FAZ Rezension (Verbundzentrale des GBV)

Rezension: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.10.1961, S. BuZ5
Lartéguy, Jean: Die Zenturionen
Jean Lartéguy: "Die Zenturionen." Roman. Aus dem Französischen von Werner von Grünau. (Verlag der
Europäischen Bücherei H. M. Hieronimi, Bonn, 1961. 577 S" 24,80 DM.)
Kein Wunder, daß dieser französische Roman gewaltiges Aufsehen gemacht und bei seinem Erscheinen in
Frankreich die Leser an sich gerissen hat. Behandelt er doch eines der verhülltesten und gleichzeitig
lebenswichtigsten Probleme, das die staatliche Existenz Frankreichs wie ein Fieber durchwühlt, nämlich das
Verhältnis der Armee zum Volksganzen und zur Staatsführung. Wie kommt es, daß es gerade in Frankreich, also in
einem Land mit großem militärischem Ideenreichtum und glanzvollen kriegerischen Traditionen, eine tiefgehende
Krise der Armee gibt, die das Land unfähig macht, seine internationalen Verpflichtungen zu erfüllen, seine
überseeischen Besitzungen zu bewahren - eine Krise, die eine schwere Belastung der Staatsautorität darstellt und die
Formen einer schleichenden Revolution anzunehmen droht? Wenn man das Buch des französischen Autors gelesen
hat, hat man auf diese Fragen zwar keine erschöpfende Antwort, erhalten, aber man ahnt doch einiges von den
Verstrickungen, in die die militärischen Führer dieses von einem ehemaligen General regierten Landes geraten sind.
Wir haben, wohlgemerkt, einen Roman vor uns, einen routinierten und außerordentlich spannend geschriebenen
Roman, der trotz seines starken Umfangs den Leser nicht losläßt, obwohl diesem ein nicht immer übersichtliches
Gewimmel von Personen, eine Anhäufung von kriegerischen Grausamkeiten, von Nebenhandlungen mit Figuren
weiblichen Geschlechts und epischen Verschlingungen zugemutet wird. Ja, man darf sogar fragen, ob die
politischen, militärischen und moralischen Fragen, die dem Autor auf den Nägeln brennen, nicht zwingender und
unausweichlicher hervorgetreten wären, wenn sie nicht in diese - aufregende und tumultuöse - Romanhandlung
eingeflochten, sondern diskursiv und rein argumentierend vorgebracht worden wären. Für den bitteren Ernst der
Hauptfrage ist die Geschichte, die da erzählt wird, fast zu farbig, zu überladen, zu reich an Explosionen aller Art, zu
reich an Mord, Blut und "Sex", wie man heute stammelnd sagt. Der Roman überwuchert bisweilen die Erkenntnisse,
die uns bei der Lektüre zuwachsen, aber man muß zugeben, daß es eine farbige, ungestüme und wilde Wucherung
ist.
Die Zenturionen waren die Hauptleute der römischen Legionen, die in Nordafrika und in anderen entlegenen
Gebieten die Grenzen des Reiches verteidigten, "während Rom verrottete". Hier ist es eine Gruppe von Offizieren,
die freiwillig über Dien Bien Phu abgesprungen sind und nun von den siegreichen Viet Minh gefangen werden. Der
Weg bis zum Gefangenenlager ist ein endloses Martyrium, nicht nur wegen der körperlichen Leiden, sondern auch
wegen der qualvollen propagandistischen Bearbeitung, die sie während des Marsches und später im
Gefangenenlager zu erleiden haben. Es sind tapfere Offiziere mit der typisch französischen Intelligenz, die sich so
flink wie ein Weberschiffchen zwischen Theorie und Praxis bewegt. Aus ihren endlosen Diskussionen ergibt sich
ein geschlossenes Bild des Zustandes, in den wagemutige und idealistische Offiziere Schritt für Schritt geraten,
während die Niederlage in Indochina zur Tatsache wird. Frankreich kapituliert, die Gruppe der Offiziere kehrt nach
Frankreich heim, aber sie finden den Weg in die alte Existenz nicht mehr zurück. Selbst ihre Frauen und Familien
sind ihnen fremd geworden. Sie lungern in Paris umher, betrinken sich, haben Weibergeschichten und saugen sich
voll Ekel gegen die heimischen Zustände. Einige Monate später finden sie sich alle in Algerien wieder zusammen.
Der sagenhafte Oberstleutnant Raspéguy, "der tapferste Offizier der französischen Armee", hat sic aufgetrieben, um
mit ihnen ein Fallschirmregiment aufzustellen. Dies Regiment, jeder staatlichen Autorität trotzend und nur ihrem
baskischen Oberstleutnant gehorchend, nimmt nun praktisch den Kampf gegen die algerischen Aufständischen in
die Hand und verrichtet Wunderwerke an Tapferkeif, Findigkeit und Verschwörungskunst. Da werden Hälse
abgeschnitten, Schädeldecken mit Schläuchen weich geklopft, Agentinnen vergewaltigt, Einbrüche,
Bombenanschläge und "Liquidierungen" verübt. Kurzum, der Haufen der "Paras" erscheint uns - nicht dem Autor! nachgerade als cine gesetzlose und schreckenerregende Gesellschaft von Terroristen, deren schrittweiser Abfall von
Frankreich uns ganz natürlich vorkommt. Sic schlagen den ersten großen Aufstand in der Stadt Algier nieder, aber
ihr Oberstleutnant veranlaßt selbst die Verlegung seines Regiments ins Gebirge, damit sic dort sich von dem
Schmutz des Terrorkrieges "reinigen" können. Aber anstatt sich zu reinigen, brüten die Fallschirmoffiziere Rache
gegen das Mutterland und murmeln erbittert: "Rom soll sich vor dem Zorn der Legionen hüten!" So endet der
Roman, den der Autor im Sommer 1959 abgeschlossen hat. Die Fortsetzung hat die Gegenwartsgeschichte
geschrieben: Putsche, weiterer Terrorkrieg, Aufstand der Kolonisten, wieder Putsche, meuternde Generale und der
offene Krieg eines Teiles der Armee gegen die eigene Regierung.
Der Versuch, die Vorgänge des Buches zu resümieren, enthüllt eine gewisse Monotonie, hinter der sich die
Verherrlichung der "Paras" als der Keimzelle eines neuen Soldatentums und sogar eines neuen Frankreichs nur
schlecht verbirgt. Diese heimliche Verherrlichung beschränkt sich aber nicht auf die Taten dieser Schlagetots mit
ihrer etwas beschränkten Verachtung der Zivilisten, sondern bezieht sich vor allem auf ihre Erfahrungen mit der
revolutionären Kriegführung, die die eigentliche Substanz des Buches bilden. Diese Fallschirmoffiziere lernen in
der Gefangenschaft der Viet Minh, daß es noch nie eine reguläre Armee gegeben hat, die mit gut organisierten
Partisanen fertig geworden ist. Frankreich, so glauben sie, braucht eine revolutionäre Armee, die einen
revolutionären Krieg führt, eine "Volksarmee", in der jeder kleine Gefreite den Eindruck gewinnt, für die Führung
des Krieges mitverantwortlich zu sein. Die Paras sind die "räudigen Schafe" der Armee im alten Sinne, der Armee,
die von Generälen mit Monokeln geführt wird (seltsam, daß das Schmuckstück der deutschen Offiziere aus der Zeit
vor dem Ersten Weltkrieg hier, ein halbes Jahrhundert später, als ein Symbol wieder auftaucht!). Die räudigen
Schafe wollen, keine Tradition, sie haben von den Viet Minhs, also von den asiatischen Kommunisten, gelernt, daß
eine Armee sich innerhalb ihres Volkes wie ein Fisch im Wasser fühlen muß. "Mao Tse-tung hat über den
revolutionären Krieg geschrieben, und weil wir seine Theorien mißachteten, haben wir diese katastrophale
Niederlage einstecken müssen." In dem Roman ist es der Hauptmann Marinelli, der die Lehre von der subversiven
Kriegführung am besten verstanden hat; kein Wunder also, daß er von den "Monokelträgern" als halber Kommunist
verdächtigt wird. Er erklärt, daß nur "die Kriegsmethoden der Marxisten wirksam" sind und daß die
Fallschirmoffiziere, die von Mao Tse-tung und den Viet Minhs gelernt haben, langsam zu Sektierern, zu einer Art
von Jesuitenorden werden und mehr und mehr aus dem Rahmen des traditionellen Frankreichs heraustreten.
Diejenigen militärischen Führer also, die von den, asiatischen Marxisten den "revolutionären Krieg" gelernt haben,
den einzigen Krieg, durch den man Algerien - so glauben sie - bewahren kann, diese Männer kommen ganz von
selbst dazu, Meuterer und Putschisten zu werden, den Staat zu mißachten und schließlich in die verderbliche Nähe
des kommunistischen Evangeliums zu geraten. Ho Tschiminh und Mao Tse-tung sind also, ohne es zu wollen, die
Lehrer der "Zenturionen", die einst der alten Republik ein Ende gemacht haben und die heute als Besiegte von Dien
Bien Phu und von Algerien von einem "harten Paradiese", von einer "geheimen Armee" träumen, die, wenn sie ihr
Ziel erreichte, der Herd für eine neue Revolution sein würde.
FRIEDRICH SIEBURG
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