BegLeitHeFt - Altana Kulturstiftung

Sünde und
Erkenntnis
Die Frucht in der Kunst
Begleitheft zur Ausstellung
Im Museum Sinclair-Haus
Sünde und Erkenntnis
Man kann hier nur die wundersamen Früchte pflücken,
Die Frucht in der Kunst
Um welche euer Herz in seinem Hunger fleht;
So laßt euch von der fremden Lieblichkeit berücken
Museum Sinclair-Haus, Bad Homburg
Des einen Nachmittags, der nie zu Ende geht!
17. Juli bis 25. September 2016
Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal
Die Nummerierung der Werke dient zur
Orientierung in der Ausstellung.
Die Sammlung Prof. Dr. Rainer Wild
Früchte sind in Gestalt, Haptik, Form und Farbe in höchstem Maße
anziehend und sprechen alle Sinne an. Es erscheint daher kaum
verwunderlich, dass das Paradies in der Bibel als ein blühender
Garten mit unzähligen Obstbäumen dargestellt ist. Und bis heute
ist der Apfel, von dem Adam und Eva kosteten, ein Symbol für
Sünde und Erkenntnis gleichermaßen. Genauso vielfältig wie der
Formenreichtum von Früchten selbst ist ihre Darstellung in der
Kunst. Seit jeher zeigen Künstlerinnen und Künstler Früchte als
Zeichen für Leben und Vitalität, aber auch für Vergänglichkeit und
Verfall. Das Museum Sinclair-Haus stellt die weltweit einzigartige
Sammlung von Prof. Dr. Rainer Wild aus, die das Motiv der Frucht
in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts in den Fokus genommen hat.
Der Wissenschaftler, Unternehmer und Stifter interessierte sich
schon während seines Studiums für die Inhalts­stoffe und die
pharmakologische Wirkung von Früchten und widmete diesen
Themen seine Diplom- und Promotionsarbeiten. Dieses Interesse
an Früchten übertrug sich schließlich auch auf seine Tätigkeit als
Sammler und so baut er seit über 40 Jahren eine eindrucksvolle Kunstsammlung auf, die annähernd 300 Gemälde, Aquarelle,
Grafiken, Zeichnungen, Filme und plastische Arbeiten umfasst.
Die Ausstellung greift in das große Füllhorn dieser Sammlung und
zeigt einen umfassenden Ausschnitt.
# 1
# 2
Hans op de Beeck
Joseph Beuys
Geb. 1969 in Turnhout, Belgien, lebt und arbeitet in Brüssel und
Geb. 1921 in Krefeld, gest. 1986 in Düsseldorf
Gooik, Belgien
Das „Multiple“ Capri-Batterie von Joseph Beuys entstand im SepMit seiner Plastik Vanitas (Variation) 1 zeigt der belgische Künst-
tember 1985, als sich der Künstler zur Genesung einer Lungen­
ler Hans op de Beeck ein Objekt, das zunächst an Kompositio-
erkrankung in Neapel und auf der Insel Capri befand, die berühmt
nen klassischer Stilllebenmalerei erinnert. Auf einem scheinbar
ist für ihre üppigen Zitronenbäume. In Neapel stellte er das Werk
vor der Wand schwebenden Tisch sind verschiedene Gegenstände
mit einem Verweis auf Goethes Gedicht „Kennst du das Land, wo
versammelt, die sich auf den zweiten Blick als wenig „klassisch“
die Zitronen blühn“ aus. Die gelbe Glühbirne mit entsprechendem
herausstellen: Neben Früchten und einer halb abgebrannten Kerze
Steckeranschluss und die Zitrone gehören in eine kleine Holz­kiste,
finden sich u. a. ausgedrückte Zigarettenstummel, ein Feuerzeug
auf welcher die Gebrauchsanweisung des „Ready-Mades“ zu lesen
und eine PET-Flasche. Alle Objekte sind aus Gips hergestellt und in
ist: Die Batterie sei nach 1000 Stunden auszutauschen. Tatsäch-
grauer Farbe gehalten, beinahe als läge das Stillleben unter einer
lich muss die Batterie-Zitrone aber alle paar Tage ausgewechselt
Staubschicht. Tatsächlich schafft Hans op de Beeck eine Vanitas-
werden, da sich sonst Fäulnis bilden würde. Das Objekt sugge-
Darstellung unserer Zeit: Vergänglichkeit und Verfall symbolisiert
riert durch seine Anordnung, dass die Zitrone als ausreichender
er mithilfe von „Wegwerf“-Artikeln der heutigen Gesellschaft.
Energielieferant die Glühbirne tatsächlich zum Leuchten bringen
Plastikflaschen und Aluminiumdosen sind Abfallgegenstände, die
kann – schließlich enthält die Frucht, wie auch gebräuchliche
sich nicht zersetzen können. Sie sind in ihrem Verfallsprozess er-
Batterien, Säure – wenn auch in einer deutlich geringeren Kon-
starrt und stauben sinnbildlich ein. Auch die Früchte kommen
zentration. Beuys gibt dieser Illusion von der Zitrone als potenter
mit einer makellosen Oberfläche daher, die sie eher synthetisch
Energiespenderin ein Bild und fragt damit, welche Energien letzt-
erscheinen lässt denn natürlich. Nach dem Vorbild Alter Meister
lich in allen Dingen im Verborgenen schlummern.
überträgt der Künstler das Stillleben in unsere Zeit, um die Zusammenhänge zwischen Blüte und Verfall, Zeit und Vergänglichkeit neu auszuloten.
Vanitas (Variation) 1, 2015
Capri-Batterie, 1985
# 3 und 4
# 5
ˇ Dokoupil
JiRí
Edgar Ende
Geb. 1954 in Krnov, Tschechoslowakei, lebt und arbeitet in
Geb. 1901 in Hamburg, gest. 1965 in Baiern
Berlin und Prag
Der Schriftsteller Michael Ende beschreibt in seinen Erinnerungen,
Mit vierzehn Jahren flüchtete Jiří Dokoupil während des Prager
wie sein Vater Edgar Ende in einer Art „Dunkelkammer“ zahlreiche
Frühlings 1968 mit seiner Familie aus der Tschechoslowakei nach
Skizzen anfertigte und so seine surreal anmutenden Bilder ge-
Deutschland. Für seine Arbeit Ohne Titel (Orangenscheiben) be-
funden hat. Die Surrealisten sprechen bei dieser Vorgehensweise
nutzt er die Orange wie einen Stempel und ihren Saft wie Farbe
von einer „écriture automatique“, von Zeichnungen, die in einer
auf einer Nesselleinwand. Durch den natürlichen Verfall­sprozess
Art Trance-Zustand entstehen. Mit diesem Verfahren versuchte er,
ist die einstmals orangefarbene Fruchtflüssigkeit bräunlich ge-
sich von der eigenen vorgeprägten Gedanken- und Bilderwelt
worden – durch seine organischen Materialien unterliegt das
zu lösen, um neuen und assoziativen Bildergedanken Raum zu
Werk einem fortwährenden Gestaltwandel und erinnert als mo-
geben. Sein Gemälde Die Nähmaschine des Dionysos von 1962
dernes Vanitasbild an die Vergänglichkeit der Dinge. Die Frucht
bringt zwei disparate Objekte zusammen: das Bild zeigt eine Näh-
nimmt auch in Dokoupils plastischem Werk eine große Rolle
maschine, die ganz und gar aus Weintrauben zu bestehen scheint.
ein – so auch bei der Arbeit Komposition mit Früchten, die zur
Der Bildtitel weist zwar auf Dionysos, den Gott des Weines hin und
Serie Fruitarchitecture gehört. Für die Bronzearbeiten benutzt er
lässt damit auch die Weintrauben als Material der Nähmaschine
die verschiedenen Fruchtformen als Bauelemente, die er zu hoch
sinnvoll erscheinen, tatsächlich aber bleibt dieser Zusammenhang
aufragenden Türmen zusammenfügt – auf humorvolle Weise ord-
vollkommen ungeklärt. Edgar Ende war stets darauf bedacht, so
net er so das klassische Stillleben neu an und bringt es in die
beschreibt es sein Sohn, den Betrachter mit den Bildtiteln zu ei-
Vertikale.
genen Assoziationen anzuregen, ihn jedoch in keine festgelegte
Richtung zu lenken. Gerade in ihrer Unlösbarkeit liegt das Prinzip
seiner Bilderfindungen, die den Gedanken des Ersten Manifest
des surrealistischen Bildes von André Breton nahestehen: für ihn
sei das stärkste Bild „von einem höchsten Grad an Willkür gezeichnet“ und „für das man am längsten braucht, um es in die
Alltagssprache zu übersetzen“.
Ohne Titel (Orangenscheiben), 1992
Komposition mit Früchten, 1992
Die Nähmaschine des Dionysos, 1962
# 6
# 7
Jan Fabre
Conrad Felixmüller
Geb. 1958 in Antwerpen, lebt und arbeitet ebd.
Geb. 1897 in Dresden, gest. 1977 in Berlin
Auf den Spuren seines Urgroßvaters, des Entomologen Jean-Henri
Der Dresdner Maler Conrad Felixmüller bildet in vielen seiner
Fabre, setzte sich Jan Fabre schon früh mit Insekten und Käfern
Werke die eigene Familie ab. So ist auf dem Aquarell Die Apfelsine
auseinander. Sein naturwissenschaftliches Interesse beeinflusste
von 1929 sein Sohn Luca zu sehen. Der elfjährige Junge ist in
seine künstlerische Herangehensweise. Neben der Insekten- und
das Schälen einer Zitrusfrucht vertieft. Die atmosphärisch friedli-
Tierwelt ist auch der menschliche Körper ständiger Gegenstand
che Szenerie ist von Blau- und Grüntönen bestimmt, die jedoch
seiner bildnerischen Untersuchungen. So beschäftigte er sich in-
durch das leuchtende Orange der Apfelsine kontrastiert werden,
tensiv mit der Arbeit des Hirnforschers Giacomo Rizzolatti, der mit
welches sich auch in der Hautfarbe des Kindes wiederfindet.
der Entdeckung der „Spiegelneuronen“ die menschliche Empa-
Im Vergleich zu seinen früheren expressionistischen Werken, ist
thiefähigkeit erklärte. Fabres Skulptur Brain of an Atheist, die aus
diese Arbeit in ihrem klar geordneten Bildaufbau und durch die
weißem Carrara-Marmor gefertigt ist, zeigt ein Gehirn mensch­
Konzentration auf den zentralen Bildinhalt schon eher der Neuen
licher Größe, auf welchem ein Apfel liegt. Ein langer Wurm hat
Sachlichkeit verhaftet. Die Wertigkeit der Apfelsine, wie sie hier
sich sowohl durch das menschliche Organ als auch durch die
zum Ausdruck kommt, erinnert an eine Szene aus Erich Kästners
Frucht gefressen. Zudem ist das Gehirn von einem Aderngeflecht
Roman Pünktchen und Anton, der 1931 erstmals publiziert wur-
eingefasst, das den Apfel „hinaufzuwachsen“ scheint. Die Plastik
de, in welcher die beiden Freunde in einem Restaurant Apfelsinen
lässt mit ihren Bezügen zu Kunst- und Kulturgeschichte eine Viel-
mit Schlagsahne essen: „Anton nahm eine Papierserviette, die
falt von Deutungsmöglichkeiten zu. Die Anordnung erinnert an
auf dem Neben​tisch lag, drehte eine kleine Tüte und legte sechs
den Apfelschuss von Wilhelm Tell. Zudem ist der Apfel als Frucht
Apfelsinenschnitten hinein. Dann schloß er die Tüte in sein Hand-
der Erkenntnis ein religiös bedeutungsträchtiges Symbol für die
köfferchen. Und wie ihn Pünktchen fragend anschaute, sagte er
Gefühls- und Triebwelt sowie gleichzeitig für den Wissensdurst
verlegen: ‚Bloß für meine Mutter.‘“
des Menschen – der Titel der Arbeit Brain of an Atheist birgt gerade
im Bezug auf diese biblische Interpretation eine humorvolle Wendung. Mit diesen verschiedenen Blickwinkeln zeigt Jan Fabre das
Gehirn als Quelle menschlicher Rationalität und Emotionalität.
Brain of an Atheist, 2014
Die Apfelsine, 1929
# 8
# 9
Lucian Freud
Jörg Immendorff
Geb. 1922 in Berlin, gest. 2011 in London
Geb. 1945 in Bleckede, gest. 2007 in Düsseldorf
Die kleinformatige Zeichnung einer Quitte von Lucian Freud gehört
Jörg Immendorff studierte an der Kunstakademie in Düsseldorf,
zu den frühen Arbeiten des britischen Künstlers und zeigt eine
ab 1964 bei Joseph Beuys. Schon zu dieser Zeit war sein Kunst-
seiner seltenen Frucht-Darstellungen. Der Enkel des berühmten
schaffen – wie das seines prominenten Lehrers – von gesell­
Psychoanalytikers wurde später insbesondere für seine Porträts
schaftskritischen und politischen Inhalten bestimmt. Dabei wurde
und seine brachialen Aktmalereien bekannt, auf denen er den
er vor allem mit der Serie Café Deutschland für eine Art erneu-
menschlichen Körper in seiner ganzen Unvollkommenheit und
erte Historienmalerei bekannt, in der Fragen nach der Identität
fleischlichen Vergänglichkeit darstellt. Auch bei dieser Quitte,
als deutscher Künstler zwischen nationalsozialistischer Vergan-
wenngleich fein und sorgfältig ausgeführt, arbeitet er die Makel
genheit und der Gegenwart eines geteilten Deutschlands gestellt
und schwarzen Druckstellen heraus. So betont er das Schöne der
werden.
Frucht und ihre Vergänglichkeit zugleich und schafft beinahe ein
Wie in einigen Arbeiten seiner frühen Werkphase wird das Gemäl-
individuelles Portrait der Quitte.
de Esst deutsche Äpfel von 1965 am oberen und unteren Bildrand
von den Nationalfarben schwarz-rot-gold gesäumt. Der Titel ist
als Aufforderung und Parole in das Bild hineingeschrieben und
wirkt dennoch wie eine Parodie auf nationalistische Agitation.
Zudem erinnert er an den Slogan „Iss Äpfel gegen Putin“ von
2014, mit welchem in Polen nach dem russischem Einfuhrstopp
dafür geworben wurde, allein polnische Äpfel zu essen. Gleichzeitig beinhaltet das Gemälde eine satirische Sicht auf die messianische Dimension von Person und Werk seines Lehrers Joseph
Beuys. In der Anhäufung aus flächig gemalten grünen, gelben
und roten Äpfeln taucht auch der Kopf seines Lehrers mit dem
zum Markenzeichen und zur Uniform stilisierten Filzhut dreimal
auf.
Ohne Titel (Quitte), 1947
Esst deutsche Äpfel, 1965
# 10
# 11
Karin Kneffel
Laura Kuch
Geb. 1957 in Marl, lebt und arbeitet in Düsseldorf und München
Geb. 1980 in Rauenberg, lebt und arbeitet z. Zt. in London
Von dem dreiteiligen, 5,40 m hohen Gemälde Äpfel von Karin
Der kleine Schaukasten voller getrockneter Früchte, Gemüsesorten
Kneffel, wird in dieser Ausstellung eine Leinwand gezeigt. Das
und Kerne der Objekt- und Konzeptkünstlerin Laura Kuch erin-
Werk entstand im Jahr 2002 im Auftrag der ALTANA AG für das
nert zunächst an historische Sammlungen in Naturkundemuseen.
Herbert-Quandt-Haus (heute Inge-Quandt-Haus). Die Komposi-
Bei genauerer Betrachtung wird jedoch keine strukturierte bota-
tion zeigt den Ausschnitt aus einem Apfelbaum vor einem neu­
nische Anordnung ersichtlich, vielmehr scheint die Komposition
tralen grauen Hintergrund, der keinerlei topographische Hinweise
einem subjektiven und ästhetischen Gliederungsprinzip zu ent-
erlaubt. Groß und schwer leuchten die naturalistisch gemalten
springen: Heimische und exotische Früchte werden kombiniert
rot-gelben Früchte zwischen grünem Laub und dunkelbraunem
und eine quer aufgeschnittene Paprika hängt neben einem ab-
Geäst. Jeder einzelne Apfel erscheint makellos, wie poliert, keine
genagten statt sauber präparierten Apfel. In dieser sonderbaren
Faulstelle und kein Wurmloch, kein welkes oder durch Insekten
Ansammlung verweist die Arbeit auch auf Kuriositätenkabinette
befallenes Blatt stören den Eindruck der vollkommenen Schön-
oder Wunderkammern des Barock, die den großen Naturkunde­
heit. Doch es ist gerade dieser betonte Perfektionismus, diese
sammlungen vorausgingen. Die Meisterschülerin von Tobias Reh-
unnatürlich anmutende Vollkommenheit, die verstörend wirkt.
berger eröffnet mit ihrem Display Cabinet #1 „First ever seen by
Die unterkühlte und emotionslose Darstellung der Natur schafft
me“ zudem neue Welten, als deren Erforscherin sie sich versteht:
eine gleichsam unüberbrückbare Distanz zu derselben. Die Künst-
Beim Aufschneiden und Sezieren der Vegetabilien wird sie zur
lerin spielt mit der Diskrepanz zwischen Realem und Irrealem,
Ent­deckerin einer kleinen „Terra Incognita“, einer bisher unge-
zwischen Wirklichkeit und Täuschung. Dabei sind auch die der
sehenen und unentdeckten Welt und bringt diese mit ihrem Werk
modernen Medienwelt entlehnten Mittel der Überdimensionie-
in eine eigene Ordnung.
rung und der Ausschnitthaftigkeit der Komposition von entscheidender Bedeutung, eine fein kalkulierte Strategie der Künstlerin.
Äpfel, 2002
Display Cabinet #1 „First ever seen by me“, 2011
# 12
# 13
Antje Majewski
Gabriele Münter
Geb. 1968 in Marl, lebt und arbeitet in Berlin
Geb. 1877 in Berlin, gest. 1962 in Murnau am Staffelsee
Nahezu in der Mitte des quadratischen Gemäldes Inside the
Gabriele Münter reiste 1908 gemeinsam mit ihrem Lebens​gefähr­
Apple sitzt der runde Querschnitt eines Apfels. Die in der Male-
ten und früheren Lehrer Wassily Kandinsky nach Murnau am Staf-
rei ansonsten häufig sehr präsente rote Schale als äußere Hülle
felsee, wo das Paar gemeinsam mit den Künstlerfreunden Alexej
der Frucht, ist hier nur ein schmales Band. Das Innere ist wie­
Jawlensky und Marianne von Werefkin arbeitete. Münter schrieb
derum von feinen Adern durchzogen, die auf das Leben innerhalb
über diese produktive Schaffensphase: „Ich habe da nach einer
des Obststückes hinweisen. Wie eine Schutzschicht liegt das gel-
kurzen Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht – vom Natur­
be, fleischige Gewebe um das Kerngehäuse herum, das mit fünf
abmalen – mehr oder weniger impressionistisch zum Fühlen
einzelnen Samenkammern an die zumeist fünfblättrigen Blüten
eines Inhaltes – zum Abstrahieren, zum Geben eines Extraktes.“
des Apfelbaumes erinnert. Die Berliner Künstlerin Antje Majewski
Ihre Werke waren fortan von einem kräftigen Pinselduktus und
präsentiert nicht die verführerische „Hülle“ des Apfels, sondern
leuchtenden Farben bestimmt – so auch die Arbeit Narzissen und
offenbart dessen innere Struktur, der in ihrem feinen Aufbau eine
Äpfel von 1909. Zudem wird ihre intensive Beschäftigung mit
ornamentale Anmutung innewohnt. Unterstützt wird diese Wir-
der traditionellen oberbayrischen Hinterglasmalerei sichtbar: wie
kung zudem durch die beinahe befremdliche Monumentalität,
auch in der handwerklichen Volkskunst üblich, verzichtet Münter
welcher sich der Betrachter gegenübersieht. Das Aufschneiden
auf Räumlichkeit und Perspektive. Sie stellt die gesättigt-farbigen
eines Apfels bildet einerseits den Moment der Erkenntnis, in dem
Früchte stattdessen mit wenigen Pinselzügen flächig dar und
man die lebendige Struktur des Apfels begreift, andererseits ist
konturiert sie mit dicken schwarzen Linien.
es jedoch der Beginn und die Beschleunigung seines Verfallsprozesses. So schafft die Malerin ein Sinnbild für Leben, Werden,
Blüte und Vergehen gleichermaßen.
Inside the Apple, 2015
Narzissen und Äpfel, 1909
# 14
# 15
Pablo Picasso
Roland Stratmann
Geb. 1881 in Málaga, Spanien, gest. 1973 in Mougins, Frankreich
Geb. 1964 in Südlohn, lebt und arbeitet in Berlin
Das Werk von Pablo Picasso umfasst eine Vielzahl künstlerischer
Aus einer einzigen, ununterbrochenen Linie generiert Roland
Ausdrucksformen und Stilvarianten. Sein Gemälde Demoiselles
Stratmann seine sogenannten „Endloszeichnungen“ – zu diesen
d’Avignon von 1907 avancierte mit der endgültigen Auflösung
gehört auch die Serie Eden. Auch bei genauerer Betrachtung sind
des Raumillusionismus zum Schlüsselwerk der Moderne. In den
Anfangs- und Endpunkt der Zeichnung nicht auszumachen. Die
1920er Jahren verfolgte er mehrere Stilformen gleichzeitig und
unaufhörliche Linie erschafft ein dichtes Gewebe aus Figuren, Ge-
schuf sowohl Werke des synthetischen Kubismus, den er gemein-
genständen und Szenen und führt den Betrachter geradezu in ein
sam mit Georges Braque begründet hatte, als auch klassizis­
verwirrendes visuelles Labyrinth. Mit dem Werktitel nimmt Strat-
tische Arbeiten. Das kleinformatige Ölgemälde Fruits et verre von
mann zwar direkten Bezug auf das Paradies und die Erb­sünde,
1925 zeigt in stark abstrahierter Form einen Tisch, auf dem sich
stellt den biblischen Text jedoch nicht illustrativ dar. Vielmehr
eine grün-gelbliche Frucht und ein Glas befinden – die drei Ge-
zeigt der Künstler gleich dem literarischen „Bewusstseinsstrom“
genstände sind lediglich mit wenigen schwarzen Pinselstrichen
unmittelbare Assoziationen und Gedanken zu dem Thema, die
umrissen und mit leicht gewischten Farben hinterlegt. Der Kom-
sich mit der Linie ihren Weg auf das Papier bahnen. So zeichnet
position wohnt ein Ausdruck von Leichtigkeit inne, die Objekte
Stratmann beispielsweise einen aufgeschnittenen Apfel, welcher
schweben scheinbar in einem undefinierten Raum. Obwohl es
von Figuren umgeben ist, die in einem sich kräuselnden „Meer“
sich um eine Malerei handelt, ist die Linienführung Picassos von
aus verflochtenen, arabesken Linien zu schwimmen scheinen.
einer zeichnerischen Brillanz geprägt. Die sicher gesetzten Kon-
Dem Blatt wohnt durch die pulsierende Bewegungsführung des
turen, die die Formen der Objekte nur andeuten, genügen, um
Tuschestiftes eine geradezu ornamentale Wirkung inne.
den Bildinhalt zu vermitteln.
Fruits et verre, 1925
Serie „Eden“, 2006/2007
# 16
# 17
Gavin Turk
Ai Weiwei
Geb. 1967 in Guildford, England, lebt und arbeitet in London
Geb. 1957 in Peking, China, lebt und arbeitet ebd.
Das Werk Gala (eaten apple) von Gavin Turk wandelt ein Abfall-
Der chinesische, regimekritische Künstler Ai Weiwei nimmt mit
produkt in ein Kunstobjekt um. Gleich vielen Pop-Art Künstlern
seinen Werken zumeist Bezug auf sein Heimatland und setzt sich
belässt Turk das „objet trouvé“, den abgenagten Apfel, in seiner
intensiv mit dessen Kultur auseinander. Seine Arbeit Watermelon
äußeren Erscheinung, verfremdet aber das Material: Erst auf den
zeigt eine Melone in naturgetreuer Größe, die aus Porzellan gefer-
zweiten Blick ist zu erkennen, dass die kleine Plastik aus Bronze
tigt ist – ein Hinweis auf die jahrtausendealte Tradition der Por-
besteht. Die Frucht scheint so dauerhaft in ihrem Verwesungs­
zellanmanufaktur in China. Der Künstler lernte das volks­tümliche
prozess eingefroren. Turk hinterfragt mit seiner Arbeit die Wer-
Handwerk in seinem Geburtstort Jingdezhen kennen. Auch die
tigkeit von Kunstgegenständen sowie die Rolle des Künstler und
Wahl der Frucht ist von Bedeutung: Die Wassermelone bildet eine
des Museums als Ort, an dem Dinge konserviert werden, die von
wichtige Exportware der Volksrepublik und wird in großen Mas-
bleibendem, gesellschaftlichem Wert sind.
sen angebaut. Das Obststück von Ai Weiwei gehört zu einer Serie
aus nahezu gleich aussehenden Plastiken und erinnert mit seiner
perfekten, fast schon unnatürlichen Rundung und mit der glatten
Porzellanoberfläche tatsächlich an ein Massenprodukt. So veranschaulicht er mit dieser Arbeit die Fragen nach Individualität,
Masse und Konformität.
Gala (eaten apple), 2011
Watermelon, 2006
# 18
Thomas Zipp
Geb. 1966 in Heppenheim, lebt und arbeitet in Berlin
Die Abkürzungen im Titel der Arbeit F.R.O.#g stehen für „Freudian
Research Object“. Das Werk gehört zu einer Serie, die Thomas Zipp
auf der Biennale von Venedig 2013 im Palazzo Rossini präsentierte, welchen er in eine psychiatrische Klinik verwandelte. Er nimmt
in dieser Arbeit Bezug auf Sigmund Freud und seine Psycho­
analyse. Untersucht wird anstelle eines Menschen ein hölzer­ner
Apfel, der auf einem verspiegelten Sockel präsentiert wird. Durch
die Spiegelung kann der Apfel von allen Seiten betrachtet werden – genauso wie die Psychoanalyse einen allumfassenden und
tiefergehenden Blick in die menschliche Seele sucht. Der Apfel
steht dabei auch als Symbol für die biblische Erbsünde, bei der
sich ureigene menschliche Triebe und Gefühle offenbart haben,
die Sünde und Erkenntnis gleichermaßen hervorbringen. Das
Werk lässt jedoch weitere Deutungsansätze zu: Mit der Spiegelung
des Apfels eröffnet Zipp die Frage nach der Diskrepanz von Realität
und Trugbild – Vorbild dafür mag René Magrittes Gemälde Ceci
n’est pas une pomme gewesen sein, der mit dem Titel darauf
hinweist, dass lediglich das Abbild der Frucht, nicht aber dieselbe
zu sehen ist.
F.R.O.#g, 2013
Sünde und Erkenntnis
Die Frucht in der Kunst
Museum Sinclair-Haus, Bad Homburg
17. Juli bis 25. September 2016
Kurator: Johannes Janssen,
Direktor Museum Sinclair-Haus
Kuratorische Mitarbeit: Ina Fuchs
Begleitheft
Konzeption und Text: Ina Fuchs
Lektorat: Andrea Sietzy, Gitta Karwisch
Gestaltung: Julia Kalinowski,
Frankfurt am Main
www.museum-sinclair-haus.de