DIE WELT - Gemeinnützige Hertie

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06.08.16
Samstag, 6. August 2016
:Belichterfreigabe:
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Belichter:
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28 SCHÜLERPROJEKT
DIE WELT
SAMSTAG, 6. AUGUST 2016
WIE ERGEHT ES JUNGEN FLÜCHTLINGEN IN DEUTSCHLAND? DAS WOLLTEN DREI SCHULKLASSEN WISSEN. SIE LASEN IM UNTERRICHT DIE „WELT“ UND
STORMARNSCHULE AHRENSBURG
Mobile Flüchtlingsunterkünfte in Großensee an der
Hamburger Stadtgrenze
„Wir kamen nur für SICHERHEIT“
amilienvater Achmed Malani* reicht seiner kleinen
Tochter Lya* ein Stück Schokoladenkuchen. Sie lächelt,
setzt sich auf seinen Schoß
und beide strahlen um die Wette: zwei
von vielen Flüchtlingen, die heute ins
Flüchtlingscafé in den Kirchsaal Hagen
in Ahrensburg gekommen sind. Die
Stimmung ist gut, man lernt Deutsch;
sprechen, schreiben und Vokabeln; und
es gibt Kaffee und Kuchen. Die Kinder
spielen mit den ehrenamtlichen Mitarbeitern im Nebenzimmer.
Achmed ist aus seiner Heimat, dem
Irak, geflohen und lebt mit seiner Frau
und den drei Kindern seit 15 Monaten in
Deutschland. Die Möglichkeit, einen
Sprachkurs zu belegen, gab es bisher
nicht. Das Flüchtlingscafé vom Freundeskreis für Flüchtlinge, das seine Türen jeden Mittwoch für alle öffnet, die
vorbeikommen wollen, ist daher eine
große Unterstützung. Ehrenamtliche
Mitarbeiter verschiedener Altersgruppen, Jugendliche wie Rentner, nutzen
ihre freie Zeit, um Flüchtlingen aus
Ländern wie dem Iran, dem Irak oder
Syrien unter die Arme zu greifen. Meist
kommen zwischen zehn und 15 Flüchtlinge, und mittlerweile spricht Achmed
schon fast fließend Deutsch.
Teilweise hat er sich die Sprache
selbst beigebracht, aber auch das wöchentliche Lesen und Schreiben im
Flüchtlingscafé war eine große Hilfe.
„Der Freundeskreis für Flüchtlinge hilft
ab dem ersten Tag“, erzählt er begeistert. Flüchtlingsfamilien bekommen Paten zugeteilt, die sie von Anfang an unterstützen. Achmeds Pate hat seiner Familie zum Beispiel geholfen, eine Wohnung zu finden, die zwar nicht mehr im
F
besten Zustand sei, allerdings alles habe, was man brauche. Auch im Alltag, etwa bei der Suche nach einem Kinderarzt, vermitteln die Paten. „Was die
Leute hier machen ist super-wunderbar.
Wir haben das nicht erwartet. Wir kamen nur für Sicherheit“, sagt der junge
Familienvater dankbar und lächelt.
Auch Lya genießt das Zusammentreffen mit anderen Kindern aus Familien
unterschiedlichster Nationen. Sie kochen zusammen am Spielzeugherd, probieren unterschiedliche Gerichte und
haben Spaß. „Das ist doch mal eine kulinarische Küche“, lacht eine junge ehrenamtliche Helferin.
Herkunft und Sprache spielen hier
keine Rolle, die Kinder plappern einfach
in den unterschiedlichsten Sprachen
durcheinander. Die Betreuerin allerdings spricht Deutsch mit den Kindern,
um ihnen die Sprache spielerisch nahezubringen: „Die Kinder lernen so
schnell und wir unterstützen sie dabei.“
Auch in Großhansdorf, der Nachbargemeinde von Ahrensburg, ist das Interesse an der Flüchtlingsarbeit groß: Der
Saal im Rathaus ist gefüllt, als Bürgermeister Janhinnerk Voß eine Versammlung des „Freundeskreis Flüchtlinge“
eröffnet.
Die im September 2014 gegründete
Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, die momentan 120 Flüchtlinge
aus zwölf verschiedenen Ländern, größtenteils Syrien und Afghanistan, in die
Gemeinde zu integrieren. Untergebracht sind die Asylsuchenden in verschiedenen Unterkünften und Wohnhäusern in ganz Großhansdorf. An dem
Projekt arbeiten vor allem Ehrenamtliche mit. Die Vorsitzenden des Freundeskreises, Karin Iding und Angelika
Woge, berichten über den aktuellen
Stand der Arbeit. Nachdem ein Flyer
und eine Website erstellt wurden, die
zur Verbreitung von Informationen und
als Portal für Helfer dienen, wurde zum
1. März ein Flüchtlingsamt eingerichtet.
Dolmetscher, Sozialpädagogen, Architekten und weitere Helfer organisieren
die Flüchtlingsarbeit in Großhansdorf
gemeinsam.
Das Angebot des Freundeskreises ist
breit aufgestellt und beruht voll und
ganz auf dem freiwilligen Engagement
der Bürger. Auch hier greift wieder das
Prinzip der Patenschaft: Freiwillige betreuen Flüchtlinge und unterstützen sie
beispielsweise bei der Suche nach einer
Unterkunft, als Begleitung zu Arztbesuchen und bei anderen alltäglichen Vorkommnissen. „Ich sehe es als meine
Aufgabe, sie zu unterstützen – zuerst
intensiv, jetzt begleitend“, berichtet eine Patin vom Freundeskreis. Ein anderer ergänzt: „Es geht darum, Vertrauen
aufzubauen. Es ist schön zu sehen, wie
schnell es vorangeht.“
Für die Kleinen gibt es eine Spielstunde vom Deutschen Roten Kreuz
und Schulkinder erhalten kostenlose
Schulmaterialien. Eine internationale
Teestunde sowie der Dienstagabendtreff für Jugendliche gehören ebenso
zum Angebot wie die gut besuchten
Deutschkurse. „Die Flüchtlinge geben
sich ganz viel Mühe. Sie wollen Deutsch
lernen – und das schnell“, erklärt die
Patin zweier Asylsuchender aus Eritrea.
Anfangs hätten sie sich noch mit Händen und Füßen unterhalten, doch
schnell habe es Fortschritte gegeben
und nach nur vier Monaten würde die
Kommunikation jetzt schon ganz gut
klappen.
Schüler der
11. Klasse der
Stormarnschule
in Ahrensburg
machten sich
mit ihrer Lehrerin
auf und trafen
Asylsuchende
Im Interview macht Bürgermeister
Voß deutlich, wie begeistert er von der
großen Bereitschaft zur projektbezogenen Arbeit sei, auf die man in der Gemeinde treffen würde. „Die meisten
Helfer engagieren sich aus Menschlichkeit. Es gibt zahlreiche Motive, mitzuhelfen: manche Personen haben eigene
Erfahrungen mit dem Thema Krieg und
Flüchten gemacht und wollen die Asylsuchenden nun so unterstützen, wie
auch sie unterstützt worden sind.“
Es sei jedoch auffällig, dass sich überwiegend ältere Menschen einbringen
würden. So sei es das nächste Ziel, auch
die jüngeren Großhansdorfer ins Boot
zu holen. Zurzeit befänden sich 36 Kinder und Jugendliche unter den Flüchtlingen und Berührungsängste seien unter Gleichaltrigen nun einmal deutlich
geringer: „Ein Jugendlicher wird sich
eher etwas von einem anderen Jugendlichen sagen lassen.“
Trotz der vielen Helfer berichtet Voß
auch von Bürgern, die kritischer Auffas-
sung gegenüber Flüchtlingsheimen in
der Nachbarschaft seien. Er versichert
jedoch: „In Großhansdorf hat sich kein
einziger Vorfall durch Flüchtlinge ereignet. Sobald Bürger mit Flüchtlingen direkt in Kontakt kommen, sind viele oft
überrascht, dass sich ihre Vorurteile
nicht bestätigen. Daher ist es ein Argument, sich zu engagieren, gerade damit
man negative Vorkommnisse verhindert und sich Befürchtungen nicht bewahrheiten.“
Er betont: „Das Ziel ist es, Einheimische und Flüchtlinge zusammenzubringen. Doch natürlich werden auch Gerüchte gestreut. Man kann in dieser angespannten Situation nicht voraussetzen, dass alle Mitbürger so aufgeschlossen sind.“ Alles in allem sind der Bürgermeister und der Freundeskreis
Flüchtlinge jedoch sehr zufrieden: „Das
Positive an der Flüchtlingsarbeit ist,
dass man sich die Aufgaben einteilen
kann. Wenn jeder mithilft, stellt die
Flüchtlingsthematik für uns kein Problem dar.“
Auch das Amt Trittau, einer weiteren
Nachbargemeinde, hat sich bereit erklärt, Flüchtlinge aufzunehmen. Dafür
werden neue Gebiete, etwa im benachbarten Großensee, Lütjensee, Grönwohld und natürlich Trittau selbst erschlossen. Dreiviertel der Immigranten
kommen in Trittau unter; der Rest verteilt sich auf die genannten Dörfer.
Im November letzten Jahres wurden
jeweils fünf transportable Unterkünfte
in Großensee und Lütjensee aufgestellt.
Die Kosten für die etwa 40 Quadratmeter großen und eingerichteten Unterkünfte betragen rund 40.000 Euro.
„Wir haben nach einer nachhaltigen Lösung gesucht. Sollten die mobilen
Wohnheime nicht mehr genutzt werden, verkaufen wir sie wieder auf dem
freien Markt“, erklärt Borngräber.
Im Februar 2016 stellte Amtsvorsteher Ulrich Borngräber die Flüchtlingsunterkünfte auf dem ehemaligen
Bolzplatz in Großensee der Presse vor,
gemeinsam mit Bürgermeister Karsten
Lindemann-Eggers, der Flüchtlingsbeauftragten Andrea Schröter und Christina Henning vom Fachdienst Soziale
Hilfen.
Sie bieten mit einem Einzel- und zwei
Doppelzimmern, einem Duschbad mit
WC und einer Pantry-Küche mit angegliedertem Wohnraum je fünf Personen
ein Dach über dem Kopf. Auf dem
„Bolzplatz“ gibt es außerdem ein
Waschhaus mit zwei Waschmaschinen
und zwei angebauten Einzeltoiletten,
auf die die Hausbewohner im Notfall
ausweichen können. Den Bolzplatz, so
Lindemann-Eggers, habe man deshalb
als Standort ausgesucht, weil er sowieso
nur noch sporadisch von Jugendlichen
genutzt worden sei.
Die Verteilung der Flüchtlinge auf die
unterschiedlichen Unterkünfte liegt bei
Christina Henning vom Fachdienst Soziale Hilfen in Trittau. Neben den mobilen Wohnheimen in Großensee stehen
ihr noch etwa 60 vorhandene oder „in
Arbeit“ befindliche Plätze zur Verfügung: in angemieteten oder gekauften
Häusern und Wohnungen oder in weiteren in mobilen Heimen.
Samstag auf dem Ahrensburger
Marktplatz genießt man die Sonne,
kauft auf dem Wochenmarkt ein,
tauscht Neuigkeiten aus. Auf die Frage,
ob sie von den laufenden Projekten zur
Flüchtlingsarbeit im Raum Ahrensburg
wüssten, reagieren die meisten jedoch
mit einem Kopfschütteln. Zwar hat die
Mehrheit bis jetzt nur positive Erfahrungen mit Flüchtlingen gemacht – und
steht hinter Angela Merkels Flüchtlingspolitik.
„Die Flüchtlinge können unsere Kultur bereichern“, erklärt ein Passant.
„Scheu und Angst sind sehr gering und
man begegnet den Flüchtlingen auf Augenhöhe. Ob es jetzt um Kriegs- oder
Wirtschaftsflüchtlinge geht, in erster
Linie sollte geholfen werden.“ Einige
äußern sich aber auch abwertend oder
fühlen sich schlicht zu wenig aufgeklärt:
„Aufgeklärt durch Lügenmedien? Sicherlich nicht. Reinste Propaganda,
durch die nicht aufgeklärt wird.“ Auch
vor steigender Kriminalität haben viele
Angst.
Und die Flüchtlinge selbst? Die fünfköpfige Familie Mutlu*, die seit zwei
Jahren in Ahrensburg lebt, fühlt sich
wohl und gut aufgenommen. Nicht nur
durch Spenden, durch Kleidung oder
drei Fahrräder für die Kinder, habe man
sie unterstützt. Die drei Kinder, zwei
Jungen und ein Mädchen im Grundschulalter, seien auch in der Schule und
bei Freizeitaktivitäten gut aufgenommen worden, betont die Mutter: „Wir
können uns sehr glücklich schätzen,
dass unsere Kinder so schnell den Anschluss gefunden haben und so gut gefördert wurden.“
T * Namen von der Redaktion geändert
Deutschkurs von Silke Hörberg,
Stormarnschule Ahrensburg; Schüler:
Kolja Blüße, Berend te Booy, Lara
Deeken, Katharina Heß, Sophie Heuser,
Ronja Jürgensonn, Sylvana Kempka,
Anna-Lena Lorenz, Antonia Meyer,
Nina Pape, Elisa Scharnbeck, Linda
Schwarzer, Clara Seelig, Pia Sünnemann, Vito Thomsen, Liv Tryggvason
Eines Tages geriet die Situation aus den Fugen
Schüler des Düsseldorfer Humboldt-Gymnasiums haben versucht, sich in Menschen auf der Flucht hineinzuversetzen: Dana erlebt den Zusammenbruch der öffentlichen
ein Name ist Dana, und ich
komme aus Deutschland. Eigentlich hatten wir hier immer
eine politisch stabile Situation, aber die
Zeiten sind vorbei. Die Bürger sind mit
der aktuellen Regierung nicht mehr zufrieden. Es fing alles mit friedlichen
Aufständen an. Die Menschen wollten
der Regierung zeigen, dass sie nicht alles mit sich machen lassen. Doch die Regierung fürchtete, dass ihre Fehler oder
sonstige negative Aspekte ans Licht geraten würden, und plötzlich verschwanden einige spurlos, die sich gegen die
Regierung einsetzten.
Anfangs fiel das natürlich nicht auf,
aber als sich die Zahl vergrößerte, fingen die Spekulationen an. Immer mehr
Menschen schlossen sich den Regierungsgegnern an. Eines Tages geriet die
Situation aus den Fugen. Ich war gerade
in der Schule, als bewaffnete Bürger-
M
gruppen versuchten, den Landtag zu
stürmen. Mittlerweile ging es nicht
mehr nur gegen die Regierung.
Es war fast so, als ob die Menschen
beabsichtigt nach Gründen suchten, um
sich gegenseitig zu hassen. Sei es wegen
der Religion oder aus anderen Gründen.
Es entstanden immer mehr Konflikte,
welche bis zu dem Tag jedoch nicht eskalierten. Ab diesem Zeitpunkt ging alles drunter und drüber in unserem
Land. Die Regierung hatte ihre Bürger
nicht mehr unter Kontrolle, und die Polizei schien machtlos zu sein.
Als der Bürgerkrieg ausbrach, war die
Situation vielen, ebenso mir, noch nicht
bewusst. Man hoffte, dass sich die Lage
wieder beruhigen würde, doch das
denkt zurzeit keiner. Es liefen zunehmend mehr Menschen bewaffnet herum. Anfangs nur, um sich angeblich im
Notfall verteidigen zu können, doch vie-
le schossen irgendwann wahllos in die
Menge.
Der Unterricht in der Schule wurde
unterbrochen, da viele Familien die Kinder aus Angst nicht mehr aus dem Haus
ließen. Mir ging es ähnlich. Das Leben
spielte sich größtenteils in der Wohnung ab. Über das Internet konnten
meine Freunde und ich Kontakt halten
und uns gegenseitig Mut zusprechen.
Die Schreckensnachrichten nahmen
stetig zu: Selbstmordattentäter, Amokläufer …
Wir haben echt Glück, dass wir in
diesem modernen Zeitalter leben. So
konnten wir uns immer darüber informieren, wie gefährdet unser Gebiet gerade ist oder ob es ein günstiger Zeitpunkt war, um beispielsweise einkaufen
zu gehen. Meine Familie beschloss zu
flüchten. Wohin genau, war anfangs
noch unklar. Ein Teil meiner Familie
ES LIEFEN
ZUNEHMEND
MEHR MENSCHEN
BEWAFFNET HERUM
war bereits in Argentinien. Mittlerweile
sind wir auch da, allerdings war der Weg
dahin nicht einfach.
Allein bei der Ausreise aus Deutschland wurden einige erschossen. Die
meisten Flüge und Züge wurden gestrichen, somit war es umso voller am Flughafen und an den Bahnhöfen. Wir hatten Glück und konnten getrennt auf
zwei Flüge aufgeteilt werden. Allerdings
gab es Komplikationen auf unserer Reise. Wir mussten in billigen Motels unterkommen, um uns die Reise überhaupt leisten zu können.
Dabei ging es uns noch deutlich besser als anderen. Teilweise wurden die
Kinder vorgeschickt, weil für die Eltern
das Geld nicht reichte. Als wir endlich
in Argentinien nach Monaten ankamen,
konnten wir natürlich nicht wie erhofft
zu unserer Familie. Wir wurden kontrolliert und anschließend zu einem
Flüchtlingsheim gebracht. Wir hatten
Feldbetten und eine schlechte Versorgung, die wir seit Beginn unserer Reise
bereits zunehmend zu spüren bekommen haben. Es war sehr ungewohnt, mit
so vielen Menschen eng aneinander zu
leben, aber uns blieb nichts anderes übrig, als uns daran zu gewöhnen. Nachdem schon ein paar Wochen vergangen
waren, konnten wir endlich einen Antrag auf Asyl stellen.
Dieser wurde jedoch erst nach wenigen Monaten bewilligt. Wir durften also
zu unserer Familie. Mittlerweile war
mein Bruder krank, und uns ging es allgemein sehr schlecht. Wir waren ausgehungert und erschöpft. Im Gegensatz
zu dem Großteil der anderen haben wir
echt Glück gehabt, da wir uns nicht erst
eine neue Existenzgrundlage schaffen
mussten. Ich habe natürlich versucht,
mit meinen Freunden Kontakt zu hal-
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DIE WELT
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SCHÜLERPROJEKT 29
SAMSTAG, 6. AUGUST 2016
ERARBEITETEN EIGENE BEITRÄGE. DAS PROJEKT „ANGEKOMMEN – UND WILLKOMMEN!?“ WIRD VON DER HERTIE-STIFTUNG UNTERSTÜTZT
Erinnerung, Alltag,
ENGAGEMENT
Die Schüler des Kunstkurses der Q1 des
Städtischen Gymnasiums Köln-Deutz setzten
mit ihren Kameras Flüchtlingskinder ins Bild.
Das Ergebnis: Faszinierende Begegnungen
Bevor ich mein Engagement in der Spielgruppe des Flüchtlingsheims begann, hatte ich keine Vorstellung, was mich
dort erwarten würde. Die Medien berichteten viel über die
Situation in den Aufnahmestellen, jedoch denke ich, dass es
wichtig ist, sich ein eigenes Bild von der Lage zu machen,
bevor man zu einem Urteil kommt. Entgegen meiner Erwartung war die Stimmung auf den Gängen eher ruhig und gelassen. Viele Bewohner waren auf ihren Zimmern oder in
den Räumen, in denen Deutsch unterrichtet wird. Für unsere Arbeit nutzten wir das Spielzimmer. Dort bastelten wir,
bauten – passend zur EM – ein Tischfußballspiel oder flochten Freundschaftsarmbänder. Meine Fotografie entstand in
einer der kleinen Pausen, in denen die betreuten Kinder mit
ihren Spielsachen spielten, da es ihnen schwerfällt still zu
sitzen. In dieser Zeit fiel mir auf, dass zwei Jungen in einem
bunten Stoffzelt spielten. Für mich strahlt es Geborgenheit
aus, da durch seine farbenfrohe Gestaltung eine positive Atmosphäre und ein Kontrast zum grauen Heimalltag entsteht. Für die Kinder war es ein Ort der Ruhe, der den Umgang mit der schwierigen Situation erleichtert. Die beiden
porträtierten Jungen nutzen es, um den Trubel um sie herum zu Vergessen. Ich hatte Glück, einen kleinen Blick in ihr
Versteck zu erhaschen, da sie den Eingang in ihr Zelt stets
verschließen, um ein eigenes Reich zu haben.
In Europa und besonders in Deutschland sind die Bildung
und Perspektiven der jungen Flüchtlingskinder ein viel diskutiertes Problem in der Politik. Die Flüchtlingskinder bekommen nicht gleichermaßen Chancen in der Schulbildung
und somit auch nicht genügend Perspektiven für ihre Zukunft. Auch durch die traumatischen Ereignisse in ihren
Heimatländern sind die Kinder gezeichnet von Angst und
Unsicherheit. Deshalb sollte man ihnen die Möglichkeit geben, sich hier in Deutschland wie ein Kind zu fühlen, und
ihnen eine Auszeit aus ihrer Vergangenheit verschaffen. Die
Kinder eines Flüchtlingsheims in Köln nahmen an dem Projekttag „Unterwegs mit wilden Tieren“ teil und haben einen
halben Tag im Zoo verbracht. Im Bollerwagen haben einige
der Kinder den Zoo erkundet, was ihnen natürlich sehr viel
Spaß einbrachte. Fast alle von ihnen konnten ein wenig
Deutsch sprechen und haben sowohl mit den ehrenamtlichen Helfern als auch mit einigen fremden Kindern gesprochen. Man hat sehr gemerkt, wie sich alle Kinder gefreut haben und wie fasziniert sie den beeindruckend großen und
kleinen Tieren in ihren Gehegen zugeschaut haben. Im Kölner Zoo konnten diese traumatisierten Kinder wieder Kinder sein und sich wohlfühlen. Dies wollte ich fotografisch
dokumentieren. Meiner Meinung nach sollte es mehr Projekte geben, die Flüchtlingskinder unterstützen.
In meiner Arbeit stelle ich zwei junge Menschen dar, die
verschiedene Ziele haben; unterschiedliche Ziele zu unterschiedlichen Zeiten. Meine Intention war es, zu zeigen,
dass meine Vorfahren einst in der gleichen Situation waren
wie Tausende Menschen heute. Auch wir waren auf Hilfe
angewiesen, brauchten tolerante Menschen und Verständnis. Meiner Meinung nach werden Wörter wie „Flüchtlingskrise“ oder „Anschläge“ in den Medien so oft genutzt, dass
sie normal geworden sind. Das ist problematisch, da der
Ernst der Lage verkannt wird und sich eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer Menschen einstellt.
Wann haben die Medien angefangen, nur noch über Flüchtlinge zu berichten? Mit meiner Fotografie will ich an jeden
appellieren: Hört auf, Fremde zu verurteilen, und beginnt,
ihnen zu helfen.
Bei unseren Aufenthalten in den Flüchtlingsunterkünften
und den Gesprächen mit den Helfern wurde uns klar, wie
viele Menschen gemeinsam arbeiten, um die Qualität der
Betreuung aufrechtzuerhalten. Viele Helfer und Helferinnen haben einen Migrationshintergrund, einige mussten
einst selbst fliehen. Die Geschichten, die wir gehört haben, waren nicht nur sehr berührend, sondern haben uns
auch bewusst gemacht, welche Privilegien wir hierzulande haben. Der Gemeinschaft der Betreuer ist es zu verdanken, dass das Zusammenleben funktioniert. Im Gespräch mit geflohenen Jugendlichen fiel uns auf, dass die
Heranwachsenden ähnliche Interessen haben, sie gucken
die gleichen Fernsehserien oder spielten einst dieselben
Videospiele. Dann kam die Flucht als Wendepunkt in ihr
Leben: abgebrochene Studien und Schulabbrüche, der
Verlust des Bekannten, der Freunde, der Heimat. Sie erzählten uns, dass sie gerne weiterstudieren, Deutsch lernen und sich integrieren wollen. Das alles wird aber erst
möglich sein, wenn ein Sachbearbeiter entscheidet, ihnen
diese Chance zu geben. Bis dahin haben sie im Alltag keine
Aufgaben, keine Perspektive. Warum?
STÄDISCHES GYMNASIUM KÖLN-DEUTZ/STÄDISCHES GYMNASIUM KÖLN-DEUTZ (8)
In den Nachrichten hört man sehr häufig, dass in den Notunterkünften und Flüchtlingsheimen miserable Verhältnisse herrschen. Als wir dann mit unserem Projekt begannen, war es doch sehr ordentlich. Viele der kleinen Kinder
konnten kein Deutsch und waren zum Teil auch traumarisiert, aber dankbar für jede Art der Beschäftigung. Was ich
nicht vergessen werde ist das Wort „Finish?“, was die Kids
am Ende der Spielstunde immer traurig fragten.
T Kursleiterin: Sabine Steinmann; Referendarin: Sonja
Hergarten; Schüler: Eda Atac, Edona Avdili, Selin Avkan,
Johanna Becker, Ferhan Bektas, Raphael Eberwein, Nico
Eisenberg, Nina Eylert, Elena Frigge, Leonard Fromme,
Katharina Huster, Nathalie Klevers, Lise Kreider, Lena
Ley, Tobias Matheisen, Laura Metzger, Mandy Runkel,
Carolina Schermaul, Vivien-Julie Schmidt, Lisa Marie
Schöller, Adelija Stark, Svenja Troska und Ivan Vukoja
Blicke und Worte wie stechende Seitenhiebe
Ordnung und flieht. Ein Gedankenexperiment
ten, aber das war einerseits unsere
kleinste Sorge und andererseits auch
gar nicht möglich, da wir teilweise
nicht einmal Strom hatten. Von ein
paar Freunden weiß ich mittlerweile,
dass sie auch heil an ihrem Reiseziel angekommen sind. Von anderen wiederum weiß ich bis heute nicht einmal, ob
sie überhaupt noch am Leben sind.
Der Gedanke an unsere Heimat
macht uns sehr traurig. Wir mussten
fast alles zurücklassen und besitzen
kaum noch Sachen. Allein die Ungewissheit, ob unser Haus überhaupt
noch steht, plagt uns. Wäre dies nicht
der Fall, wäre eine Rückkehr überhaupt
nicht möglich, da wir keinen eigenen
Lebensraum mehr hätten.
Mittlerweile gehe ich hier in eine sogenannte Flüchtlingsschule und versuche mich der Kultur anzupassen. Das
fällt mir sicherlich noch leichter als
meinen Eltern, allerdings haben auch
wir Jugendlichen unsere Probleme.
Teilweise sprechen die Flüchtlinge, die
von überallher kommen, nicht einmal
Englisch, was eine Verständigung untereinander nahezu unmöglich macht
und uns auf die Ebene des Gestikulierens herabsetzt.
Generell ist es immer noch ein merkwürdiges Gefühl, hier zu sein, da wir
praktisch kaum etwas besitzen und uns
beispielsweise auch zu dritt ein Zimmer teilen, was wir zu Hause eben nicht
mussten. Ich hoffe, dass wir eines Tages wieder zurück nach Hause können
oder es schaffen, uns hier unser eigenes
Leben aufzubauen. Wenn ich mir etwas
wünschen könnte, wäre das der Frieden, denn gäbe es den Weltfrieden oder
noch besser friedliche Menschen, hätten wir und Millionen andere Familien
nicht ihre Heimat verloren.
Immer weiter und weiter und weiter: Ein innerer Monolog über eine Busfahrt, die zur großen Qual wird
s ist warm. Ein warmes Gefühl
im Bauch, nach der ersten richtigen Mahlzeit seit Tagen: ich bin
satt. Es ist warm. Die Leiber meiner
drei Kinder, zwei kleine Mädchen und
ihr Bruder, sind an meinen gepresst.
Ich spüre ihren Herzschlag, ihr Blut in
den Adern pulsieren. Auch sie haben einen vollen Magen. Sind froh, hier zu
sein. Froh über jeden Meter, den wir
zurücklegen, denn jeder einzelne
bringt uns unserem Ziel näher – auch
wenn wir selbst noch nicht wissen, wo
das sein mag.
Die drei drücken sich so fest es nur
geht aneinander, denn je weniger Platz
sie einnehmen, desto mehr Abstand
wahren sie zu den andern. Die anderen.
Die vielleicht das „gleiche Schicksal“
teilen, wie SIE es uns so oft sagen. Aber
gleich ist eben nicht gleich. Wie kann
man gleich sein wie jemand, der eine
E
andere Sprache spricht? Einen anderen
Gott anbetet? Eine andere Kultur an
seine Nachkommen weitergibt, oder …
dies zumindest vorhat.
Kaum ist es bisher vorgekommen,
dass ich jemandem begegnet bin, der
meinen Dialekt ohne zu zögern versteht und ohne zu zögern wiedergibt.
Noch seltener kennt dieser jemand
meine Heimatstadt, geschweige denn
meine Familie, auch wenn ihre Wurzeln
weit im ganzen Land verbreitet sind.
Weitverbreitet waren. Nun sind sie gerodet. Ausgebrannt. Nein, wir sind
nicht gleich. Gleich ist nur die Ungewissheit.
Es ist warm. Die Luft ist schlecht
hier im Bus, der schon seit Stunden
durch die Gegend fährt und noch kein
einziges Mal gehalten hat, und diese Dicke wird nicht nur durch die Spannung
der Lebensgeschichten erzeugt, die
hier aufeinander treffen. Kein passender Ort für Rast, keine Zeit, immer gibt
es einen anderen Grund, weshalb wir
uns nicht die Beine vertreten können,
um einmal frische Luft zu schnappen.
Aber vielleicht ist das ja auch gerade
gut so. Verstohlene Seitenblicke des
Tankwarts wenn wir doch einmal rasten, damit der Tank des etwas heruntergekommenen Gefährts gefüllt werden kann. Vereinzeltes Flüstern, tuscheln hinter vorgehaltener Hand, dass
zu einem Stimmengewirr anwächst,
von dem Moment an, ab dem man erkennt, wer die Passagiere sind, die aus
diesem Reisebus aussteigen.
Blicke und Worte wie stechende Seitenhiebe. Taue, die mich immer fester
umwickeln bis ich förmlich spüre, wie
sich meine Muskeln zusammenziehen,
mein Rücken verkrampft … mein Nacken sich beugt und ich versuche mich
unsichtbar zu machen. SIE versuchen
es vor uns zu verbergen, aber natürlich
bekommen wir es mit. Nicht alle hier
sind uns so wohlgesinnt, wie SIE es uns
glauben machen wollen. Wohl. Gesinnt.
Sinnens, sich um unser Wohl zu kümmern. Das ist nicht, was die Blicke bedeuten, das Getuschel.
Kleine Wellen, die sich zu einer Flut
aufstauen, bis auch wir beim nächsten
Mal, als wir den Bus verlassen, einer tobenden Menge ins Gesicht sehen müssen, die unsere Heimkehr an einen Ort
fordert, der nicht mehr unser Heim ist,
sondern unser Tod.
Vielleicht ist es wirklich besser, die
Türen des Busses bleiben verschlossen.
Wir fahren immer weiter und weiter
und weiter. Durch immer grüner werdende Landschaften. Die Körper meiner Kinder liegen in meinen Armen. So
ist mir wenigstens warm.
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