Newsletter | Juli 2016 Aktuelle Rechtsprechung zum Vorsorgerecht Einleitung | Unterschiedliche Verzinsung bei unterjährigem Austritt Das Bundesgericht hat am 4. März 2016 (9C_176/2015) einen erneuten Entscheid zur unterschiedlichen Verzinsung bei unterjährigem Austritt gefällt. Dieser Entscheid wird in diesem Newsletter als erster ausführlicher dargestellt. Zur Einleitung sollen aber zuerst ganz kurz die bisherigen drei Entscheide zur Frage der Verzinsung der Altersguthaben (1.) bei Pensionierung per 1. Januar des Folgejahres, (2.) zur unterschiedlichen Verzinsung der unterjährigen Austritte und (3.) zur Behandlung eines Austritts per 31. Dezember als unterjähriger Austritt aufgezeigt werden. Nullverzinsung bei Pensionierung per 1.1. Eine Vorsorgeeinrichtung in Unterdeckung beschloss, die Sparkapitalien im Jahr 2009 vorläufig nicht zu verzinsen. Im Februar 2010 beschloss sie (nachträglich) eine Verzinsung der Sparkapitalien für alle Versicherten, die am 1. Januar 2010 aktive Versicherte waren. Gemäss Reglement der Vorsorgeeinrichtung erfolgt die Verzinsung bis zum Eintreten eines Versicherungsfalles. Ein Versicherter der sich per 1. Januar 2010 vorzeitig pensionieren liess, kam nicht in den Genuss der nachträglichen Verzinsung. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde dieses pensionierten Versicherten gut, weil kein sachlicher Grund zu erkennen sei, auf ihn für das Jahr 2009 die Nullverzinsung anzuwenden (9C_325/2012). Behandlung unterjähriger Austritte Eine Vorsorgeeinrichtung beschloss im 2009, die Altersguthaben der während des Jahres 2010 austretenden Versicherten nicht zu verzinsen. Ein Versicherter, der im November 2010 ausgetreten war, verlangte trotzdem eine Verzinsung für das Jahr 2010. Das Bundesgericht hielt fest, dass eine unterschiedliche Verzinsung aufgrund der konkreten Formulierung des Reglements der Vorsorgeeinrichtung zulässig war. Eine Vorsorgeeinrichtung darf im Reglement für unterjährige Austritte einen speziellen Zinssatz vorsehen. Wichtig ist, dass innerhalb der beiden Gruppen keine Ungleichbehandlung stattfindet (BGE 140 V 169, 9C_114/2013). Newsletter | Juli 2016 Nullverzinsung bei Austritt per 31.12. Eine Vorsorgeeinrichtung wies per Ende 2011 einen Deckungsgrad von 86% und per Ende 2012 einen solchen von 90% auf. Eine Versicherte trat per 31. Dezember 2013 aus der Vorsorgeeinrichtung aus. Im November 2011 beschloss die Vorsorgeeinrichtung, eine Nullverzinsung für das Jahr 2012 für die Altersguthaben aller Versicherter. Im November 2012 fällte die Vorsorgeeinrichtung den Beschluss, die Altersguthaben der unterjährigen Austritte im Jahr 2013 nicht zu verzinsen und über die Verzinsung der übrigen Altersguthaben im November 2013 zu entscheiden. Im November 2013 beschloss sie dann, die Austritte per 31. Dezember 2013 als unterjährige Austritte zu behandeln und deren Altersguthaben nicht zu verzinsen, sowie die Guthaben der aktiven Versicherten per 31. Dezember 2013 (inkl. Pensionierungen per Ende Jahr) mit 1% zu verzinsen. In concreto hat die Vorsorgeeinrichtung den Begriff des «unterjährigen Austritts» im Reglement nicht definiert. Auch in ihren Mitteilungen an die Versicherten wurde der Begriff «unterjährig» nicht näher definiert. Die Versicherte durfte daher davon ausgehen, dass ein Austritt auf Ende Jahr nicht unterjährig sei. Nach Ansicht des Bundesgerichts ist die Vorsorgeeinrichtung ohne sachlichen Grund von den bisherigen Mitteilungen (zumindest wie diese inhaltlich verstanden werden durften) abgewichen und hat sich demzufolge widersprüchlich verhalten. Die Ungleichbehandlung der Versicherten gegenüber Personen, die am 31. Dezember 2013 ebenfalls noch aktiv waren (dies aber auch darüber hinaus), lässt sich in concreto nicht rechtfertigen. Die Frage, ob per Jahresende austretende Versicherte zwingend gleich zu behandeln sind mit Versicherten, die per Ende Jahr pensioniert werden, wurde nicht beantwortet. Ebenso offen blieb die Frage, ob eine klare reglementarische Definition des Austritts per 31. Dezember als unterjähriger Austritt zulässig wäre (9C_876/2014). Fazit • Bei einer Pensionierung per 1. Januar besteht ein Anspruch auf Verzinsung des Altersguthabens im Vorjahr, wie wenn der Versicherte per 1. Januar noch aktiv wäre. • Die Verzinsung unterjähriger Austritte darf reglementarisch speziell geregelt werden. • Wenn für den Versicherten aufgrund der konkreten Unterlagen nicht klar ist, dass ein Austritt per Ende Jahr als unterjähriger Austritt gilt, muss er gleich behandelt werden, wie ein per 1. Januar des Folgejahres aktiver Versicherter. Ob ein Austritt per Ende Jahr reglementarisch als unterjährig definiert werden darf, liess das Bundesgericht bis zum im Folgenden dargestellten aktuellen Entscheid (9C_176/2015) offen. 2 Newsletter | Juli 2016 Austritt | Verzinsung bei Ausscheiden per 31. Dezember Fazit Das Altersguthaben eines Versicherten, der per Ende Jahr aus der Vorsorgeeinrichtung austritt, muss gleich hoch verzinst werden, wie dasjenige eines Versicherten, der am 1. Januar des Folgejahres noch versichert ist. Eine abweichende reglementarische Grundlage verletzt den Gleichbehandlungsgrundsatz. Sachverhalt Ein Versicherter wurde per 31. Dezember 2012 entlassen. Für das Jahr 2012 wurde das Altersguthaben nicht verzinst. Bis zur Überweisung der Freizügigkeitsleistung wurde ein Verzugszins von 1.5% gutgeschrieben. Das Reglement der Vorsorgeeinrichtung hielt fest, dass der Stiftungsrat nach Abschluss des Geschäftsjahres aufgrund der aktuellen finanziellen Lage zwei Zinssätze für die Verzinsung der Altersguthaben festlegt, einen für Versicherte, die am (auf das Geschäftsjahr folgenden) 1. Januar noch Versicherte der Kasse sind, und einen für Austritte und Pensionierungen während des Geschäftsjahres. In der Folge hat der Stiftungsrat im August 2012 für das Geschäftsjahr 2011 beschlossen, (1.) für das Jahr 2011 mit 1.5% zu verzinsen, (2.) für Austritte zwischen 1.1.2012 und 31.12.2012 mit 0% zu verzinsen und (3.) im 2013 über die Verzinsung der Altersguthaben von Versicherten zu entscheiden, die am 1. Januar 2013 noch Versicherte der Kasse sind. Im August 2013 hat er für das Geschäftsjahr 2012 beschlossen, (1.) die Altersguthaben von Versicherten, die am 1. Januar 2013 in der Kasse versichert waren, für das Jahr 2012 mit 3.5% zu verzinsen, (2.) für Austritte zwischen 1.1.2013 und 31.12.2013 die Altersguthaben mit 1.5% zu verzinsen und (3.) im 2014 über die Verzinsung der Altersguthaben von Versicherten zu entscheiden, die am 1. Januar 2014 noch Mitglied der Kasse sind. Offenbar verstand die Vorsorgeeinrichtung den Begriff «versichert» als aktiv versichert. Auf Klage des entlassenen Versicherten hin, verpflichtete das Sozialversicherungsgericht des Kantons Genf die Vorsorgeeinrichtung dazu, das Altersguthaben des Versicherten im Jahr 2012 gleich zu verzinsen wie bei den in der Vorsorgeeinrichtung verbliebenen Versicherten (3.5%). Die Vorsorgeeinrichtung führte hiergegen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Entscheid 3 Das Bundesgericht hat die Beschwerde der Vorsorgeeinrichtung abgewiesen. Es verwies auf die bisherige Rechtsprechung (vgl. vorstehende Einleitung) und konkretisierte diese. Newsletter | Juli 2016 Das Bundesgericht hatte zu beurteilen, ob die identische Verzinsung der Altersguthaben von Versicherten, die bis zum 31. Dezember versichert waren, und solchen, die vor Ende des Jahres ausgetreten sind, mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz vereinbar ist, resp. ob eine Ungleichbehandlung mit denjenigen, die auch am 1. Januar des Folgejahres noch versichert sind, gerechtfertigt ist (E. 8.2). Es hielt fest, dass sich die Situation eines Versicherten, der bis zum 31. Dezember versichert ist, von derjenigen eines Versicherten unterscheidet, der im Laufe des Jahres aus der Vorsorgeeinrichtung ausscheidet. Genauso wie bei einem Versicherten, der über den 1. Januar hinaus versichert bleibt, hat auch das Altersguthaben eines am 31. Dezember ausscheidenden Versicherten während des ganzen Jahres zur Erzielung des Anlageertrages beigetragen. Entgegen den unterjährig austretenden Versicherten seien die bis zum 31. Dezember Versicherten Teil der gleichen Anlagerisikogemeinschaft wie die über dieses Datum hinaus Versicherten (E. 8.2.1). Das Bundesgericht anerkannte die Position der Vorsorgeeinrichtung, dass der Stiftungsrat den gutzuschreibenden Zins aufgrund der gesamten Umstände und der aktuellen finanziellen Lage der Vorsorgeeinrichtung bestimme. Die Sanierungssituation (insbesondere die Involvierung des Arbeitgebers in dieselbe) dürfe zwar eine Rolle spielen für der Beurteilung der Höhe des gutzuschreibenden Zinssatzes, nicht aber für die Gruppenbildung, um unterschiedliche Zinssätze anzuwenden (8.2.2). Eine unterschiedliche Behandlung von Versicherten, die per 31. Dezember 2012 ausgetreten sind, mit solchen, die über dieses Datum versichert bleiben, verletzt den Grundsatz der Gleichbehandlung (E. 8.2.3). Handlungsbedarf Die Vorsorgeeinrichtung darf einen Austritt per Ende Jahr (auch reglementarisch) nicht als unterjährigen Austritt behandeln und in der Folge geringer verzinsen. Bei einem Austritt oder einer Pensionierung per Ende Jahr ist dem Versicherten der gleiche Zins gutzuschreiben wie einem Versicherten, der per 1. Januar des Folgejahres noch aktiv versichert ist. Entsprechend sind Reglemente, welche Austritte per Ende Jahr als unterjährige Austritte behandeln resp. definieren, anzupassen. Quelle 4 Urteil des BGer 9C_176/2015 Newsletter | Juli 2016 Parität| Möglichkeit der Einschränkung des Wahlrechts ist begrenzt Fazit Die Verbesserung der paritätischen Mitbestimmung der Arbeitnehmer war ein zentrales Anliegen der 1. BVG-Revision. Die Aufsicht kann bei Sammeleinrichtungen eine alternative Form der Vertretung zulassen, aber nicht stillschweigend. Ein Wahlreglement, welches vorsieht, dass die Arbeitnehmer-Vertreter in der Vorsorgekommission durch die Gewerkschaften bestimmt werden, und den Versicherten auf diese Weise bereits auf Stufe Vorsorgewerk das aktive Wahlrecht verweigert, verstösst gegen den Grundsatz der Parität. Sachverhalt Die PROPARIS (P.) ist eine Sammeleinrichtung mit verbandsspezifischen von Versicherungskommissionen (VK) geführten Vorsorgewerken. Diese VKs bestimmen die Vertreter in der paritätisch zusammengesetzten Stiftungsversammlung, welche die Wahlbehörde des Stiftungsrats ist. Die P. wies ihre VKs an, die jeweiligen Wahl- und Organisationsreglemente dem Musterreglement der P. anzupassen. Dieses sieht vor, dass die Vertreter in den VKs von den jeweiligen Verbänden berufen werden. Das Vorsorgewerk IMOREK (I.) widersetzte sich dieser Weisung und sah in seinem Reglement vor, dass ihre Arbeitnehmer-Vertreter direkt durch die versicherten Personen bestimmt werden. Der Stiftungsrat der P. versagte diesem Reglement die Genehmigung und erliess zuhanden des I. im November 2012 ein Reglement, welches die Berufung der Arbeitnehmer-Vertreter durch die Gewerkschaften vorsah. Die Beschwerde der angeschlossenen Verbände und Versicherten wurde von der BBSA gutgeheissen. Das Bundesverwaltungsgericht wies die hiergegen erhobene Beschwerde der P. ab. Mit Beschwerde in öffentlichrechtlichen Angelegenheiten gelangte die P. ans Bundesgericht. Entscheid Auch das Bundesgericht hat die Beschwerde der P. als unbegründet abgewiesen. Es hat der I. Recht gegeben und die Verfügung der BBSA geschützt. In seinem Entscheid hat das Bundesgericht verschiedene (auch verfahrensrechtliche) Fragen beantwortet und einige offen gelassen (vgl. hierzu E. 4.5). Art. 51 Abs. 3 BVG bestimmt, dass die Versicherten ihre Vertreter unmittelbar oder durch Delegierte wählen. Die Aufsichtsbehörde kann aufgrund der Struktur der Vorsorgeeinrichtung andere Formen der Vertretung zulassen. Die P. rügte, dass die Aufsicht das Musterreglement geprüft und die entsprechende Bestimmung betreffend die Berufung der Arbeitnehmer-Vertreter durch die Gewerkschaften explizit nicht beanstandet habe. Damit liege eine Bewilligung für ein alternatives Wahlverfahren vor (E. 3.1). 5 Newsletter | Juli 2016 Für das Bundesgericht stellte dieses Argument aber ein unbeachtliches Novum dar, weil es vor Bundesverwaltungsgericht nicht geltend gemacht worden ist. Weder die Untersuchungsmaxime noch die richterliche Fragepflicht würden die Parteien davon entbinden, im Verfahren ihre Standpunkte zu vertreten, den Richter zu überzeugen und auf Beweismittel hinzuweisen (E. 3.2). Die Aufsichtsbehörde kann eine (alternative) Form der Vertretung nicht formlos resp. durch Stillschweigen zulassen (E. 3.3). Der Prüfbefund zur Reglementsprüfung sei auch nicht unveränderlich, denn die Überprüfung der Rechtmässigkeit einer Reglementsbestimmung im Rahmen eines konkreten Anwendungsfalles bleibe immer vorbehalten (E. 3.5). P. machte weiter geltend, die Arbeitnehmer-Vertreter würden seit Jahrzehnten von den Gewerkschaften ernannt (Vertrauensschutzes nach Art. 9 BV). Die Voraussetzungen des Vertrauensschutzes wurden von P. aber nicht ansatzweise begründet. Zudem könne eine Verwaltungspraxis weder das Bundesgericht binden noch Gewohnheitsrecht schaffen (E. 3.4). Die Verbesserung der paritätischen Mitbestimmung der Arbeitnehmer war ein zentraler Punkt der 1. BVG-Revision (E. 4.2). Die Mitbestimmung im obersten Organ dürfe zwar bei Sammeleinrichtungen eingeschränkt werden, allerdings sei die Berufung der Arbeitnehmer-Mitglieder durch Verbandsorganisationen nicht eine zwingende Alternative (E. 4.3). Zudem sei der Organisationsgrad der Arbeitgeber (100% Mitglieder der Branchenverbände) höher als bei den Arbeitnehmern (ca. 50% Gewerkschaftsmitglieder). Echte Parität verlange aber die Anwendung gleicher Massstäbe bei der Mitwirkung und der Vertretungsregelung beider Parteien. Ohne einen Grenzwert zu nennen, hielt das Bundesgericht fest, dass eine Vorsorgeeinrichtung nicht eine Vertretungsregel vorsehen könne, welche die Interessen eines Grossteils der Versicherten unberücksichtigt lasse. Es sei unverhältnismässig, den Versicherten bereits auf unterster Stufe (VK) das aktive Wahlrecht zu entziehen. Zudem zeige die P. auch nicht auf, weshalb ihre Struktur einen Eingriff in die Mitentscheidungsrechte von unten (VK) bis oben (SR) erforderlich mache (E. 4.4). Handlungsbedarf Überprüfung der reglementarischen Bestimmungen zur paritätischen Verwaltung. Die meisten Sammel- und Gemeinschaftseinrichtungen sollten keinen Handlungsbedarf haben. Quelle Urteil des BGer 9C_553/2015 6 Newsletter | Juli 2016 IV-Anspruch | Die Freizeit Teilerwerbstätiger ist in der IV nicht versichert Fazit Die Rechtsprechung von BGE 131 V 51 wird präzisiert. Neu gilt: Die IV versichert im nichterwerblichen Bereich zwar die Einschränkung im Aufgabenbereich, nicht aber die Freizeit eines Teilerwerbstätigen. Der Invaliditätsgrad entspricht der proportionalen Einschränkung im erwerblichen Bereich und kann damit den versicherten Bereich, welcher durch das hypothetische Teilzeitpensum definiert wird, nicht übersteigen. Bei teilerwerbstätigen Versicherten ohne Aufgabenbereich ist die anhand der Einkommensvergleichsmethode zu ermittelnde Einschränkung im (allein versicherten) erwerblichen Bereich proportional (im Umfang der hypothetischen Teilerwerbstätigkeit) zu berücksichtigen. Sachverhalt Eine teilerwerbstätige Versicherte lebte seit 1990 von ihrem Mann getrennt und hatte zwei Töchter. Ihr Arbeitspensum betrug 60%. Im September 2001 meldete sich die Versicherte bei der IV zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle ermittelte aufgrund der gemischten Methode einen Invaliditätsgrad von 51% (8% in der 40%igen Haushaltsführung und 80% in der 60%igen Erwerbstätigkeit). Sie sprach der Versicherten entsprechend eine halbe IV-Rente zu. Im August 2008 erhöhte die IV-Stelle revisionsweise diesen Anspruch auf eine Dreiviertelsrente, weil der Invaliditätsgrad im erwerblichen Bereich von 60% auf 100% gestiegen war. Im August 2012 beantragte die Versicherte eine ganze Invalidenrente. Die IV-Stelle lehnte den Antrag aufgrund der Ergebnisse eines eingeholten Haushaltsberichts ab, denn mittlerweile führte die Versicherte einen Einpersonenhaushalt ohne Betreuungspflichten, da ihre Töchter erwachsen waren. Gegenüber der IV-Stelle hatte die Versicherte mehrmals betont, sie würde auch im Gesundheitsfall lediglich mit einem Pensum von 50-60% arbeiten wollen. Auf Beschwerde der Versicherten hin, hob das Kantonsgericht Luzern die Verfügung der IV-Stelle auf und verpflichtete diese, der Versicherten eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Gegen dieses Urteil gelangte die IV-Stelle mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ans Bundesgericht. Entscheid 7 Das Bundesgericht hat die Beschwerde gutgeheissen, das kantonale Urteil aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle bestätigt. Für die Bemessung der Invalidität von erwerbstätigen Versicherten gilt die Methode des Einkommensvergleichs. Bei nicht erwerbstätigen Versicherten kommt die spezifische Methode zur Anwendung, d.h. es wird darauf abgestellt, in welchem Ausmasse die versicherte Person unfähig ist, sich im Aufgabenbereich zu betätigen. Bei Teilerwerbstätigen bemisst sich die Invalidität nach der gemischten Methode, nach welcher der Anteil der Erwerbstätigkeit und der Anteil der Tätigkeit im Aufgabenbereich gewichtet und anschliessend der Invaliditätsgrad in beiden Bereichen bemessen wird. Newsletter | Juli 2016 In BGE 131 V 51 hat das Bundesgericht festgehalten, dass die Invalidität bei einer hypothetisch im Gesundheitsfall lediglich teilerwerbstätigen Person ohne Aufgabenbereich nach der Methode des Einkommensvergleichs zu beurteilen sei. Das Valideneinkommen bemesse sich nach dem tatsächlichen Teilzeitpensum, wobei entscheidend sei, was die versicherte Person als Gesunde tatsächlich an Einkommen erzielen würde, und nicht, was sie bestenfalls verdienen könnte (E. 5). Das Bundesgericht findet es stossend, dass der Wegfall des Aufgabenbereichs und die damit verbundene Verminderung des versicherten Bereichs von 100% auf 60% zu einer Erhöhung des Invaliditätsgrades führen soll. In der Vergangenheit habe mit 63% ein geringerer Invaliditätsgrad resultiert, obwohl damals neben der Einbusse im erwerblichen Bereich zusätzlich eine Einbusse im Haushalt zu berücksichtigen war. Der Wegfall der Haushaltsführung (Aufgabenbereich) und dessen Ersetzen durch nicht versicherte Freizeit führe nach bisheriger Rechtsprechung paradoxerweise zu einer Rentenerhöhung, was mit dem Rechtsgleichheitsgebot unvereinbar sei (E. 6.2, 6.4). Im Ergebnis würde so bei der Beschwerdegegnerin die nicht versicherte Freizeit mitentschädigt (E. 6.5). Eine versicherte Person, die im Gesundheitsfall ihr wirtschaftliches Potential nicht voll ausnützt, um mehr Freizeit zu haben, begnüge sich mit dem Teilzeitlohn und verzichte damit freiwillig auf einen Teil des Lohnes, den sie erzielen könnte. Ein Ausgleich für den nicht verwerteten Teil der Erwerbstätigkeit durch die IV sei nicht statthaft (E. 7.1). Das Bundesgericht behaftete also die Versicherte auf ihrer Aussage, auch im Gesundheitsfall lediglich zu 50-60% arbeiten zu wollen. Bei Teilerwerbstätigen ohne Aufgabenbereich ist demnach die anhand des Einkommensvergleichs zu ermittelnde Einschränkung im allein versicherten erwerblichen Bereich proportional (im Umfang der hypothetischen Teilerwerbstätigkeit) zu berücksichtigen. Der Invaliditätsgrad entspricht der proportionalen Einschränkung im erwerblichen Bereich und kann damit den versicherten Bereich, welcher durch das hypothetische Teilzeitpensum definiert wird, nicht übersteigen (E. 7.3). Handlungsbedarf Es ist nicht ersichtlich, wie die IV-Stellen mit diesem Entscheid umgehen werden. Die Entwicklung muss insb. betreffend die Überentschädigungsberechnung im Auge behalten werden. Zumindest im Obligatorium ist die Vorsorgeeinrichtung gemäss Art. 23 Bst. a BVG an den Entscheid der IV-Stelle gebunden. Immerhin kann festgehalten werden, dass (1.) von der gemischten Methode erst dann zur reinen Einkommensvergleichsmethode gewechselt werden kann, wenn aufgrund der gesamten Umstände anzunehmen ist, dass die versicherte Person eine volle Erwerbstätigkeit aufnehmen wollte, und (2.) eine Leistungspflicht der Vorsorgeeinrichtung auch bestehen kann, wenn die IV-Stelle aufgrund eines zu tiefen Invaliditätsgrades keine IV-Rente gewährt. Quelle Urteil des BGer 9C_178/2015 8 Dr. iur. Erich Peter Rechtsanwalt, LL.M.
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