- oder Wunderkammern des Barock, die den großen Naturkunde heit. Doch es ist gerade dieser betonte Perfektionismus, diese sammlungen vorausgingen. Die Meisterschülerin von Tobias Reh- unnatürlich anmutende Vollkommenheit, die verstörend wirkt. berger eröffnet mit ihrem Display Cabinet #1 „First ever seen by Die unterkühlte und emotionslose Darstellung der Natur schafft me“ zudem neue Welten, als deren Erforscherin sie sich versteht: eine gleichsam unüberbrückbare Distanz zu derselben. Die Künst- Beim Aufschneiden und Sezieren der Vegetabilien wird sie zur lerin spielt mit der Diskrepanz zwischen Realem und Irrealem, Entdeckerin einer kleinen „Terra Incognita“, einer bisher unge- zwischen Wirklichkeit und Täuschung. Dabei sind auch die der sehenen und unentdeckten Welt und bringt diese mit ihrem Werk modernen Medienwelt entlehnten Mittel der Überdimensionie- in eine eigene Ordnung. rung und der Ausschnitthaftigkeit der Komposition von entscheidender Bedeutung, eine fein kalkulierte Strategie der Künstlerin. Äpfel, 2002 Display Cabinet #1 „First ever seen by me“, 2011 # 12 # 13 Antje Majewski Gabriele Münter Geb. 1968 in Marl, lebt und arbeitet in Berlin Geb. 1877 in Berlin, gest. 1962 in Murnau am Staffelsee Nahezu in der Mitte des quadratischen Gemäldes Inside the Gabriele Münter reiste 1908 gemeinsam mit ihrem Lebensgefähr Apple sitzt der runde Querschnitt eines Apfels. Die in der Male- ten und früheren Lehrer Wassily Kandinsky nach Murnau am Staf- rei ansonsten häufig sehr präsente rote Schale als äußere Hülle felsee, wo das Paar gemeinsam mit den Künstlerfreunden Alexej der Frucht, ist hier nur ein schmales Band. Das Innere ist wie Jawlensky und Marianne von Werefkin arbeitete. Münter schrieb derum von feinen Adern durchzogen, die auf das Leben innerhalb über diese produktive Schaffensphase: „Ich habe da nach einer des Obststückes hinweisen. Wie eine Schutzschicht liegt das gel- kurzen Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht – vom Natur be, fleischige Gewebe um das Kerngehäuse herum, das mit fünf abmalen – mehr oder weniger impressionistisch zum Fühlen einzelnen Samenkammern an die zumeist fünfblättrigen Blüten eines Inhaltes – zum Abstrahieren, zum Geben eines Extraktes.“ des Apfelbaumes erinnert. Die Berliner Künstlerin Antje Majewski Ihre Werke waren fortan von einem kräftigen Pinselduktus und präsentiert nicht die verführerische „Hülle“ des Apfels, sondern leuchtenden Farben bestimmt – so auch die Arbeit Narzissen und offenbart dessen innere Struktur, der in ihrem feinen Aufbau eine Äpfel von 1909. Zudem wird ihre intensive Beschäftigung mit ornamentale Anmutung innewohnt. Unterstützt wird diese Wir- der traditionellen oberbayrischen Hinterglasmalerei sichtbar: wie kung zudem durch die beinahe befremdliche Monumentalität, auch in der handwerklichen Volkskunst üblich, verzichtet Münter welcher sich der Betrachter gegenübersieht. Das Aufschneiden auf Räumlichkeit und Perspektive. Sie stellt die gesättigt-farbigen eines Apfels bildet einerseits den Moment der Erkenntnis, in dem Früchte stattdessen mit wenigen Pinselzügen flächig dar und man die lebendige Struktur des Apfels begreift, andererseits ist konturiert sie mit dicken schwarzen Linien. es jedoch der Beginn und die Beschleunigung seines Verfallsprozesses. So schafft die Malerin ein Sinnbild für Leben, Werden, Blüte und Vergehen gleichermaßen. Inside the Apple, 2015 Narzissen und Äpfel, 1909 # 14 # 15 Pablo Picasso Roland Stratmann Geb. 1881 in Málaga, Spanien, gest. 1973 in Mougins, Frankreich Geb. 1964 in Südlohn, lebt und arbeitet in Berlin Das Werk von Pablo Picasso umfasst eine Vielzahl künstlerischer Aus einer einzigen, ununterbrochenen Linie generiert Roland Ausdrucksformen und Stilvarianten. Sein Gemälde Demoiselles Stratmann seine sogenannten „Endloszeichnungen“ – zu diesen d’Avignon von 1907 avancierte mit der endgültigen Auflösung gehört auch die Serie Eden. Auch bei genauerer Betrachtung sind des Raumillusionismus zum Schlüsselwerk der Moderne. In den Anfangs- und Endpunkt der Zeichnung nicht auszumachen. Die 1920er Jahren verfolgte er mehrere Stilformen gleichzeitig und unaufhörliche Linie erschafft ein dichtes Gewebe aus Figuren, Ge- schuf sowohl Werke des synthetischen Kubismus, den er gemein- genständen und Szenen und führt den Betrachter geradezu in ein sam mit Georges Braque begründet hatte, als auch klassizis verwirrendes visuelles Labyrinth. Mit dem Werktitel nimmt Strat- tische Arbeiten. Das kleinformatige Ölgemälde Fruits et verre von mann zwar direkten Bezug auf das Paradies und die Erbsünde, 1925 zeigt in stark abstrahierter Form einen Tisch, auf dem sich stellt den biblischen Text jedoch nicht illustrativ dar. Vielmehr eine grün-gelbliche Frucht und ein Glas befinden – die drei Ge- zeigt der Künstler gleich dem literarischen „Bewusstseinsstrom“ genstände sind lediglich mit wenigen schwarzen Pinselstrichen unmittelbare Assoziationen und Gedanken zu dem Thema, die umrissen und mit leicht gewischten Farben hinterlegt. Der Kom- sich mit der Linie ihren Weg auf das Papier bahnen. So zeichnet position wohnt ein Ausdruck von Leichtigkeit inne, die Objekte Stratmann beispielsweise einen aufgeschnittenen Apfel, welcher schweben scheinbar in einem undefinierten Raum. Obwohl es von Figuren umgeben ist, die in einem sich kräuselnden „Meer“ sich um eine Malerei handelt, ist die Linienführung Picassos von aus verflochtenen, arabesken Linien zu schwimmen scheinen. einer zeichnerischen Brillanz geprägt. Die sicher gesetzten Kon- Dem Blatt wohnt durch die pulsierende Bewegungsführung des turen, die die Formen der Objekte nur andeuten, genügen, um Tuschestiftes eine geradezu ornamentale Wirkung inne. den Bildinhalt zu vermitteln. Fruits et verre, 1925 Serie „Eden“, 2006/2007 # 16 # 17 Gavin Turk Ai Weiwei Geb. 1967 in Guildford, England, lebt und arbeitet in London Geb. 1957 in Peking, China, lebt und arbeitet ebd. Das Werk Gala (eaten apple) von Gavin Turk wandelt ein Abfall- Der chinesische, regimekritische Künstler Ai Weiwei nimmt mit produkt in ein Kunstobjekt um. Gleich vielen Pop-Art Künstlern seinen Werken zumeist Bezug auf sein Heimatland und setzt sich belässt Turk das „objet trouvé“, den abgenagten Apfel, in seiner intensiv mit dessen Kultur auseinander. Seine Arbeit Watermelon äußeren Erscheinung, verfremdet aber das Material: Erst auf den zeigt eine Melone in naturgetreuer Größe, die aus Porzellan gefer- zweiten Blick ist zu erkennen, dass die kleine Plastik aus Bronze tigt ist – ein Hinweis auf die jahrtausendealte Tradition der Por- besteht. Die Frucht scheint so dauerhaft in ihrem Verwesungs zellanmanufaktur in China. Der Künstler lernte das volkstümliche prozess eingefroren. Turk hinterfragt mit seiner Arbeit die Wer- Handwerk in seinem Geburtstort Jingdezhen kennen. Auch die tigkeit von Kunstgegenständen sowie die Rolle des Künstler und Wahl der Frucht ist von Bedeutung: Die Wassermelone bildet eine des Museums als Ort, an dem Dinge konserviert werden, die von wichtige Exportware der Volksrepublik und wird in großen Mas- bleibendem, gesellschaftlichem Wert sind. sen angebaut. Das Obststück von Ai Weiwei gehört zu einer Serie aus nahezu gleich aussehenden Plastiken und erinnert mit seiner perfekten, fast schon unnatürlichen Rundung und mit der glatten Porzellanoberfläche tatsächlich an ein Massenprodukt. So veranschaulicht er mit dieser Arbeit die Fragen nach Individualität, Masse und Konformität. Gala (eaten apple), 2011 Watermelon, 2006 # 18 Thomas Zipp Geb. 1966 in Heppenheim, lebt und arbeitet in Berlin Die Abkürzungen im Titel der Arbeit F.R.O.#g stehen für „Freudian Research Object“. Das Werk gehört zu einer Serie, die Thomas Zipp auf der Biennale von Venedig 2013 im Palazzo Rossini präsentierte, welchen er in eine psychiatrische Klinik verwandelte. Er nimmt in dieser Arbeit Bezug auf Sigmund Freud und seine Psycho analyse. Untersucht wird anstelle eines Menschen ein hölzerner Apfel, der auf einem verspiegelten Sockel präsentiert wird. Durch die Spiegelung kann der Apfel von allen Seiten betrachtet werden – genauso wie die Psychoanalyse einen allumfassenden und tiefergehenden Blick in die menschliche Seele sucht. Der Apfel steht dabei auch als Symbol für die biblische Erbsünde, bei der sich ureigene menschliche Triebe und Gefühle offenbart haben, die Sünde und Erkenntnis gleichermaßen hervorbringen. Das Werk lässt jedoch weitere Deutungsansätze zu: Mit der Spiegelung des Apfels eröffnet Zipp die Frage nach der Diskrepanz von Realität und Trugbild – Vorbild dafür mag René Magrittes Gemälde Ceci n’est pas une pomme gewesen sein, der mit dem Titel darauf hinweist, dass lediglich das Abbild der Frucht, nicht aber dieselbe zu sehen ist. F.R.O.#g, 2013 Sünde und Erkenntnis Die Frucht in der Kunst Museum Sinclair-Haus, Bad Homburg 17. Juli bis 25. September 2016 Kurator: Johannes Janssen, Direktor Museum Sinclair-Haus Kuratorische Mitarbeit: Ina Fuchs Begleitheft Konzeption und Text: Ina Fuchs Lektorat: Andrea Sietzy, Gitta Karwisch Gestaltung: Julia Kalinowski, Frankfurt am Main www.museum-sinclair-haus.de
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