Flüchtlings - Stadt Hamm

Flüchtlings- und
Integrations REPORT
Liebe Bürgerinnen und Bürger!
I
m Sommer des vergangenen
Jahres traf Hamm die Flüchtlingssituation mit voller Kraft. Damals
kamen hier täglich neue Busse mit
Menschen an, die in unserer Stadt
Zuflucht gefunden haben. Anfang
Juli wurde die Alfred-Fischer-Halle in Heessen zur Notunterkunft
umfunktioniert. Weite Teile der
Verwaltung waren mit der Unterbringung der Flüchtlinge beschäftigt; unter anderem bei der Planung
und beim Bau der Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE)
am Alten Uentroper Weg, die seit
der Eröffnung im August 2015 vom
Land Nordrhein-Westfalen betrieben wird. Im Vergleich zu den
Sommermonaten des vergangenen
Jahres hat sich die Situation im
Hinblick auf die Unterbringung
deutlich entspannt. Wir haben die
Zeit genutzt, um weitere Wohnmöglichkeiten zu schaffen: unter
anderem in den leer stehenden Gebäuden des sogenannten Glunzdorfes. Wir wollen für den Fall
vorbereitet sein, dass wieder deutlich mehr Menschen nach Deutschland kommen – und somit auch in
unserer Stadt. Gleichzeitig ist es
unser gemeinsames Ziel, nicht
mehr Strukturen aufzubauen als
unbedingt nötig: vor allem – aber
nicht nur – mit Blick auf die Kosten. Insofern müssen wir bei der
weiteren Planung immer wieder
abwägen und auch ein Stück darauf
hoffen, dass unsere eigenen Prognosen und die von Experten an
anderen Stellen in weiten Teilen
zutreffen.
Ganz besonders liegt uns in diesen
Wochen und Monaten die Integration der Menschen am Herzen. Als
Zeichen dafür haben wir den
Flüchtlingsreport im Titel um diesen Aspekt erweitert. Eine besondere Herausforderung ist die Integration in den Arbeitsmarkt: Ein
Grund dafür liegt in den unterschiedlichen Abschlüssen und Voraussetzungen, mit denen die Menschen in unser Land gekommen
sind. Das Thema „Arbeit“ bildet in
dieser Ausgabe einen besonderen
Schwerpunkt. Ich wünsche Ihnen
viel Spaß beim Lesen und freue
mich wie bei der Erstausgabe im
März auf Ihre Rückmeldungen
und Anregungen.
Ihr
Thomas Hunsteger-Petermann
Oberbürgermeister der Stadt Hamm
Foto: René Golz
Ausgabe 02: Juli 2016
Zur Sprache gekommen
Mohammed Bakr (27), kurz Mo, hat sein Ziel klar vor Augen: „Ich will weiter studieren
und meinen Abschluss machen“, erklärt er mit einem zuversichtlichen Lächeln.
Mo kam vor etwa zweieinhalb Jahren als Flüchtling aus Syrien nach Deutschland.
S
ein Maschinenbaustudium
musste Mohammed wegen
des Bürgerkrieges unterbrechen.
„Um an einer deutschen Universität zum Studium angenommen
zu werden, muss ich Sprachkurse
absolvieren und einen Test durchlaufen“, erzählt Mo, „den B1Sprachkurs habe ich schon absolviert“. Mit dem Folgekurs, dem
B2-Kurs, ist man allgemein bereit
für den Arbeitsmarkt. Die Sprachprüfung der Hochschulen setzt
dieses Niveau voraus. „Ein bisschen
muss ich also noch die Schulbank
drücken“, sagt Mo schmunzelnd.
Er kann es kaum erwarten, an der
Uni zu starten.
dierte Chemie-Ingenieur ist mitten im B 2-Sprachkurs und begibt
sich nach Bestehen der Abschlussprüfung auf Jobsuche. Neben den
Kursen nutzen die beiden jungen
Syrer an einem Ort der Sprache die
Chance, ihr Deutsch im Alltag zu
verbessern – in der städtischen
Zentralbibliothek.
Stadtbücherei hatte deshalb die
tolle Idee, Flüchtlinge mit guten
Deutschkenntnissen als Dolmetscher zu engagieren“. Mo und Anas
haben sich sofort bereit erklärt, zu
helfen. Sie übersetzen Flyer und
Broschüren ins Arabische und or-
»
ganisieren die „Meet & Talk“Treffs in der Bücherei. Bei den regelmäßigen Treffen kommen
Flüchtlinge und Einheimische zusammen, unterhalten sich und
knüpfen Kontakte. „So lernen sich
die Menschen gegenseitig kennen und es entstehen gemeinsame
Unternehmungen und Aktionen“,
erklärt Dr. Volker Pirsich die Idee.
Mo und Anas übernehmen auch
Führungen für Flüchtlinge durch
die Bücherei und zeigen ihnen das
arabischsprachige Angebot oder
beraten zu passenden Lernbüchern für die deutsche Sprache.
Davon profitieren alle Seiten,
denn die Kommunikation läuft
auf Deutsch – „zumindest soweit
es eben geht“, sagt Mo schmunzelnd. «
Sein Freund Anas Hasan (26)
ist da schon etwas weiter. Der stu-
Dr. Volker Pirsich, Leiter der
Stadtbüchereien, erkannte früh
die Herausforderungen und Chancen in der aktuellen Flüchtlingssituation: „Es war schnell klar,
dass eine wachsende Anzahl arabischsprachiger Flüchtlinge nach
Hamm kommt. Um die deutsche
Sprache kennen zu lernen, eignet
sich gerade der Besuch in der Bücherei. Der Freundeskreis der
IHK-Geschäftsführer
im Interview
„Auch ein
emotionaler Auftrag“
„Kriminalität ist keine
Frage des Passes“
Eine (nicht)
alltägliche Hilfe
Integration in den Arbeitsmarkt
wird „Mammutaufgabe“
Die „Integration Point“-Mitarbeiter Martin Tagoe und Süleyman
Kocabayraktar wollen Flüchtlinge in Arbeit bringen Seite 4/5
Die Sprecher der Polizei Hamm
Christopher Grauwinkel und
Julia Breitenstein im Interview
Seite 6
Ulrike Köhler hat die Patenschaft für eine syrische Familie
übernommen
Seite 7
Seite 3
So lernen sich
die Menschen gegenseitig kennen und es
entstehen gemeinsame
Unternehmungen und
Aktionen
«
2
Flüchtlings-und
Integrations REPORT
Flüchtlings- und
Integrations REPORT
„Integration darf nicht
zu Lasten anderer gehen“
„In einer seiner letzten Reden als Vorsitzender des Städtetags Nordrhein-Westfalen
(der Vorsitz rotiert alle zwei Jahre) hat Oberbürgermeister Thomas HunstegerPetermann die besondere Leistung der Städte bei der Integration von Flüchtlingen
betont: „Integration findet immer vor Ort statt, nicht im Land oder im Bund.“ Folglich
müssten die Städte und Kommunen noch mehr Unterstützung erfahren als bislang.
In besonderer Weise gelte das für die finanzielle Ausstattung der Kommunen.
Der „Flüchtlings- und Integrationsreport“ nennt eine Auswahl der wichtigsten Zitate
aus der Rede von Oberbürgermeister Hunsteger-Petermann: Sie formulieren in weiten
Teilen die Forderungen des Städtetags Nordrhein-Westfalen. Der kommunale Spitzenverband repräsentiert 39 Städte mit rund neun Millionen Bürgern.
ingt
nbed iner
u
n
e
müss ss es zu e n
„Wir
de
da
iden, tuation in e
m
r
e
i
v
zs
nte
urren mmt : Die I r
k
n
o
K
en fü
en ko
Städt nsleistung icht zu
gratio e dürfen n pen
tling erer Grup
Flüch
n and en.“
Laste
g eh
er Asylv ns
e
d
e le g e
hrend
ts wä n Arbeitsg haffen
i
e
r
e
„B
lte
e sc
i,
n s sol
nge g
fahre ür Flüchtli n dazu be n
e
f
g
n
t
a
e
a
r
gr io
et
heit
en : Si ftliche Inte egration
d
r
e
w
ha
Int
sellsc
ig
d die
die ge ringen un kt frühzeit
r
b
a
u
z
m
voran n Arbeits eiten.“
in de vorzuber
e
lisch
schu ein
e
i
d
n wir
k auf
nblic benötige nzept :
i
H
ko
n
n
„ Im
samt
ratio
ch de
Integ riertes Ge realistis ennen
s
n
integ zept mus hulen be usforde c
a
n
r
S
o
e
e
K
er
anzeH
Da s
r uns n, wie di au des G en
ü
f
f
r
d
Beda aufzeige ion, Ausb rallel zu g
r
a
s
n
a
p
u
l
u
l
r
k
und n von Ink e Bildung uwande
l
Z
e
rung nd Digita gen der önnen.“
k
u
un
tags usforder werden
t
a
ltig
H er
bewä
„ In
s
f
die order beson
t de
vol
d
der lstän r Stä ere
K
d
ige dtet
o st
me
a
Flüc nhang en, die Übern g
a
htli
im
m
h
Unt ngss it der Zusa me
itua
erb
m
a
ring
tion ktuel l
ent ung in durch en
s te
H
hen artz die
.“
IV
„ D ie
gezwu Städte dürf
en nic
ng en
für Flü
chtling werden, Lei ht
bei de e durch Eins stungen
Leistun n übrigen ko chränkunge
n
das gil gen gegen z mmunalen
t insbe
u finan
son
zi e
im Stä
rkungs dere für Kom ren –
Hamm pakt (hierzu munen
, die R
e dak t i g e hö r t
on) .“
„ D er
eines S frühzeitige
Be
p
kurses rach- und Int such
e
mu s s z
ur Reg grationsN eb en
e
l werd
e
diesen der Sprache
werde n :
Kursen
n
nisse ü
a
in
u
c h er st
b er
wie Re unsere Rech e Kenntli
t
und Gl gionsfreiheit sordnung
e i c h s te
, Toler
anz
llung v
ermitt
elt.“
Wie lassen sich Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integrieren?
Welche Vorkenntnisse bringen sie mit - und wo liegen die Chancen und
Herausforderungen für die Unternehmen? Im Interview mit dem „Flüchtlingsund Integrationsreport“ beantwortet Ulf Wollrath, Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer zu Dortmund (IHK), die wichtigsten Fragen.
e ne
ureig s,
e
n
i
e
te
t
„Es is e des Staa rinnen
b
g
a
r
g
ü e
Auf
der B rleisten.
t
i
e
h
r
wäh
e
c he
die Si rger zu ge ies Aufgab d
ü
d
un
B
t
B
is
un d
Linie r Justiz von ng
r
e
t
s
u
I n er
la g e r
nd d e
izei u . Eine Ver uf die
l
o
P
r
n
a
de
än d er
ab e n
und L olizeiaufg ehnen
von P mmunen l
.“
Ko
wir ab
Angemerkt! Eine Kolumne von: Reinhard Merschhaus
E
s ist eine beachtliche Leistung,
dass es in Hamm gelungen ist,
seit dem letzten Jahr einige tausend
Menschen aufzunehmen, die auf der
Flucht sind. Zeigt sich daran doch,
dass unsere christlich-humanistischen Werte, von denen an Feiertagen so oft die Rede ist, im Alltag
auch gelebt werden. Klar ist aber auch, dass die wohl
größere Aufgabe noch vor uns liegt. Viele der Neuankömmlinge wollen und müssen bei uns eine neue Heimat
finden. Sie wollen und müssen einen Platz in unserer Gesellschaft finden.
Nun fragen sich viele Einheimische mit recht, ob das geht
und wie das geht. Sind die Menschen, die hier leben, überhaupt bereit, sich darauf einzulassen? Oder sind die Vorbehalte gegen Zuwanderer so groß, dass Integration gar
nicht gelingen kann? Und das ist die entscheidende Frage.
Politiker und Verwaltungsexperten können Integrationsprogramme entwickeln wie sie wollen, wenn die Bevölke-
rung nicht mitmacht, werden sie scheitern. Muss man also
befürchten, dass die Mehrheit der Deutschen alles Fremde
ablehnt?
Einer, der es zu wissen glaubt, hat kürzlich die Probe aufs
Exempel geliefert. Ein gewisser Herr Gauland ließ die
Öffentlichkeit vor kurzem wissen, Jerome Boateng, ein
farbiger deutscher Fußballnationalspieler, sei als Sportler
ja wohl akzeptiert, neben ihm wohnen wolle aber niemand.
Wohl selten ist ein Versuch, Fremdenfeindlichkeit, ja
Rassismus zu schüren, so kläglich gescheitert, denn anschließend waren die Stadien voll von Plakaten, auf denen viele
Menschen Boateng aufforderten, in ihre Nachbarschaft zu
ziehen. Die sozialen Netzwerke tobten und Herr Gauland
hat mittlerweile festgestellt, er habe es irgendwie so nicht
gemeint.
Aber kann man das Beispiel Boateng verallgemeinern?
Schließlich sind nicht alle Neuankömmlinge mit überragenden sportlichen Talenten gesegnet. Es sind auch nicht
Mehrjähriges Engagement
aller Beteiligten notwendig
alle Ärzte oder Computerspezialisten. Es stimmt ja, viele
verfügen nur über geringe Qualifikationen und müssen auf
ein eigenverantwortliches Leben bei uns erst vorbereitet
werden. Schaffen die das und tragen wir das mit?
Nun gilt für Flüchtlinge, was für Einheimische auch gilt:
Es wäre ganz schlecht, wenn jeder Philosophieprofessor
oder Konzertpianist*in werden wollte. Busfahrer*innen,
Altenpfleger*innen oder Elektriker*innen werden mindestens genauso gebraucht.
Und man kann eines voraussehen: Wer den Mut und die
Entschlossenheit aufbringt, zu Fuß von Afghanistan nach
Deutschland zu laufen, oder die gefährliche Fahrt über das
Mittelmeer zu wagen, dem kann man getrost zutrauen, dass
er einiges auf sich nehmen wird, den Anforderungen dieses
fremden Landes gerecht zu werden. Ich bin sicher, wenn wir
auch dabei helfen, wird das Projekt Integration gelingen!«
Reinhard Merschhaus
(Vorsitzender der Grünen-Ratsfraktion)
Für welche Bereiche des Arbeitsmarktes sehen Sie die größten
Chancen?
D
er Wirtschaft droht wegen
des demographischen Wandels ein Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften. Mit den
Flüchtlingen sind vor allem junge
Menschen nach Deutschland gekommen: Können sie die Lücke
womöglich ein Stück schließen?
Wollrath: Ein Stück sicherlich.
Die regionale Wirtschaft ist sich
nicht nur ihrer gesellschaftlichen
Verantwortung bewusst, sondern
möchte auch das neue Potenzial
an Arbeitskräften zur eigenen
Fachkräftesicherung nutzen. Allerdings ist das kein „Selbstläufer“.
Die Integration von Flüchtlingen
wird eine „Mammutaufgabe“ der
nächsten Jahre. Der Schlüssel für
eine gelingende Integration ist die
Sprachförderung.
Wie groß ist die Bereitschaft der
Betriebe, Zeit und Mühe in die Integration zu investieren?
Wir haben Unternehmen unserer
Region vor einiger Zeit dazu befragt: Demnach würden 42 Prozent von ihnen Flüchtlinge einstellen, 41 Prozent würden sie ausbilden und 46 Prozent einen Praktikumsplatz anbieten. Für rund 28
Prozent ist es allerdings Voraussetzung, dass für eine Beschäftigung
oder Ausbildung der Aufenthalt
dauerhaft gesichert ist. Insofern ist
es zu begrüßen, dass das neue Integrationsgesetz hier Rechtssicher-
mindestens zwölf Jahre Schulbesuch aufweisen und ein Studium
zumindest begonnen haben. Die
Zahlen zeigen, dass die einfache
Formel „Flüchtling = Fachkraft“
nicht aufgeht. Die Integration der
gef lohenen Menschen in den
Arbeitsmarkt und in Ausbildung
erfordert ein mehrjähriges Engagement aller Beteiligten und
persönliche Anstrengungen der
Flüchtlinge.
Die bisherigen Erfahrungen mit der Integration von
Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt
legen nahe, dass ein Einstieg häufig
über einfache Tätigkeiten in Branchen und Berufen gelingen kann,
die eine geringe bis mittlere Qualifikation erfordern: Dazu gehören
unter anderem die Logistik, die
Gastronomie und das Reinigungsgewerbe. Wenn die Menschen
dann Deutsch sprechen, eine frühere Ausbildung im Heimatland anerkannt wird oder sie sich
qualifiziert haben, erhöhen sich
die Chancen auf eine höher qualifizierte Tätigkeit. In der AprilAusgabe unserer Zeitschrift
„Ruhr Wirtschaft“ haben wir einige Firmen, die Flüchtlinge beschäftigen, beispielhaft vorgestellt.
Wollrath:
Ulf Wollrath, Geschäftsführer der IHK zu Dortmund
heit bringen will und die „3+2“Forderung der IHK-Organisation
aufgreift. Wer als Flüchtling eine
Ausbildung anfängt, soll für die
gesamte Dauer in Deutschland
bleiben. Wenn er danach einen
passenden Job findet, kommen
noch zwei weitere Jahre hinzu.
Lange Zeit hieß es, dass insbesondere mit den Flüchtlingen aus
Syrien gut ausgebildete Fachkräfte nach Deutschland gekommen sind. Das hat sich nicht durchweg bestätigt: Wie ist Ihre persönliche Einschätzung?
Wollrath: Aktuelle und belastbare
Informationen über die Qualifikationsprofile der geflüchteten Menschen liegen nach meinem Kenntnisstand für unsere Region nicht
vor. Die Flüchtlingsstudie 2014
des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge gibt einige Hinweise, bezogen auf ganz Deutschland. Dort wurden 2.800
Asylberechtigte und anerkannte
Flüchtlinge befragt – vor allem aus
Syrien, dem Irak und Afghanistan.
Je nach Herkunftsland verfügen
zwischen 22 Prozent und einem
Drittel der Flüchtlinge über keine
oder eine nur geringfügige schulische Bildung. Knapp 60 bis 75
Prozent haben keine Berufsausbildung oder einen Studienabschluss. Allerdings waren auch
diese Menschen nach eigenen Angaben in ihrer Heimat berufstätig.
Rund zehn Prozent werden vom
Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (BAMF) als Höherqualifizierte eingestuft, weil sie
Viele Flüchtlinge wollen möglichst schnell in Deutschland arbeiten. Trotzdem dauert es vielfach lange, bis das tatsächlich
möglich ist – zu lange? Wo liegen
die Gründe?
Wollrath: Das Asyl- und Ausländerrecht ist recht kompliziert.
So haben Flüchtlinge mit einer
Aufenthaltserlaubnis einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Da die Aufenthaltsdauer aber zunächst befristet ist,
ist auch der Zugang zum Arbeits-
markt zunächst befristet. Das ist
nur eines von vielen Beispielen.
Unternehmen, die gewillt sind,
Flüchtlinge zu beschäftigen, beklagen häufig das „bürokratische
Dickicht“ und mangelnde Informationen über Anlaufstellen.
Allerdings ist mit der Einrichtung
des „Integration Point“ im Haus
der Arbeitsagentur Hamm eine
wichtige Anlaufstelle für Flüchtlinge und auch für Arbeitgeber
geschaffen worden. Auch wir stellen auf unserer Homepage (www.
dortmund.ihk24.de/Fluechtlinge)
einen Leitfaden für Unternehmen
bereit, die Flüchtlinge in Ausbildung und Beschäftigung bringen
wollen.
Wie hilft die IHK den Unternehmen, die Flüchtlinge ausbilden
oder beschäftigen wollen?
Wollrath: Wir haben unsere Unterstützungsangebote zur Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen
in einem Fahrplan zusammengefasst. Im Einzelnen gliedert sich
der IHK-Fahrplan in vier Stationen: Information, Beratung, Recruiting und Vermittlung. Dazu
gehört beispielsweise, die Unternehmen über verschiedenste Wege
zu informieren und praktische
Hilfen zu geben. Des Weiteren
unterstützt die IHK bei der Suche
nach geeigneten Kandidaten und
hilft, die Integration von Flüchtlingen in den betrieblichen Alltag zu organisieren. Über Berufskollegs, Bildungsträger und die
„Integration Points“ in den Städten Dortmund, Hamm sowie
dem Kreis Unna werden geeignete
Flüchtlinge gesucht, die für ein
Praktikum, eine Einstiegsqualifizierung oder eine Ausbildung
in Frage kommen. Die Leitung
dieses Projektes liegt bei meinem
Geschäftsführer-Kollegen Michael
Ifland, der bei uns die Abteilung
Berufliche Bildung leitet.«
3
4
Flüchtlings- und
Integrations REPORT
FlüchtlingsIntegrations REPORT
Der Hauswart in der Unterkunft, der BAMF-Mitarbeiter
und so weiter. Wir schauen uns die Kunden im ersten
Gespräch genau an – und wir sagen ihnen, was das
Ziel ist. Was wir von ihnen erwarten. Auch was die
Menschen in Hamm von Ihnen erwarten. Wenn zum
Beispiel zur Sprache kommt, dass die Ehefrau natürlich
auch einen Sprachkurs machen muss, sind manche
Klienten schon überrascht. Aber man muss solche Dinge
von Anfang an klar formulieren. Für mich ist ganz klar:
Wir müssen aus den Fehlern im Zuge der Zuwanderung
der Gastarbeiter lernen und verhindern, dass Zuwanderer in parallele Welten abdriften.
Die Einschätzungen zur Qualifikation der Flüchtlinge gehen auseinander. Sie haben tagtäglich mit den Menschen zu tun. Wie
sehen Sie das?
Martin Tagoe: Es kommt ein Querschnitt der Gesellschaft
„Auch ein emotionaler Auftrag“
Süleyman Kocabayraktar und Martin Tagoe arbeiten seit Dezember vergangenen Jahres
im Hammer „Integration Point“ daran, Flüchtlinge nachhaltig in Arbeit zu bringen.
»
Ist es Zufall, dass Migranten im Integration Point auf zwei
Arbeitsvermittler mit Migrationshintergrund treffen?
Von meiner Seite ist es jedenfalls kein Zufall, dass ich an der Integration von Flüchtlingen mitwirke. Ich gehöre zur späten zweiten türkischen Gastarbeiter-Generation, seit 1981 lebe ich hier
in Hamm. Ich bin als Kind viel in der Kinderabteilung
des Jugendzentrums Südstraße gewesen, zur Friedensschule gegangen. Die Stadt ist meine Heimat geworden.
Ich habe den dienstlichen Auftrag, Flüchtlinge in Arbeit
zu bringen. Aber für mich ist es auch ein emotionaler
Auftrag. Ich möchte mithelfen, dass sich meine Klienten
in Hamm integrieren – so wie ich mich integriert habe.
Ich hoffe, dass mein Beispiel auch motiviert.
Martin Tagoe: Mein
Vater kommt aus Ghana, meine Mutter ist Deutsche. Die Situation der Flüchtlinge ist
sicherlich anders. Aber viele Themen kommen mir
schon „entfernt bekannt“ vor. Und ich werde von Klienten
schon häufiger gefragt, wie mein beruflicher und persönlicher Werdegang war. Grundsätzlich ist es wichtig,
dass man als Arbeitsvermittler auch nachvollziehen
und verstehen kann, was denjenigen gerade bewegt,
den ich vermitteln möchte. Es geht auch um Vertrauen:
Süleyman Kocabayraktar
Dass ohne Sprachkenntnisse
kaum ein „normales“ Leben möglich ist, wird mir immer
wieder klar – beispielsweise wenn jemand, der zwanzig
Jahre in Syrien als Rechtsanwalt gearbeitet hat, vor
mir sitzt und völlig unsicher, fast schon hilflos, wirkt.
Über die Absolvierung von Sprachkursen hinaus rate
ich dann immer: Geht auf die Menschen in Hamm zu.
Ihr könnt Fehler machen – ob sprachlich oder bei den
Gepflogenheiten, das nimmt euch niemand übel. Ihr
dürft euch nur nicht zurückziehen.
Süleyman Kocabayraktar:
Aber für mich ist es auch ein
emotionaler Auftrag. Ich möchte mithelfen, dass sich meine Klienten in
Hamm integrieren – so wie ich mich
integriert habe.
Süleyman Kocabayraktar:
bzw. der Arbeitnehmer in den Heimatländern – nicht
mehr und nicht weniger. Darunter sind Ungelernte,
Handwerker, aber auch Hochschulabsolventen. Klar
sein muss jedem: Auch der Bestqualifizierte kann nicht
von heute auf morgen in den Arbeitsmarkt auf einer vergleichbaren Stelle integriert werden. Es geht zunächst
um die Anerkennung von Abschlüssen, meistens müssen Leistungen nacherbracht werden – und ohne eine
entsprechende Sprachkompetenz kann man natürlich
weder als Schneider noch als Mediziner arbeiten.
«
Bei vielen waren die Erfahrungen mit dem Staat nicht
so, dass dieser nach klaren Regeln handelt, auf die man
sich verlassen kann. Viele sind insbesondere im ersten
Gespräch auch richtig nervös, das merkt man. Die wollen
nichts falsch machen.
Das klingt eher nach Sozialarbeit als nach Arbeitsvermittlung…
Nein, das ist Fördern und Fordern. Für viele sind wir hier im Integration Point schon
die erste dauerhafte Kontaktperson. Alle Kontakte
vorher waren sachlich und zeitlich eingeschränkt.
Süleyman Kocabayraktar:
Was antworten Sie Menschen, die fragen, warum es überhaupt
eine zusätzliche Einrichtung für Flüchtlinge wie den Integration Point braucht? Warum können diese nicht in der regulären
Vermittlung betreut werden?
Martin Tagoe: Wir brauchen zur schnellstmöglichen Inte-
gration ein abgestimmtes Vorgehen aller Beteiligten,
was durch die Einrichtung des Integration Points in
Struktur gebracht wurde. Ansonsten verstreicht sehr
viel Zeit ungenutzt. Das Asylverfahren nimmt derzeit
zum Beispiel im Durchschnitt allein ein Jahr in Anspruch. Die Ausländerbehörde im Amt für Soziale Integration der Stadt Hamm erstellt für die Agentur für
Arbeit Listen mit Flüchtlingen mit guter Bleibeper-
»
Für mich ist ganz klar:
Wir müssen aus den Fehlern im Zuge
der Zuwanderung der Gastarbeiter
lernen und verhindern, dass Zuwanderer
in parallele Welten abdriften.
Süleyman Kocabayraktar
«
spektive, die im Anschluss an das Asylverfahren dann
direkt zu uns, also zum Jobcenter, kommen. Dazu gehören derzeit Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Iran,
Irak, Syrien, Jordanien, Ägypten und Eritrea. So können
wir die Zeit bis zum nachhaltigen Eintritt in die Arbeitswelt mit Maßnahmen nutzen, die die Menschen zum Arbeitsmarkt hin führen.
Können Flüchtlinge den Fachkräftemangel – insbesondere im
Handwerk – beheben?
Martin Tagoe: In den Medien ist da teilweise vielleicht
eine etwas zu sehr von der Euphorie getragene Einschätzung vermittelt worden. Sicherlich besteht hier
eine große Chance. Ich war früher im Unternehmerservice insbesondere für das medizinische Handwerk
zuständig, deshalb weiß ich zum Beispiel: Für den Beruf
„Orthopädischer Schuhmacher“ findet man als Arbeitgeber nur sehr schwer Auszubildende. Es gibt in vielen
Bereichen Ausbildungsberufe mit Bewerbermangel.
Am Anfang steht eine Kompetenzfeststellung und
Sprachstandserhebung, an die sich Integrationskurse
des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF),
berufsspezifische Sprachförderungen und reguläre
Sprachkurse anschließen können. Wenn die sprachliche Qualifikationen dazu ausreichen, vermitteln wir
in dreiwöchige Praktika bei Arbeitgebern, aus denen
sich ein guter Eindruck ergibt, ob es Sinn macht, einen
bestimmten Weg der Förderung weiter zu verfolgen.
Parallel läuft natürlich die formale Anerkennung von
Berufsabschlüssen und Qualifikationen. Das ist bei
Flüchtlingen nicht leicht. Sie haben natürlich selten
ihre schriftlichen Zeugnisse und Bescheinigungen mit
auf die Flucht genommen haben – und wenn doch, dann
sind sie natürlich in einer nicht-europäischen Sprache
verfasst.
»
Wir brauchen zur schnellstmöglichen Integration ein abgestimmtes
Vorgehen aller Beteiligten, was durch
die Einrichtung des Integration Points
in Struktur gebracht wurde. So können
wir die Zeit bis zum nachhaltigen Eintritt in die Arbeitswelt mit Maßnahmen
nutzen, die die Menschen zum Arbeitsmarkt hin führen.
«
Die wenigsten Asylbewerber haben eine formale Ausbildung
nach deutschem Standard. Wie stellen Sie Qualifikationen fest?
nd
ge u ? “
n
i
l
t
n
lüch rbeite
F
n
rfe
er a
„Dü ewerb
lb
Asy
Rechtlicher
Rahmen:
Martin Tagoe
Flüchtlingsgruppe
Aufenhaltssituation
Müssten die Arbeitgeber-Organisationen sich hier nicht auch
stärker bewegen und Hürden für die Flüchtlinge abbauen? Kann
man den ein oder anderen Standard nicht vielleicht auch mal nach
unten anpassen?
Süleyman Kocabayraktar: Mit den großen Berufsorganisationen wie der Handwerkskammer Dortmund und
der Industrie- und Handelskammer zu Dortmund laufen
bereits Gemeinschaftsprojekte, in denen – über die
„normale“ Qualifizierung und Vermittlung hinaus – hunderte Flüchtlinge gefördert und in den Beruf begleitet
werden. Den Willen und das Engagement kann man
ihnen da nicht absprechen. Fest steht aber auch: Das
deutsche Ausbildungsmodell ist ein Erfolgsmodell, um
das uns viele Länder beneiden. Es ist niemandem damit
geholfen, jetzt Standards abzusenken. Die meisten
Flüchtlinge, die wir beraten, wissen übrigens, was sie
an einem deutschen Ausbildungsabschluss haben werden – und wollen diesen Weg gehen. «
Unternehmen und Personalverantwortliche finden im Integration Point qualifizierte und individuelle Beratung zu Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten von Flüchtlingen.
Bei der Agentur für Arbeit Hamm berät:
Mirja Paltian
Tel.: 02381-910 2191
Beim Kommunalen Jobcenter Hamm berät:
Christina Neumann
Tel.: 02381-17 6813
Arbeitsmarktzugang Arbeitsförderung durch
Asylbewerber
Aufenthaltsgestattung
Wartefrist: 3 Monate
und Vorrangsprüfung
Agentur für Arbeit
Asylberechtigte Anerkannte Flüchtlinge
uneingeschränkt Jobcenter
Abgelehnte
Duldung
Wartefrist: 3 Monate
und Vorrangprüfung
Agentur für Arbeit
Aufnahmeprogramme
uneingeschränkt
Jobcenter
Aufenthaltserlaubnis Aufenthaltserlaubnis
Altersstruktur der im Integration Point
betreuten SGB II-Leistungsempfänger
200
177
180
160
Wörterbuch
140
111 113
120
100
80
60
40
20
58
90
VORRANGPRÜFUNG:
76
63
24
32
17
0
15-17 18-24 25-29 30-34 35-39 40-44 45-49 50-54 55-5960-64
Nicht alle Leistungsberechtigten können in Arbeit vermittelt werden. Zum
Beispiel unterliegen alle Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfänger
zwischen 15 und 17 Jahren noch der Schulpflicht, bei der Gruppe der 18 bis
24-Jährigen besuchen ebenfalls noch einige Leistungsberechtigte die Schule.
Derzeit stehen 140 Leistungsberechtigte aufgrund des § 10 SGB II (zum
Beispiel wegen der Erziehung eines Kindes oder der Pflege von Angehörigen)
dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. Stand: 25.5.16
Seid Omar Saleh (28), anerkannter Asylbewerber aus Eritrea, hat im Mai auf Vermittlung des Integration
Points ein vierwöchiges Praktikum bei der Firma „Hoffmeier Industrieanlagen“ in Hamm-Uentrop absolviert und parallel an einem Sprachkurs teilgenommen. Durch weitere Qualifikationen möchten ihn die
Firma und der Integration Point nun an einen Ausbildungsplatz als Industriemechaniker heranführen.
Durch die Absolvierung von Deutschprüfungen – wie hier eine A1-Prüfung in der Volkshochschule
Hamm – muss das Erreichen des Sprachniveaus nachgewiesen werden. Die Systematik hat sechs Stufen (A1,
A2, B1, B2, C1, C2) und reicht von „Anfänger“ bis „Annähernd muttersprachliche Kenntnisse“. Umso
schneller Flüchtlinge mit guter Bleibeperspektive nach der Ankunft in Deutschland Deutschkurse aufnehmen, um so früher haben sie Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Erfreulich: An dieser A1-Prüfung der
Volkshochschule im Juni nahmen auch sechs Flüchtlinge teil, die bereits in der Zentralen Unterbringungseinrichtung des Landes (ZUE) – also noch vor der Zuweisung zu einer bestimmten Kommune – einen
Deutschkurs besucht hatten.
Die Zustimmung der Arbeitsagentur zur Arbeitsaufnahme von Flüchtlingen
wird auch Vorrangprüfung genannt. Hier werden drei Kriterien geprüft: die
Auswirkungen der Beschäftigung auf den Arbeitsmarkt; ob Bevorrechtigte
zur Verfügung stehen und die konkreten Arbeitsbedingungen. Im Rahmen
der Vorrangprüfung wird also geklärt, dass eine Stellenbesetzung mit einem
ausländischen Bewerber keine nachteiligen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat und keine bevorrechtigten Arbeitnehmer (Deutsche Staatsangehörige, Bürger eines EU- oder EWR-Staates oder sonstige bevorrechtigte
ausländische Arbeitnehmer) für die zu besetzende Stelle zur Verfügung
stehen. Die Feststellung, dass eine Besetzung offener Stellen mit ausländischen Arbeitnehmern arbeitsmarkt- und integrationspolitisch verantwortbar
ist, kann von der Bundesagentur für Arbeit dabei auch pauschal für einzelne Berufsgruppen oder Wirtschaftszweige festgestellt werden. Diese sind
in der sogenannten Positivliste unter www.arbeitsagentur.de/positivliste zu
finden.
Quelle: www.bamf.de
5
6
Flüchtlings-und
Integrations REPORT
Flüchtlings- und
Integrations REPORT
»
Es ist wirklich beeindruckend,
wie wissbegierig und motiviert die
Flüchtlinge sind: gerade die Kinder und
Jugendlichen. Den Menschen ist deutlich
anzumerken, dass sie hier ankommen
und sich integrieren möchten. Dabei
will ich unbedingt helfen.
Ulrike Köhler
«
Eine (nicht) alltägliche Hilfe
Obwohl Walaa in der Seiteneinsteiger-Klasse ihrer Schule schon viel Deutsch
gelernt hat, ist der Alltag eine Herausforderung: Termine beim Arzt, Bankgeschäfte oder
Einkäufe wollen erledigt werden. Die 15-Jährige ist wegen ihrer guten Deutschkenntnisse so etwas wie die Managerin ihrer Familie. Hilfe erhält sie von Ulrike Köhler,
die eine Patenschaft für Walaa und ihre Familie übernommen hat.
„Kriminalität ist
keine Frage des Passes“
W
alaa ist im Oktober mit ihren Eltern und ihrem
jüngeren Bruder aus Syrien nach Deutschland gekommen. Seit Dezember wohnt die Familie in Hamm.
„Die Menschen haben viel durchgemacht. Ich finde es selbstverständlich, mit meinen Möglichkeiten zu helfen. Ich
selbst wäre in einer vergleichbaren Situation auch für jede
Hilfe dankbar“, beschreibt Ulrike Köhler ihre Motivation.
Neben der Patenschaft leitet Ulrike Köhler das Kinderturnen und einen Zumbakurs für Frauen, die in der AlfredFischer-Halle untergebracht sind. „Die Sportkurse bringen
etwas Abwechslung in den Alltag der Flüchtlinge. Die
Patenschaft ist für mich eine tolle Gelegenheit, um die
Menschen etwas näher kennen zu lernen“, erzählt Ulrike
Köhler.
Die Flüchtlingssituation hat sich – gerade im Hinblick auf Zuweisungszahlen und
Unterbringungsmöglichkeiten – in den vergangenen Monaten deutlich entspannt,
nichtsdestotrotz gibt es weiterhin viele Fragen: Im Interview mit dem „Flüchtlingsund Integrations-Report“ berichten die beiden Polizeisprecher Christopher Grauwinkel
und Julia Breitenstein von ihren Erfahrungen mit Flüchtlingen, bestehenden
Vorurteilen und einem schwierigen „Alltagsproblem“.
G
erade bei Themen rund um Flüchtlinge wurde
der Polizei kürzlich unterschwellig vorgeworfen,
Dinge vertuschen zu wollen. Was sagen Sie zu solchen
Anschuldigungen?
Grauwinkel: Ich kann nachvollziehen, dass die Menschen
im Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation teilweise
verunsichert sind oder Ängste haben. Es ist auch eine
Aufgabe der Polizei, den Menschen ihre Ängste zu nehmen. Immerhin ist es eines unserer primärsten Ziele, das
Sicherheitsgefühl der Hammer Bürger zu stärken. Das
geschieht aber nicht durch Vertuschung, insofern sind
solche Vorwürfe vollkommen haltlos. Wir haben klare
Prinzipien, in welchen Fällen wir die Öffentlichkeit über
Vorfälle informieren – beispielsweise wenn es sich um
schwere Straftaten handelt. Oder aber bei Straftaten, die
im öffentlichen Raum passiert sind. Da erhoffen wir uns
durch eine Veröffentlichung hilfreiche Hinweise auf den
Täter oder den Tatablauf. In solchen Fällen steht die
Tatklärung im Mittelpunkt. Dabei spielt es für uns keine
Rolle, welche Nationalität die Täter haben oder woher
sie kommen – die Straftat bleibt dieselbe. Deshalb rate
ich auch zu mehr Besonnenheit.
Was meinen Sie damit genau?
Grauwinkel: Die Diskussionen rund um Flüchtlinge –
gerade in Punkto Sicherheit und Kriminalität – werden
häufig sehr emotional geführt. Es gibt fast nur noch
„schwarz oder weiß“ und kaum noch eine objektive Betrachtung. Ein Beispiel: Wenn unsere Kolleginnen und
Kollegen zu einem Ehestreit, einem Ladendiebstahl oder
einer Körperverletzung gerufen werden, dann ist das unser Tagesgeschäft, das zum Großteil ohne Interesse der
Öffentlichkeit erledigt wird. Werden nun die gleichen
Delikte von Flüchtlingen begangen, erwartet ein Teil der
Bevölkerung, dass wir eine gesonderte Pressemitteilung
veröffentlichen – und das kann nicht sein. Wir dürfen
nicht den Fehler machen und plötzlich bei Straftaten
mit Beteiligung von Zuwanderern andere Maßstäbe ansetzen. Kriminalität ist keine Frage des Passes – und das
gilt es in allen Bereichen zu berücksichtigen. Vielmehr
sind soziale Hintergründe, beispielsweise Bildungsgrad
oder Gewalterfahrungen in der Familie, entscheidend
für das Risiko, dass Menschen kriminell werden.
Also werden Straftaten von Flüchtlingen genauso verfolgt
wie jede andere Straftat auch?
Zur Person:
Im Gespräch wirken Ulrike Köhler und Walaa bereits sehr
vertraut. Notfalls funktioniert die Verständigung auch mit
Gesten und Mimik. Beide Seiten legen großen Wert darauf,
dass sich die Patenschaft nicht auf bloßen Pragmatismus
reduziert. So haben die Familien schon gemeinsame Kochabende veranstaltet und Ausflüge in Hamm gemacht.
„Als wir uns kennengelernt haben, sind wir mit dem Wohnmobil erst einmal durch Hamm und Umgebung gefahren“,
sagt Ulrike Köhler lachend. Von der Möglichkeit der Patenschaft hat sie zufällig in der Zeitung gelesen – und war
direkt begeistert. Über den Katholischen Sozialdienst hat
sie dann mit ihrem Mann die Patenschaft für die syrische
Familie übernommen. Auch der Sohn des Ehepaares ist
als Pate für eine sechsköpfige Männer-WG aktiv. „Es ist
wirklich beeindruckend, wie wissbegierig und motiviert
die Flüchtlinge sind: gerade die Kinder und Jugendlichen.
Den Menschen ist deutlich anzumerken, dass sie hier ankommen und sich integrieren möchten. Dabei will ich unbedingt helfen“, ist Ulrike Köhler begeistert.
In ihrem Freundes- und Bekanntenkreis stößt Ulrike Köhler auf viel Zustimmung. Aber: „Viele sind der Meinung,
dass sie selbst nicht genug Zeit für eine Patenschaft haben.
Dabei hilft man den Menschen schon sehr, wenn man sich
ein bis zwei Mal in der Woche mit der Familie zusammensetzt oder den Wocheneinkauf gemeinsam erledigt“, erklärt
Ulrike Köhler, um mit einem Lachen zu ergänzen: „Allein
um die syrische Küche kennen zu lernen, lohnt sich eine
Patenschaft allemal!“«
Patenschaft:
Denken auch Sie darüber nach,
eine Patenschaft zu übernehmen?
Lena Börsch vom Katholischen
Sozialdienst informiert unter der
Telefonnummer 02381/ 92451-46
unverbindlich über die Möglichkeiten.
Verteilung der Flüchtlinge über das Stadtgebiet
Name: Christopher Grauwinkel
Alter: 46 Jahre
Breitenstein: Selbstverständlich. Für uns spielt es keine
Beruf: Polizeihauptkommissar
Rolle, wer eine Straftat begeht. Für uns zählt nur, dass
wir die Taten aufklären können. Klar ist aber auch, dass
es bei Fällen, bei denen Flüchtlinge – egal ob als Opfer
oder als Täter – beteiligt sind, im Berufsalltag Probleme
gibt.
Seit 2002 in verschiedenen Funktionen beim Polizei-
752
präsidium Hamm, seit Mai 2016 Pressesprecher
Heessen
124
Bockum-Hövel
286
Hamm-Norden
Welche Probleme sind das genau?
299
Breitenstein: In erster Linie die Sprache. Die Flüchtlinge
sprechen vielfach nur wenig Deutsch oder Englisch.
Unsere Kollegen verständigen sich teilweise mit Händen
und Füßen mit den Betroffenen, um überhaupt ein
halbwegs klares Bild der Situation zu bekommen – das
funktioniert zwar irgendwie, dauert aber natürlich
deutlich länger. In unübersichtlichen Fällen oder bei
schwereren Straftaten nehmen wir die Personen mit
in die Wache und klären die Sachlage mit einem Dolmetscher.«
868
Uentrop
427
Stadtmitte
Hamm-Westen
92
Herringen
Name: Julia Breitenstein
Alter: 29 Jahre
Beruf: Polizeikommissarin
Seit 2013 als Streifenbeamtin beim Polizeipräsidium
Hamm, seit Mai 2016 Pressesprecherin
106
Pelkum
108
Rhynern
Der Anteil von Flüchtlingen an der Einwohnerschaft liegt in
der Stadtmitte, Hamm-Norden, Hamm-Westen, Bockum-Hövel,
Rhynern, Herringen und Pelkum bei unter zwei Prozent. Nur
Heessen und Uentrop weisen durch die Landeseinrichtungen
Alfred-Fischer-Halle und ZUE einen höheren Anteil aus. Da die
Belegungszahlen hier wöchentlich oder sogar täglich schwanken,
wurde die maximale Belegung von 550 Plätzen (AlfredFischer-Halle) und derzeit 680 Plätzen (ZUE) zugrunde gelegt.
Grundsätzlich gilt: Die Unterbringung von Flüchtlingen findet
in allen Stadtbezirken und Sozialräumen statt. Eine völlig gleichmäßige Verteilung ist allerdings nicht möglich, da geeignete Immobilien für die Unterbringung von Flüchtlingen nicht in jedem
Stadtbezirk in gleichem Maße zur Verfügung stehen.
Stand: 1.6.2016
7
Flüchtlings- und
Integrations REPORT
Fakt oder
Vorurteil
?
Kinder und
Jugendliche
allein auf der
Flucht
t
ndig
ü
k
t
Stad
ern,
„Die ren Miet ge
ande Flüchtlin n.“
e
it
dam en könn
eh
einzi
n
ehme
n
e
g
n
tli
rn
„Flüch hen Kinde
c
deuts dergarten
n
i
die K e weg.“
plätz
U
MF oder UMA – hinter
diesen nüchternen, bürokratischen Abkürzungen verbergen sich Schicksale: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) oder Unbegleitete
minderjährige Asylbewerber
(UMA) sind Kinder und Jugendliche, die aus Kriegs- und Elendsgebieten ohne Eltern oder Verwandte nach Deutschland
geflohen sind. In Hamm leben
140 von ihnen. Die jungen Flüchtlinge kommen zum Großteil aus
Syrien, Pakistan, Afghanistan,
Somalia und Eritrea. Auffällig
ist: Es handelt sich ausschließlich um männliche Jugendliche.
Dabei handelt es sich jedoch
um kein „Hammer Phänomen“,
auch bundesweit sind nach Statistiken der Bundesregierung
nur zehn bis zwanzig Prozent
der minderjährigen Flüchtlinge
weiblich.
D
as stimmt nicht.
Die Stadt Hamm
mietet für einen Teil der ihr
zugewiesenen Flüchtlinge Wohnungen an. Ein Teil der Flüchtlinge wohnt aber auch in den
sechs Übergangswohnheimen
der Stadt, ein anderer Teil hat
sich in Eigeninitiative eine Wohnung gesucht und diese gemietet.
Die Stadt Hamm ist dann nicht
Mieter, trägt jedoch – wie es das
Asylbewerberleistungsgesetz
vorschreibt – die Kosten. Die für
Flüchtlinge angemieteten Wohnungen wurden der Stadt Hamm
entweder von Vermietern aktiv
angeboten oder sie wurden von
der Stadt in den üblichen Wohnungsinseraten in Zeitungen
oder im Internet entdeckt.
D
as stimmt nicht.
Alle Kinder haben
vom ersten Geburtstag bis zur
Einschulung einen Anspruch auf
Betreuung in einer Kindertagesstätte (Kita) oder Kindertagespflege. Die Nationalität oder ein
Migrations- oder Flüchtlingshintergrund spielen dabei überhaupt keine Rolle. Die Stadt
Hamm stellt aktuell rund 5.800
Kita-Plätze und 350 Plätze in der
Kindertagespflege. Da sich der
Bedarf an Kita-Plätzen durch
den Flüchtlings-Zuzug erhöht
hat, sieht das im Februar vorgelegte Kommunale Integrationskonzept die Schaffung von 500
zusätzlichen Kindergartenplätzen vor, was fünf bis sieben neuen Einrichtungen entspricht. Sie
sollen bis spätestens zum Start
des Kindergartenjahres 2017/18
ihren Betrieb aufnehmen. Grundsätzlich gilt: Reicht das Angebot
an Betreuungsplätzen in einigen
Bereichen des Stadtgebietes
nicht aus, richtet das Jugendamt
zusammen mit den Kitas Übergangsgruppen ein. Besteht der
höhere Betreuungsbedarf dauerhaft, werden neue Kitas eröffnet,
die die Übergangsgruppen ablösen. So stellt das Jugendamt sicher, dass alle Eltern, die einen
Betreuungsplatz für ihr Kind suchen, auch einen finden.«
Die Wohnung muss also schon
leer gestanden haben – oder der
Auszug des aktuellen Mieters
stand kurz bevor. Die Stadt kann
und will keinen Vermieter dazu
bringen, dem aktuellen Mieter zu
kündigen, um an die Stadt zu vermieten. Sollte ein Fall bekannt
werden, in dem ein Vermieter
einen Mieter aus der Wohnung
wirft, um die Wohnung an die
Stadt zu vermieten, verzichtet
die Stadt darauf, die Wohnung zu
mieten. Die Stadt zahlt auch keine „Mondpreise“ für Wohnungen,
sondern nur marktgerechte Preise, die jeder andere Mieter auch
zahlen müsste.«
Raoul Termath.
90 der 140 Jugendlichen leben in
Hamm in Familien, diesen Wert
erreicht keine weitere deutsche
Großstadt bei der Unterbringung. Das kommt nicht von ungefähr: „Die Unterstützung ist
unglaublich. Täglich erreichten
Herkunftsländer der Flüchtlinge in Hamm
Irak
9%
Impressum
Algerien
2%
Iran
3%
Pakistan
2%
Mazedonien
3%
Hamm hat nun sein Aufnahmesoll erfüllt, bekommt derzeit
keine weiteren minderjährigen
Flüchtlinge zugewiesen. Doch
für die Jugendlichen geht es jetzt
darum, sich ohne ihre Eltern in
einem neuen Umfeld zurechtzufinden: „Und das ist keine einfache Aufgabe. Sprachbarrieren,
unterschiedliche Bildungsniveaus, Lebens- und Fluchtgeschichten, Gewalterfahrungen
im Krieg: All das sind Herausforderungen, bei denen wir die Familien nicht allein lassen. Professionelle Unterstützung bieten
Psychologen, Therapeuten, Sozialarbeiter“, erklärt Termath.
20 der 140 Jugendlichen sind
im Schullandheim Heessen untergebracht, im Sommer wechseln die ersten von ihnen in die
Regelklassen am Internat. „Die
Lernbereitschaft ist so hoch,
dass Sprachbarrieren und unterschiedliche Bildungsniveaus
bereits in so kurzer Zeit überwunden wurden“, freut sich
Termath.«
1860
1936
1800
1857 1840
1600
Sonstige
23 %
Herausgeber:
Stadt Hamm
Der Oberbürgermeister
1400
1200
1000
Redaktion:
Markus Breuer, Tom Herberg,
Tobias Köbberling, Lukas Huster,
Thorsten Hübner
1052
963
800
600
Albanien
6%
Syrien
32 %
Afghanistan
9%
© 2016 Alle Inhalte sind
urheberrechtlich geschützt.
Genehmigung zur anderweitigen Nutzung ist durch
den Herausgeber einzuholen.
uns Bürger, die ihre Hilfe in
unterschiedlichster Form angeboten haben, bis hin zu dieser
unglaublich hohen Zahl an
Menschen, die den Jugendlichen
eine neue Heimat in ihrem Zuhause bieten“, berichtet Raoul
Termath.
In Hamm lebende Flüchtlinge:
die Entwicklung
2000
Kosovo
5%
Flüchtlings- und
Integrations REPORT
Kontakt:
Telefon: 02381-17-3001
E-Mail: [email protected]
Foto: Fotolia.com / Lydia Geissler
8
Serbien
6%
Die Grafik berücksichtigt nur Asylbewerber, die der Stadt Hamm dauerhaft zugewiesen sind. Die Landeseinrichtungen sind in diesem Schaubild nicht enthalten. Stand: 1.6.2016
400
200
0
6/2015
10/2015
12/2015
2/2016
4/2016
6/2016
Berücksichtigt sind nur die zu den jeweiligen Zeitpunkten der Stadt Hamm
dauerhaft zugewiesenen Flüchtlinge, also nicht die – meist nur über wenige
Wochen in Hamm lebenden – Asylbewerber in den Landeseinrichtungen (Notunterkunft Alfred-Fischer-Halle und Zentrale Unterbringungseinrichtung).