Flüchtlings- und Integrations REPORT Liebe Bürgerinnen und Bürger! I m Sommer des vergangenen Jahres traf Hamm die Flüchtlingssituation mit voller Kraft. Damals kamen hier täglich neue Busse mit Menschen an, die in unserer Stadt Zuflucht gefunden haben. Anfang Juli wurde die Alfred-Fischer-Halle in Heessen zur Notunterkunft umfunktioniert. Weite Teile der Verwaltung waren mit der Unterbringung der Flüchtlinge beschäftigt; unter anderem bei der Planung und beim Bau der Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) am Alten Uentroper Weg, die seit der Eröffnung im August 2015 vom Land Nordrhein-Westfalen betrieben wird. Im Vergleich zu den Sommermonaten des vergangenen Jahres hat sich die Situation im Hinblick auf die Unterbringung deutlich entspannt. Wir haben die Zeit genutzt, um weitere Wohnmöglichkeiten zu schaffen: unter anderem in den leer stehenden Gebäuden des sogenannten Glunzdorfes. Wir wollen für den Fall vorbereitet sein, dass wieder deutlich mehr Menschen nach Deutschland kommen – und somit auch in unserer Stadt. Gleichzeitig ist es unser gemeinsames Ziel, nicht mehr Strukturen aufzubauen als unbedingt nötig: vor allem – aber nicht nur – mit Blick auf die Kosten. Insofern müssen wir bei der weiteren Planung immer wieder abwägen und auch ein Stück darauf hoffen, dass unsere eigenen Prognosen und die von Experten an anderen Stellen in weiten Teilen zutreffen. Ganz besonders liegt uns in diesen Wochen und Monaten die Integration der Menschen am Herzen. Als Zeichen dafür haben wir den Flüchtlingsreport im Titel um diesen Aspekt erweitert. Eine besondere Herausforderung ist die Integration in den Arbeitsmarkt: Ein Grund dafür liegt in den unterschiedlichen Abschlüssen und Voraussetzungen, mit denen die Menschen in unser Land gekommen sind. Das Thema „Arbeit“ bildet in dieser Ausgabe einen besonderen Schwerpunkt. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und freue mich wie bei der Erstausgabe im März auf Ihre Rückmeldungen und Anregungen. Ihr Thomas Hunsteger-Petermann Oberbürgermeister der Stadt Hamm Foto: René Golz Ausgabe 02: Juli 2016 Zur Sprache gekommen Mohammed Bakr (27), kurz Mo, hat sein Ziel klar vor Augen: „Ich will weiter studieren und meinen Abschluss machen“, erklärt er mit einem zuversichtlichen Lächeln. Mo kam vor etwa zweieinhalb Jahren als Flüchtling aus Syrien nach Deutschland. S ein Maschinenbaustudium musste Mohammed wegen des Bürgerkrieges unterbrechen. „Um an einer deutschen Universität zum Studium angenommen zu werden, muss ich Sprachkurse absolvieren und einen Test durchlaufen“, erzählt Mo, „den B1Sprachkurs habe ich schon absolviert“. Mit dem Folgekurs, dem B2-Kurs, ist man allgemein bereit für den Arbeitsmarkt. Die Sprachprüfung der Hochschulen setzt dieses Niveau voraus. „Ein bisschen muss ich also noch die Schulbank drücken“, sagt Mo schmunzelnd. Er kann es kaum erwarten, an der Uni zu starten. dierte Chemie-Ingenieur ist mitten im B 2-Sprachkurs und begibt sich nach Bestehen der Abschlussprüfung auf Jobsuche. Neben den Kursen nutzen die beiden jungen Syrer an einem Ort der Sprache die Chance, ihr Deutsch im Alltag zu verbessern – in der städtischen Zentralbibliothek. Stadtbücherei hatte deshalb die tolle Idee, Flüchtlinge mit guten Deutschkenntnissen als Dolmetscher zu engagieren“. Mo und Anas haben sich sofort bereit erklärt, zu helfen. Sie übersetzen Flyer und Broschüren ins Arabische und or- » ganisieren die „Meet & Talk“Treffs in der Bücherei. Bei den regelmäßigen Treffen kommen Flüchtlinge und Einheimische zusammen, unterhalten sich und knüpfen Kontakte. „So lernen sich die Menschen gegenseitig kennen und es entstehen gemeinsame Unternehmungen und Aktionen“, erklärt Dr. Volker Pirsich die Idee. Mo und Anas übernehmen auch Führungen für Flüchtlinge durch die Bücherei und zeigen ihnen das arabischsprachige Angebot oder beraten zu passenden Lernbüchern für die deutsche Sprache. Davon profitieren alle Seiten, denn die Kommunikation läuft auf Deutsch – „zumindest soweit es eben geht“, sagt Mo schmunzelnd. « Sein Freund Anas Hasan (26) ist da schon etwas weiter. Der stu- Dr. Volker Pirsich, Leiter der Stadtbüchereien, erkannte früh die Herausforderungen und Chancen in der aktuellen Flüchtlingssituation: „Es war schnell klar, dass eine wachsende Anzahl arabischsprachiger Flüchtlinge nach Hamm kommt. Um die deutsche Sprache kennen zu lernen, eignet sich gerade der Besuch in der Bücherei. Der Freundeskreis der IHK-Geschäftsführer im Interview „Auch ein emotionaler Auftrag“ „Kriminalität ist keine Frage des Passes“ Eine (nicht) alltägliche Hilfe Integration in den Arbeitsmarkt wird „Mammutaufgabe“ Die „Integration Point“-Mitarbeiter Martin Tagoe und Süleyman Kocabayraktar wollen Flüchtlinge in Arbeit bringen Seite 4/5 Die Sprecher der Polizei Hamm Christopher Grauwinkel und Julia Breitenstein im Interview Seite 6 Ulrike Köhler hat die Patenschaft für eine syrische Familie übernommen Seite 7 Seite 3 So lernen sich die Menschen gegenseitig kennen und es entstehen gemeinsame Unternehmungen und Aktionen « 2 Flüchtlings-und Integrations REPORT Flüchtlings- und Integrations REPORT „Integration darf nicht zu Lasten anderer gehen“ „In einer seiner letzten Reden als Vorsitzender des Städtetags Nordrhein-Westfalen (der Vorsitz rotiert alle zwei Jahre) hat Oberbürgermeister Thomas HunstegerPetermann die besondere Leistung der Städte bei der Integration von Flüchtlingen betont: „Integration findet immer vor Ort statt, nicht im Land oder im Bund.“ Folglich müssten die Städte und Kommunen noch mehr Unterstützung erfahren als bislang. In besonderer Weise gelte das für die finanzielle Ausstattung der Kommunen. Der „Flüchtlings- und Integrationsreport“ nennt eine Auswahl der wichtigsten Zitate aus der Rede von Oberbürgermeister Hunsteger-Petermann: Sie formulieren in weiten Teilen die Forderungen des Städtetags Nordrhein-Westfalen. Der kommunale Spitzenverband repräsentiert 39 Städte mit rund neun Millionen Bürgern. ingt nbed iner u n e müss ss es zu e n „Wir de da iden, tuation in e m r e i v zs nte urren mmt : Die I r k n o K en fü en ko Städt nsleistung icht zu gratio e dürfen n pen tling erer Grup Flüch n and en.“ Laste g eh er Asylv ns e d e le g e hrend ts wä n Arbeitsg haffen i e r e „B lte e sc i, n s sol nge g fahre ür Flüchtli n dazu be n e f g n t a e a r gr io et heit en : Si ftliche Inte egration d r e w ha Int sellsc ig d die die ge ringen un kt frühzeit r b a u z m voran n Arbeits eiten.“ in de vorzuber e lisch schu ein e i d n wir k auf nblic benötige nzept : i H ko n n „ Im samt ratio ch de Integ riertes Ge realistis ennen s n integ zept mus hulen be usforde c a n r S o e e K er anzeH Da s r uns n, wie di au des G en ü f f r d Beda aufzeige ion, Ausb rallel zu g r a s n a p u l u l r k und n von Ink e Bildung uwande l Z e rung nd Digita gen der önnen.“ k u un tags usforder werden t a ltig H er bewä „ In s f die order beson t de vol d der lstän r Stä ere K d ige dtet o st me a Flüc nhang en, die Übern g a htli im m h Unt ngss it der Zusa me itua erb m a ring tion ktuel l ent ung in durch en s te H hen artz die .“ IV „ D ie gezwu Städte dürf en nic ng en für Flü chtling werden, Lei ht bei de e durch Eins stungen Leistun n übrigen ko chränkunge n das gil gen gegen z mmunalen t insbe u finan son zi e im Stä rkungs dere für Kom ren – Hamm pakt (hierzu munen , die R e dak t i g e hö r t on) .“ „ D er eines S frühzeitige Be p kurses rach- und Int such e mu s s z ur Reg grationsN eb en e l werd e diesen der Sprache werde n : Kursen n nisse ü a in u c h er st b er wie Re unsere Rech e Kenntli t und Gl gionsfreiheit sordnung e i c h s te , Toler anz llung v ermitt elt.“ Wie lassen sich Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integrieren? Welche Vorkenntnisse bringen sie mit - und wo liegen die Chancen und Herausforderungen für die Unternehmen? Im Interview mit dem „Flüchtlingsund Integrationsreport“ beantwortet Ulf Wollrath, Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer zu Dortmund (IHK), die wichtigsten Fragen. e ne ureig s, e n i e te t „Es is e des Staa rinnen b g a r g ü e Auf der B rleisten. t i e h r wäh e c he die Si rger zu ge ies Aufgab d ü d un B t B is un d Linie r Justiz von ng r e t s u I n er la g e r nd d e izei u . Eine Ver uf die l o P r n a de än d er ab e n und L olizeiaufg ehnen von P mmunen l .“ Ko wir ab Angemerkt! Eine Kolumne von: Reinhard Merschhaus E s ist eine beachtliche Leistung, dass es in Hamm gelungen ist, seit dem letzten Jahr einige tausend Menschen aufzunehmen, die auf der Flucht sind. Zeigt sich daran doch, dass unsere christlich-humanistischen Werte, von denen an Feiertagen so oft die Rede ist, im Alltag auch gelebt werden. Klar ist aber auch, dass die wohl größere Aufgabe noch vor uns liegt. Viele der Neuankömmlinge wollen und müssen bei uns eine neue Heimat finden. Sie wollen und müssen einen Platz in unserer Gesellschaft finden. Nun fragen sich viele Einheimische mit recht, ob das geht und wie das geht. Sind die Menschen, die hier leben, überhaupt bereit, sich darauf einzulassen? Oder sind die Vorbehalte gegen Zuwanderer so groß, dass Integration gar nicht gelingen kann? Und das ist die entscheidende Frage. Politiker und Verwaltungsexperten können Integrationsprogramme entwickeln wie sie wollen, wenn die Bevölke- rung nicht mitmacht, werden sie scheitern. Muss man also befürchten, dass die Mehrheit der Deutschen alles Fremde ablehnt? Einer, der es zu wissen glaubt, hat kürzlich die Probe aufs Exempel geliefert. Ein gewisser Herr Gauland ließ die Öffentlichkeit vor kurzem wissen, Jerome Boateng, ein farbiger deutscher Fußballnationalspieler, sei als Sportler ja wohl akzeptiert, neben ihm wohnen wolle aber niemand. Wohl selten ist ein Versuch, Fremdenfeindlichkeit, ja Rassismus zu schüren, so kläglich gescheitert, denn anschließend waren die Stadien voll von Plakaten, auf denen viele Menschen Boateng aufforderten, in ihre Nachbarschaft zu ziehen. Die sozialen Netzwerke tobten und Herr Gauland hat mittlerweile festgestellt, er habe es irgendwie so nicht gemeint. Aber kann man das Beispiel Boateng verallgemeinern? Schließlich sind nicht alle Neuankömmlinge mit überragenden sportlichen Talenten gesegnet. Es sind auch nicht Mehrjähriges Engagement aller Beteiligten notwendig alle Ärzte oder Computerspezialisten. Es stimmt ja, viele verfügen nur über geringe Qualifikationen und müssen auf ein eigenverantwortliches Leben bei uns erst vorbereitet werden. Schaffen die das und tragen wir das mit? Nun gilt für Flüchtlinge, was für Einheimische auch gilt: Es wäre ganz schlecht, wenn jeder Philosophieprofessor oder Konzertpianist*in werden wollte. Busfahrer*innen, Altenpfleger*innen oder Elektriker*innen werden mindestens genauso gebraucht. Und man kann eines voraussehen: Wer den Mut und die Entschlossenheit aufbringt, zu Fuß von Afghanistan nach Deutschland zu laufen, oder die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer zu wagen, dem kann man getrost zutrauen, dass er einiges auf sich nehmen wird, den Anforderungen dieses fremden Landes gerecht zu werden. Ich bin sicher, wenn wir auch dabei helfen, wird das Projekt Integration gelingen!« Reinhard Merschhaus (Vorsitzender der Grünen-Ratsfraktion) Für welche Bereiche des Arbeitsmarktes sehen Sie die größten Chancen? D er Wirtschaft droht wegen des demographischen Wandels ein Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften. Mit den Flüchtlingen sind vor allem junge Menschen nach Deutschland gekommen: Können sie die Lücke womöglich ein Stück schließen? Wollrath: Ein Stück sicherlich. Die regionale Wirtschaft ist sich nicht nur ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst, sondern möchte auch das neue Potenzial an Arbeitskräften zur eigenen Fachkräftesicherung nutzen. Allerdings ist das kein „Selbstläufer“. Die Integration von Flüchtlingen wird eine „Mammutaufgabe“ der nächsten Jahre. Der Schlüssel für eine gelingende Integration ist die Sprachförderung. Wie groß ist die Bereitschaft der Betriebe, Zeit und Mühe in die Integration zu investieren? Wir haben Unternehmen unserer Region vor einiger Zeit dazu befragt: Demnach würden 42 Prozent von ihnen Flüchtlinge einstellen, 41 Prozent würden sie ausbilden und 46 Prozent einen Praktikumsplatz anbieten. Für rund 28 Prozent ist es allerdings Voraussetzung, dass für eine Beschäftigung oder Ausbildung der Aufenthalt dauerhaft gesichert ist. Insofern ist es zu begrüßen, dass das neue Integrationsgesetz hier Rechtssicher- mindestens zwölf Jahre Schulbesuch aufweisen und ein Studium zumindest begonnen haben. Die Zahlen zeigen, dass die einfache Formel „Flüchtling = Fachkraft“ nicht aufgeht. Die Integration der gef lohenen Menschen in den Arbeitsmarkt und in Ausbildung erfordert ein mehrjähriges Engagement aller Beteiligten und persönliche Anstrengungen der Flüchtlinge. Die bisherigen Erfahrungen mit der Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt legen nahe, dass ein Einstieg häufig über einfache Tätigkeiten in Branchen und Berufen gelingen kann, die eine geringe bis mittlere Qualifikation erfordern: Dazu gehören unter anderem die Logistik, die Gastronomie und das Reinigungsgewerbe. Wenn die Menschen dann Deutsch sprechen, eine frühere Ausbildung im Heimatland anerkannt wird oder sie sich qualifiziert haben, erhöhen sich die Chancen auf eine höher qualifizierte Tätigkeit. In der AprilAusgabe unserer Zeitschrift „Ruhr Wirtschaft“ haben wir einige Firmen, die Flüchtlinge beschäftigen, beispielhaft vorgestellt. Wollrath: Ulf Wollrath, Geschäftsführer der IHK zu Dortmund heit bringen will und die „3+2“Forderung der IHK-Organisation aufgreift. Wer als Flüchtling eine Ausbildung anfängt, soll für die gesamte Dauer in Deutschland bleiben. Wenn er danach einen passenden Job findet, kommen noch zwei weitere Jahre hinzu. Lange Zeit hieß es, dass insbesondere mit den Flüchtlingen aus Syrien gut ausgebildete Fachkräfte nach Deutschland gekommen sind. Das hat sich nicht durchweg bestätigt: Wie ist Ihre persönliche Einschätzung? Wollrath: Aktuelle und belastbare Informationen über die Qualifikationsprofile der geflüchteten Menschen liegen nach meinem Kenntnisstand für unsere Region nicht vor. Die Flüchtlingsstudie 2014 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gibt einige Hinweise, bezogen auf ganz Deutschland. Dort wurden 2.800 Asylberechtigte und anerkannte Flüchtlinge befragt – vor allem aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Je nach Herkunftsland verfügen zwischen 22 Prozent und einem Drittel der Flüchtlinge über keine oder eine nur geringfügige schulische Bildung. Knapp 60 bis 75 Prozent haben keine Berufsausbildung oder einen Studienabschluss. Allerdings waren auch diese Menschen nach eigenen Angaben in ihrer Heimat berufstätig. Rund zehn Prozent werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als Höherqualifizierte eingestuft, weil sie Viele Flüchtlinge wollen möglichst schnell in Deutschland arbeiten. Trotzdem dauert es vielfach lange, bis das tatsächlich möglich ist – zu lange? Wo liegen die Gründe? Wollrath: Das Asyl- und Ausländerrecht ist recht kompliziert. So haben Flüchtlinge mit einer Aufenthaltserlaubnis einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Da die Aufenthaltsdauer aber zunächst befristet ist, ist auch der Zugang zum Arbeits- markt zunächst befristet. Das ist nur eines von vielen Beispielen. Unternehmen, die gewillt sind, Flüchtlinge zu beschäftigen, beklagen häufig das „bürokratische Dickicht“ und mangelnde Informationen über Anlaufstellen. Allerdings ist mit der Einrichtung des „Integration Point“ im Haus der Arbeitsagentur Hamm eine wichtige Anlaufstelle für Flüchtlinge und auch für Arbeitgeber geschaffen worden. Auch wir stellen auf unserer Homepage (www. dortmund.ihk24.de/Fluechtlinge) einen Leitfaden für Unternehmen bereit, die Flüchtlinge in Ausbildung und Beschäftigung bringen wollen. Wie hilft die IHK den Unternehmen, die Flüchtlinge ausbilden oder beschäftigen wollen? Wollrath: Wir haben unsere Unterstützungsangebote zur Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen in einem Fahrplan zusammengefasst. Im Einzelnen gliedert sich der IHK-Fahrplan in vier Stationen: Information, Beratung, Recruiting und Vermittlung. Dazu gehört beispielsweise, die Unternehmen über verschiedenste Wege zu informieren und praktische Hilfen zu geben. Des Weiteren unterstützt die IHK bei der Suche nach geeigneten Kandidaten und hilft, die Integration von Flüchtlingen in den betrieblichen Alltag zu organisieren. Über Berufskollegs, Bildungsträger und die „Integration Points“ in den Städten Dortmund, Hamm sowie dem Kreis Unna werden geeignete Flüchtlinge gesucht, die für ein Praktikum, eine Einstiegsqualifizierung oder eine Ausbildung in Frage kommen. Die Leitung dieses Projektes liegt bei meinem Geschäftsführer-Kollegen Michael Ifland, der bei uns die Abteilung Berufliche Bildung leitet.« 3 4 Flüchtlings- und Integrations REPORT FlüchtlingsIntegrations REPORT Der Hauswart in der Unterkunft, der BAMF-Mitarbeiter und so weiter. Wir schauen uns die Kunden im ersten Gespräch genau an – und wir sagen ihnen, was das Ziel ist. Was wir von ihnen erwarten. Auch was die Menschen in Hamm von Ihnen erwarten. Wenn zum Beispiel zur Sprache kommt, dass die Ehefrau natürlich auch einen Sprachkurs machen muss, sind manche Klienten schon überrascht. Aber man muss solche Dinge von Anfang an klar formulieren. Für mich ist ganz klar: Wir müssen aus den Fehlern im Zuge der Zuwanderung der Gastarbeiter lernen und verhindern, dass Zuwanderer in parallele Welten abdriften. Die Einschätzungen zur Qualifikation der Flüchtlinge gehen auseinander. Sie haben tagtäglich mit den Menschen zu tun. Wie sehen Sie das? Martin Tagoe: Es kommt ein Querschnitt der Gesellschaft „Auch ein emotionaler Auftrag“ Süleyman Kocabayraktar und Martin Tagoe arbeiten seit Dezember vergangenen Jahres im Hammer „Integration Point“ daran, Flüchtlinge nachhaltig in Arbeit zu bringen. » Ist es Zufall, dass Migranten im Integration Point auf zwei Arbeitsvermittler mit Migrationshintergrund treffen? Von meiner Seite ist es jedenfalls kein Zufall, dass ich an der Integration von Flüchtlingen mitwirke. Ich gehöre zur späten zweiten türkischen Gastarbeiter-Generation, seit 1981 lebe ich hier in Hamm. Ich bin als Kind viel in der Kinderabteilung des Jugendzentrums Südstraße gewesen, zur Friedensschule gegangen. Die Stadt ist meine Heimat geworden. Ich habe den dienstlichen Auftrag, Flüchtlinge in Arbeit zu bringen. Aber für mich ist es auch ein emotionaler Auftrag. Ich möchte mithelfen, dass sich meine Klienten in Hamm integrieren – so wie ich mich integriert habe. Ich hoffe, dass mein Beispiel auch motiviert. Martin Tagoe: Mein Vater kommt aus Ghana, meine Mutter ist Deutsche. Die Situation der Flüchtlinge ist sicherlich anders. Aber viele Themen kommen mir schon „entfernt bekannt“ vor. Und ich werde von Klienten schon häufiger gefragt, wie mein beruflicher und persönlicher Werdegang war. Grundsätzlich ist es wichtig, dass man als Arbeitsvermittler auch nachvollziehen und verstehen kann, was denjenigen gerade bewegt, den ich vermitteln möchte. Es geht auch um Vertrauen: Süleyman Kocabayraktar Dass ohne Sprachkenntnisse kaum ein „normales“ Leben möglich ist, wird mir immer wieder klar – beispielsweise wenn jemand, der zwanzig Jahre in Syrien als Rechtsanwalt gearbeitet hat, vor mir sitzt und völlig unsicher, fast schon hilflos, wirkt. Über die Absolvierung von Sprachkursen hinaus rate ich dann immer: Geht auf die Menschen in Hamm zu. Ihr könnt Fehler machen – ob sprachlich oder bei den Gepflogenheiten, das nimmt euch niemand übel. Ihr dürft euch nur nicht zurückziehen. Süleyman Kocabayraktar: Aber für mich ist es auch ein emotionaler Auftrag. Ich möchte mithelfen, dass sich meine Klienten in Hamm integrieren – so wie ich mich integriert habe. Süleyman Kocabayraktar: bzw. der Arbeitnehmer in den Heimatländern – nicht mehr und nicht weniger. Darunter sind Ungelernte, Handwerker, aber auch Hochschulabsolventen. Klar sein muss jedem: Auch der Bestqualifizierte kann nicht von heute auf morgen in den Arbeitsmarkt auf einer vergleichbaren Stelle integriert werden. Es geht zunächst um die Anerkennung von Abschlüssen, meistens müssen Leistungen nacherbracht werden – und ohne eine entsprechende Sprachkompetenz kann man natürlich weder als Schneider noch als Mediziner arbeiten. « Bei vielen waren die Erfahrungen mit dem Staat nicht so, dass dieser nach klaren Regeln handelt, auf die man sich verlassen kann. Viele sind insbesondere im ersten Gespräch auch richtig nervös, das merkt man. Die wollen nichts falsch machen. Das klingt eher nach Sozialarbeit als nach Arbeitsvermittlung… Nein, das ist Fördern und Fordern. Für viele sind wir hier im Integration Point schon die erste dauerhafte Kontaktperson. Alle Kontakte vorher waren sachlich und zeitlich eingeschränkt. Süleyman Kocabayraktar: Was antworten Sie Menschen, die fragen, warum es überhaupt eine zusätzliche Einrichtung für Flüchtlinge wie den Integration Point braucht? Warum können diese nicht in der regulären Vermittlung betreut werden? Martin Tagoe: Wir brauchen zur schnellstmöglichen Inte- gration ein abgestimmtes Vorgehen aller Beteiligten, was durch die Einrichtung des Integration Points in Struktur gebracht wurde. Ansonsten verstreicht sehr viel Zeit ungenutzt. Das Asylverfahren nimmt derzeit zum Beispiel im Durchschnitt allein ein Jahr in Anspruch. Die Ausländerbehörde im Amt für Soziale Integration der Stadt Hamm erstellt für die Agentur für Arbeit Listen mit Flüchtlingen mit guter Bleibeper- » Für mich ist ganz klar: Wir müssen aus den Fehlern im Zuge der Zuwanderung der Gastarbeiter lernen und verhindern, dass Zuwanderer in parallele Welten abdriften. Süleyman Kocabayraktar « spektive, die im Anschluss an das Asylverfahren dann direkt zu uns, also zum Jobcenter, kommen. Dazu gehören derzeit Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Iran, Irak, Syrien, Jordanien, Ägypten und Eritrea. So können wir die Zeit bis zum nachhaltigen Eintritt in die Arbeitswelt mit Maßnahmen nutzen, die die Menschen zum Arbeitsmarkt hin führen. Können Flüchtlinge den Fachkräftemangel – insbesondere im Handwerk – beheben? Martin Tagoe: In den Medien ist da teilweise vielleicht eine etwas zu sehr von der Euphorie getragene Einschätzung vermittelt worden. Sicherlich besteht hier eine große Chance. Ich war früher im Unternehmerservice insbesondere für das medizinische Handwerk zuständig, deshalb weiß ich zum Beispiel: Für den Beruf „Orthopädischer Schuhmacher“ findet man als Arbeitgeber nur sehr schwer Auszubildende. Es gibt in vielen Bereichen Ausbildungsberufe mit Bewerbermangel. Am Anfang steht eine Kompetenzfeststellung und Sprachstandserhebung, an die sich Integrationskurse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), berufsspezifische Sprachförderungen und reguläre Sprachkurse anschließen können. Wenn die sprachliche Qualifikationen dazu ausreichen, vermitteln wir in dreiwöchige Praktika bei Arbeitgebern, aus denen sich ein guter Eindruck ergibt, ob es Sinn macht, einen bestimmten Weg der Förderung weiter zu verfolgen. Parallel läuft natürlich die formale Anerkennung von Berufsabschlüssen und Qualifikationen. Das ist bei Flüchtlingen nicht leicht. Sie haben natürlich selten ihre schriftlichen Zeugnisse und Bescheinigungen mit auf die Flucht genommen haben – und wenn doch, dann sind sie natürlich in einer nicht-europäischen Sprache verfasst. » Wir brauchen zur schnellstmöglichen Integration ein abgestimmtes Vorgehen aller Beteiligten, was durch die Einrichtung des Integration Points in Struktur gebracht wurde. So können wir die Zeit bis zum nachhaltigen Eintritt in die Arbeitswelt mit Maßnahmen nutzen, die die Menschen zum Arbeitsmarkt hin führen. « Die wenigsten Asylbewerber haben eine formale Ausbildung nach deutschem Standard. Wie stellen Sie Qualifikationen fest? nd ge u ? “ n i l t n lüch rbeite F n rfe er a „Dü ewerb lb Asy Rechtlicher Rahmen: Martin Tagoe Flüchtlingsgruppe Aufenhaltssituation Müssten die Arbeitgeber-Organisationen sich hier nicht auch stärker bewegen und Hürden für die Flüchtlinge abbauen? Kann man den ein oder anderen Standard nicht vielleicht auch mal nach unten anpassen? Süleyman Kocabayraktar: Mit den großen Berufsorganisationen wie der Handwerkskammer Dortmund und der Industrie- und Handelskammer zu Dortmund laufen bereits Gemeinschaftsprojekte, in denen – über die „normale“ Qualifizierung und Vermittlung hinaus – hunderte Flüchtlinge gefördert und in den Beruf begleitet werden. Den Willen und das Engagement kann man ihnen da nicht absprechen. Fest steht aber auch: Das deutsche Ausbildungsmodell ist ein Erfolgsmodell, um das uns viele Länder beneiden. Es ist niemandem damit geholfen, jetzt Standards abzusenken. Die meisten Flüchtlinge, die wir beraten, wissen übrigens, was sie an einem deutschen Ausbildungsabschluss haben werden – und wollen diesen Weg gehen. « Unternehmen und Personalverantwortliche finden im Integration Point qualifizierte und individuelle Beratung zu Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten von Flüchtlingen. Bei der Agentur für Arbeit Hamm berät: Mirja Paltian Tel.: 02381-910 2191 Beim Kommunalen Jobcenter Hamm berät: Christina Neumann Tel.: 02381-17 6813 Arbeitsmarktzugang Arbeitsförderung durch Asylbewerber Aufenthaltsgestattung Wartefrist: 3 Monate und Vorrangsprüfung Agentur für Arbeit Asylberechtigte Anerkannte Flüchtlinge uneingeschränkt Jobcenter Abgelehnte Duldung Wartefrist: 3 Monate und Vorrangprüfung Agentur für Arbeit Aufnahmeprogramme uneingeschränkt Jobcenter Aufenthaltserlaubnis Aufenthaltserlaubnis Altersstruktur der im Integration Point betreuten SGB II-Leistungsempfänger 200 177 180 160 Wörterbuch 140 111 113 120 100 80 60 40 20 58 90 VORRANGPRÜFUNG: 76 63 24 32 17 0 15-17 18-24 25-29 30-34 35-39 40-44 45-49 50-54 55-5960-64 Nicht alle Leistungsberechtigten können in Arbeit vermittelt werden. Zum Beispiel unterliegen alle Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger zwischen 15 und 17 Jahren noch der Schulpflicht, bei der Gruppe der 18 bis 24-Jährigen besuchen ebenfalls noch einige Leistungsberechtigte die Schule. Derzeit stehen 140 Leistungsberechtigte aufgrund des § 10 SGB II (zum Beispiel wegen der Erziehung eines Kindes oder der Pflege von Angehörigen) dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. Stand: 25.5.16 Seid Omar Saleh (28), anerkannter Asylbewerber aus Eritrea, hat im Mai auf Vermittlung des Integration Points ein vierwöchiges Praktikum bei der Firma „Hoffmeier Industrieanlagen“ in Hamm-Uentrop absolviert und parallel an einem Sprachkurs teilgenommen. Durch weitere Qualifikationen möchten ihn die Firma und der Integration Point nun an einen Ausbildungsplatz als Industriemechaniker heranführen. Durch die Absolvierung von Deutschprüfungen – wie hier eine A1-Prüfung in der Volkshochschule Hamm – muss das Erreichen des Sprachniveaus nachgewiesen werden. Die Systematik hat sechs Stufen (A1, A2, B1, B2, C1, C2) und reicht von „Anfänger“ bis „Annähernd muttersprachliche Kenntnisse“. Umso schneller Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive nach der Ankunft in Deutschland Deutschkurse aufnehmen, um so früher haben sie Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Erfreulich: An dieser A1-Prüfung der Volkshochschule im Juni nahmen auch sechs Flüchtlinge teil, die bereits in der Zentralen Unterbringungseinrichtung des Landes (ZUE) – also noch vor der Zuweisung zu einer bestimmten Kommune – einen Deutschkurs besucht hatten. Die Zustimmung der Arbeitsagentur zur Arbeitsaufnahme von Flüchtlingen wird auch Vorrangprüfung genannt. Hier werden drei Kriterien geprüft: die Auswirkungen der Beschäftigung auf den Arbeitsmarkt; ob Bevorrechtigte zur Verfügung stehen und die konkreten Arbeitsbedingungen. Im Rahmen der Vorrangprüfung wird also geklärt, dass eine Stellenbesetzung mit einem ausländischen Bewerber keine nachteiligen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat und keine bevorrechtigten Arbeitnehmer (Deutsche Staatsangehörige, Bürger eines EU- oder EWR-Staates oder sonstige bevorrechtigte ausländische Arbeitnehmer) für die zu besetzende Stelle zur Verfügung stehen. Die Feststellung, dass eine Besetzung offener Stellen mit ausländischen Arbeitnehmern arbeitsmarkt- und integrationspolitisch verantwortbar ist, kann von der Bundesagentur für Arbeit dabei auch pauschal für einzelne Berufsgruppen oder Wirtschaftszweige festgestellt werden. Diese sind in der sogenannten Positivliste unter www.arbeitsagentur.de/positivliste zu finden. Quelle: www.bamf.de 5 6 Flüchtlings-und Integrations REPORT Flüchtlings- und Integrations REPORT » Es ist wirklich beeindruckend, wie wissbegierig und motiviert die Flüchtlinge sind: gerade die Kinder und Jugendlichen. Den Menschen ist deutlich anzumerken, dass sie hier ankommen und sich integrieren möchten. Dabei will ich unbedingt helfen. Ulrike Köhler « Eine (nicht) alltägliche Hilfe Obwohl Walaa in der Seiteneinsteiger-Klasse ihrer Schule schon viel Deutsch gelernt hat, ist der Alltag eine Herausforderung: Termine beim Arzt, Bankgeschäfte oder Einkäufe wollen erledigt werden. Die 15-Jährige ist wegen ihrer guten Deutschkenntnisse so etwas wie die Managerin ihrer Familie. Hilfe erhält sie von Ulrike Köhler, die eine Patenschaft für Walaa und ihre Familie übernommen hat. „Kriminalität ist keine Frage des Passes“ W alaa ist im Oktober mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder aus Syrien nach Deutschland gekommen. Seit Dezember wohnt die Familie in Hamm. „Die Menschen haben viel durchgemacht. Ich finde es selbstverständlich, mit meinen Möglichkeiten zu helfen. Ich selbst wäre in einer vergleichbaren Situation auch für jede Hilfe dankbar“, beschreibt Ulrike Köhler ihre Motivation. Neben der Patenschaft leitet Ulrike Köhler das Kinderturnen und einen Zumbakurs für Frauen, die in der AlfredFischer-Halle untergebracht sind. „Die Sportkurse bringen etwas Abwechslung in den Alltag der Flüchtlinge. Die Patenschaft ist für mich eine tolle Gelegenheit, um die Menschen etwas näher kennen zu lernen“, erzählt Ulrike Köhler. Die Flüchtlingssituation hat sich – gerade im Hinblick auf Zuweisungszahlen und Unterbringungsmöglichkeiten – in den vergangenen Monaten deutlich entspannt, nichtsdestotrotz gibt es weiterhin viele Fragen: Im Interview mit dem „Flüchtlingsund Integrations-Report“ berichten die beiden Polizeisprecher Christopher Grauwinkel und Julia Breitenstein von ihren Erfahrungen mit Flüchtlingen, bestehenden Vorurteilen und einem schwierigen „Alltagsproblem“. G erade bei Themen rund um Flüchtlinge wurde der Polizei kürzlich unterschwellig vorgeworfen, Dinge vertuschen zu wollen. Was sagen Sie zu solchen Anschuldigungen? Grauwinkel: Ich kann nachvollziehen, dass die Menschen im Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation teilweise verunsichert sind oder Ängste haben. Es ist auch eine Aufgabe der Polizei, den Menschen ihre Ängste zu nehmen. Immerhin ist es eines unserer primärsten Ziele, das Sicherheitsgefühl der Hammer Bürger zu stärken. Das geschieht aber nicht durch Vertuschung, insofern sind solche Vorwürfe vollkommen haltlos. Wir haben klare Prinzipien, in welchen Fällen wir die Öffentlichkeit über Vorfälle informieren – beispielsweise wenn es sich um schwere Straftaten handelt. Oder aber bei Straftaten, die im öffentlichen Raum passiert sind. Da erhoffen wir uns durch eine Veröffentlichung hilfreiche Hinweise auf den Täter oder den Tatablauf. In solchen Fällen steht die Tatklärung im Mittelpunkt. Dabei spielt es für uns keine Rolle, welche Nationalität die Täter haben oder woher sie kommen – die Straftat bleibt dieselbe. Deshalb rate ich auch zu mehr Besonnenheit. Was meinen Sie damit genau? Grauwinkel: Die Diskussionen rund um Flüchtlinge – gerade in Punkto Sicherheit und Kriminalität – werden häufig sehr emotional geführt. Es gibt fast nur noch „schwarz oder weiß“ und kaum noch eine objektive Betrachtung. Ein Beispiel: Wenn unsere Kolleginnen und Kollegen zu einem Ehestreit, einem Ladendiebstahl oder einer Körperverletzung gerufen werden, dann ist das unser Tagesgeschäft, das zum Großteil ohne Interesse der Öffentlichkeit erledigt wird. Werden nun die gleichen Delikte von Flüchtlingen begangen, erwartet ein Teil der Bevölkerung, dass wir eine gesonderte Pressemitteilung veröffentlichen – und das kann nicht sein. Wir dürfen nicht den Fehler machen und plötzlich bei Straftaten mit Beteiligung von Zuwanderern andere Maßstäbe ansetzen. Kriminalität ist keine Frage des Passes – und das gilt es in allen Bereichen zu berücksichtigen. Vielmehr sind soziale Hintergründe, beispielsweise Bildungsgrad oder Gewalterfahrungen in der Familie, entscheidend für das Risiko, dass Menschen kriminell werden. Also werden Straftaten von Flüchtlingen genauso verfolgt wie jede andere Straftat auch? Zur Person: Im Gespräch wirken Ulrike Köhler und Walaa bereits sehr vertraut. Notfalls funktioniert die Verständigung auch mit Gesten und Mimik. Beide Seiten legen großen Wert darauf, dass sich die Patenschaft nicht auf bloßen Pragmatismus reduziert. So haben die Familien schon gemeinsame Kochabende veranstaltet und Ausflüge in Hamm gemacht. „Als wir uns kennengelernt haben, sind wir mit dem Wohnmobil erst einmal durch Hamm und Umgebung gefahren“, sagt Ulrike Köhler lachend. Von der Möglichkeit der Patenschaft hat sie zufällig in der Zeitung gelesen – und war direkt begeistert. Über den Katholischen Sozialdienst hat sie dann mit ihrem Mann die Patenschaft für die syrische Familie übernommen. Auch der Sohn des Ehepaares ist als Pate für eine sechsköpfige Männer-WG aktiv. „Es ist wirklich beeindruckend, wie wissbegierig und motiviert die Flüchtlinge sind: gerade die Kinder und Jugendlichen. Den Menschen ist deutlich anzumerken, dass sie hier ankommen und sich integrieren möchten. Dabei will ich unbedingt helfen“, ist Ulrike Köhler begeistert. In ihrem Freundes- und Bekanntenkreis stößt Ulrike Köhler auf viel Zustimmung. Aber: „Viele sind der Meinung, dass sie selbst nicht genug Zeit für eine Patenschaft haben. Dabei hilft man den Menschen schon sehr, wenn man sich ein bis zwei Mal in der Woche mit der Familie zusammensetzt oder den Wocheneinkauf gemeinsam erledigt“, erklärt Ulrike Köhler, um mit einem Lachen zu ergänzen: „Allein um die syrische Küche kennen zu lernen, lohnt sich eine Patenschaft allemal!“« Patenschaft: Denken auch Sie darüber nach, eine Patenschaft zu übernehmen? Lena Börsch vom Katholischen Sozialdienst informiert unter der Telefonnummer 02381/ 92451-46 unverbindlich über die Möglichkeiten. Verteilung der Flüchtlinge über das Stadtgebiet Name: Christopher Grauwinkel Alter: 46 Jahre Breitenstein: Selbstverständlich. Für uns spielt es keine Beruf: Polizeihauptkommissar Rolle, wer eine Straftat begeht. Für uns zählt nur, dass wir die Taten aufklären können. Klar ist aber auch, dass es bei Fällen, bei denen Flüchtlinge – egal ob als Opfer oder als Täter – beteiligt sind, im Berufsalltag Probleme gibt. Seit 2002 in verschiedenen Funktionen beim Polizei- 752 präsidium Hamm, seit Mai 2016 Pressesprecher Heessen 124 Bockum-Hövel 286 Hamm-Norden Welche Probleme sind das genau? 299 Breitenstein: In erster Linie die Sprache. Die Flüchtlinge sprechen vielfach nur wenig Deutsch oder Englisch. Unsere Kollegen verständigen sich teilweise mit Händen und Füßen mit den Betroffenen, um überhaupt ein halbwegs klares Bild der Situation zu bekommen – das funktioniert zwar irgendwie, dauert aber natürlich deutlich länger. In unübersichtlichen Fällen oder bei schwereren Straftaten nehmen wir die Personen mit in die Wache und klären die Sachlage mit einem Dolmetscher.« 868 Uentrop 427 Stadtmitte Hamm-Westen 92 Herringen Name: Julia Breitenstein Alter: 29 Jahre Beruf: Polizeikommissarin Seit 2013 als Streifenbeamtin beim Polizeipräsidium Hamm, seit Mai 2016 Pressesprecherin 106 Pelkum 108 Rhynern Der Anteil von Flüchtlingen an der Einwohnerschaft liegt in der Stadtmitte, Hamm-Norden, Hamm-Westen, Bockum-Hövel, Rhynern, Herringen und Pelkum bei unter zwei Prozent. Nur Heessen und Uentrop weisen durch die Landeseinrichtungen Alfred-Fischer-Halle und ZUE einen höheren Anteil aus. Da die Belegungszahlen hier wöchentlich oder sogar täglich schwanken, wurde die maximale Belegung von 550 Plätzen (AlfredFischer-Halle) und derzeit 680 Plätzen (ZUE) zugrunde gelegt. Grundsätzlich gilt: Die Unterbringung von Flüchtlingen findet in allen Stadtbezirken und Sozialräumen statt. Eine völlig gleichmäßige Verteilung ist allerdings nicht möglich, da geeignete Immobilien für die Unterbringung von Flüchtlingen nicht in jedem Stadtbezirk in gleichem Maße zur Verfügung stehen. Stand: 1.6.2016 7 Flüchtlings- und Integrations REPORT Fakt oder Vorurteil ? Kinder und Jugendliche allein auf der Flucht t ndig ü k t Stad ern, „Die ren Miet ge ande Flüchtlin n.“ e it dam en könn eh einzi n ehme n e g n tli rn „Flüch hen Kinde c deuts dergarten n i die K e weg.“ plätz U MF oder UMA – hinter diesen nüchternen, bürokratischen Abkürzungen verbergen sich Schicksale: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) oder Unbegleitete minderjährige Asylbewerber (UMA) sind Kinder und Jugendliche, die aus Kriegs- und Elendsgebieten ohne Eltern oder Verwandte nach Deutschland geflohen sind. In Hamm leben 140 von ihnen. Die jungen Flüchtlinge kommen zum Großteil aus Syrien, Pakistan, Afghanistan, Somalia und Eritrea. Auffällig ist: Es handelt sich ausschließlich um männliche Jugendliche. Dabei handelt es sich jedoch um kein „Hammer Phänomen“, auch bundesweit sind nach Statistiken der Bundesregierung nur zehn bis zwanzig Prozent der minderjährigen Flüchtlinge weiblich. D as stimmt nicht. Die Stadt Hamm mietet für einen Teil der ihr zugewiesenen Flüchtlinge Wohnungen an. Ein Teil der Flüchtlinge wohnt aber auch in den sechs Übergangswohnheimen der Stadt, ein anderer Teil hat sich in Eigeninitiative eine Wohnung gesucht und diese gemietet. Die Stadt Hamm ist dann nicht Mieter, trägt jedoch – wie es das Asylbewerberleistungsgesetz vorschreibt – die Kosten. Die für Flüchtlinge angemieteten Wohnungen wurden der Stadt Hamm entweder von Vermietern aktiv angeboten oder sie wurden von der Stadt in den üblichen Wohnungsinseraten in Zeitungen oder im Internet entdeckt. D as stimmt nicht. Alle Kinder haben vom ersten Geburtstag bis zur Einschulung einen Anspruch auf Betreuung in einer Kindertagesstätte (Kita) oder Kindertagespflege. Die Nationalität oder ein Migrations- oder Flüchtlingshintergrund spielen dabei überhaupt keine Rolle. Die Stadt Hamm stellt aktuell rund 5.800 Kita-Plätze und 350 Plätze in der Kindertagespflege. Da sich der Bedarf an Kita-Plätzen durch den Flüchtlings-Zuzug erhöht hat, sieht das im Februar vorgelegte Kommunale Integrationskonzept die Schaffung von 500 zusätzlichen Kindergartenplätzen vor, was fünf bis sieben neuen Einrichtungen entspricht. Sie sollen bis spätestens zum Start des Kindergartenjahres 2017/18 ihren Betrieb aufnehmen. Grundsätzlich gilt: Reicht das Angebot an Betreuungsplätzen in einigen Bereichen des Stadtgebietes nicht aus, richtet das Jugendamt zusammen mit den Kitas Übergangsgruppen ein. Besteht der höhere Betreuungsbedarf dauerhaft, werden neue Kitas eröffnet, die die Übergangsgruppen ablösen. So stellt das Jugendamt sicher, dass alle Eltern, die einen Betreuungsplatz für ihr Kind suchen, auch einen finden.« Die Wohnung muss also schon leer gestanden haben – oder der Auszug des aktuellen Mieters stand kurz bevor. Die Stadt kann und will keinen Vermieter dazu bringen, dem aktuellen Mieter zu kündigen, um an die Stadt zu vermieten. Sollte ein Fall bekannt werden, in dem ein Vermieter einen Mieter aus der Wohnung wirft, um die Wohnung an die Stadt zu vermieten, verzichtet die Stadt darauf, die Wohnung zu mieten. Die Stadt zahlt auch keine „Mondpreise“ für Wohnungen, sondern nur marktgerechte Preise, die jeder andere Mieter auch zahlen müsste.« Raoul Termath. 90 der 140 Jugendlichen leben in Hamm in Familien, diesen Wert erreicht keine weitere deutsche Großstadt bei der Unterbringung. Das kommt nicht von ungefähr: „Die Unterstützung ist unglaublich. Täglich erreichten Herkunftsländer der Flüchtlinge in Hamm Irak 9% Impressum Algerien 2% Iran 3% Pakistan 2% Mazedonien 3% Hamm hat nun sein Aufnahmesoll erfüllt, bekommt derzeit keine weiteren minderjährigen Flüchtlinge zugewiesen. Doch für die Jugendlichen geht es jetzt darum, sich ohne ihre Eltern in einem neuen Umfeld zurechtzufinden: „Und das ist keine einfache Aufgabe. Sprachbarrieren, unterschiedliche Bildungsniveaus, Lebens- und Fluchtgeschichten, Gewalterfahrungen im Krieg: All das sind Herausforderungen, bei denen wir die Familien nicht allein lassen. Professionelle Unterstützung bieten Psychologen, Therapeuten, Sozialarbeiter“, erklärt Termath. 20 der 140 Jugendlichen sind im Schullandheim Heessen untergebracht, im Sommer wechseln die ersten von ihnen in die Regelklassen am Internat. „Die Lernbereitschaft ist so hoch, dass Sprachbarrieren und unterschiedliche Bildungsniveaus bereits in so kurzer Zeit überwunden wurden“, freut sich Termath.« 1860 1936 1800 1857 1840 1600 Sonstige 23 % Herausgeber: Stadt Hamm Der Oberbürgermeister 1400 1200 1000 Redaktion: Markus Breuer, Tom Herberg, Tobias Köbberling, Lukas Huster, Thorsten Hübner 1052 963 800 600 Albanien 6% Syrien 32 % Afghanistan 9% © 2016 Alle Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Genehmigung zur anderweitigen Nutzung ist durch den Herausgeber einzuholen. uns Bürger, die ihre Hilfe in unterschiedlichster Form angeboten haben, bis hin zu dieser unglaublich hohen Zahl an Menschen, die den Jugendlichen eine neue Heimat in ihrem Zuhause bieten“, berichtet Raoul Termath. In Hamm lebende Flüchtlinge: die Entwicklung 2000 Kosovo 5% Flüchtlings- und Integrations REPORT Kontakt: Telefon: 02381-17-3001 E-Mail: [email protected] Foto: Fotolia.com / Lydia Geissler 8 Serbien 6% Die Grafik berücksichtigt nur Asylbewerber, die der Stadt Hamm dauerhaft zugewiesen sind. Die Landeseinrichtungen sind in diesem Schaubild nicht enthalten. Stand: 1.6.2016 400 200 0 6/2015 10/2015 12/2015 2/2016 4/2016 6/2016 Berücksichtigt sind nur die zu den jeweiligen Zeitpunkten der Stadt Hamm dauerhaft zugewiesenen Flüchtlinge, also nicht die – meist nur über wenige Wochen in Hamm lebenden – Asylbewerber in den Landeseinrichtungen (Notunterkunft Alfred-Fischer-Halle und Zentrale Unterbringungseinrichtung).
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