Immer mehr Flüchtlinge aus der Türkei

faulheit & arbeit
Sonnabend/Sonntag,
6./7. August 2016, Nr. 182
n Drucksachen
n Schwarzer Kanal
n Reportage
n ABC-Waffen
Weltrekord des Terrors. Ein illegales antifaschistisches Flugblatt zu den Olympischen
Spielen von Berlin 1936
Harte Hinterhöfe, weiche Birnen. NZZ und
Zeit über Erdogan – eine Höhendifferenz
wie zwischen Alpen und Elbniederungen
Verschüttete Wahrheit. In Spanien kämpfen Freiwillige um das Andenken der Opfer
Francos. Von Álvaro Minguito Palomares
Sie nehmen Drogen, viel mehr haben sie
nicht gemein. Immer wieder erleben sie
üble Dinge. Duke & Jill. Von Ron Kolm
2015 MINDJAZZ PICTURES
»Valparaíso ist einfach
kaputt-schön«
Gespräch
Mit Rodrigo González von der Band Die Ärzte. Über den Putsch in Chile 1973 und
seine Geburtsstadt Valparaíso, über seine Kindheit in der Chile-Solidaritätsbewegung
in Deutschland und über den Dokumentarfilm »El viaje«
Siehe Seite 16
UWE ANSPACH/DPA-BILDFUNK
S
ie kommen ursprünglich
aus Valparaíso in Chile.
Können Sie die Stadt be­
schreiben?
Valparaíso ist die größte chilenische Hafenstadt. Der Umschlagplatz,
wo die ganzen Schiffe mit Waren ankommen und abfahren. Schon immer. Diese
Stadt ist in einem Tal, von Bergen umgeben. Das ist wie ein Kessel. Es ist eine sehr
schöne Stadt, weil sie in ihrer Bauweise
einmalig ist. Wie die kleinen Häuschen in
die Buchten hineingebaut worden sind –
wie kleine, bunte Schachteln. Von überall
aus der Stadt kann man das Meer sehen.
Kann man da auch baden?
Nicht in Valparaíso direkt, aber weiter in
Richtung Norden. Richtung Viña del Mar.
Rodrigo González,
Jahrgang 1968, ist Bassist der Ärzte.
Er ist seit der Wiedergründung der
Band 1993 dabei.
Da sind die Strände. Das ist die Ecke, wo
die Leute leben, die mehr Geld haben.
Die Stadt selbst ist sehr runtergekommen.
Total abgerockt. Valparaíso war schon
immer sehr links, in der Zeit der Unidad Popular wie auch unter der Diktatur.
Dementsprechend hat Diktator Pinochet
diese Stadt praktisch verhungern lassen.
Es wurde wenig gemacht. Das sieht man
ihr an. Trotzdem hat sie einen besonderen
Charme. Sie ist einfach kaputt-schön.
In dem Dokumentarfilm »El viaje«,
er startet am Donnerstag in deut­
schen Kinos, spielen Sie auf einem
sehr schrottigen Schlagzeug in
einem alternativen Zentrum in Val­
paraíso, zusammen mit dem Lieder­
macher Chinoy.
Das war eigentlich eine Punk-WG, Freunde von Chinoy, die da wohnen und einen Übungsraum haben. Da hängen auch
Punks ab, und es proben andere Punkbands. Chilenische Anarchopunks. Ich
fühlte mich ein bisschen in die 80er Jahre
zurückversetzt, in die spanische Besetzerszene. Weil das wirklich alles totaler
Trash war, was da stand. Aber immerhin,
es funktionierte.
In dem Dokumentarfilm besuchen
Sie Chile und seine heutige Musik­
szene.
Wir hatten eine Liste von Musikern, die
wir sehen wollten. Das war aber eher
Papierkram. Wir haben vorher Arrange-
Spurensuche
Gespräch mit Rodrigo González von der
Band Die Ärzte. Über den Putsch in Chile
1973 und seine Geburtsstadt Valparaíso,
über seine Kindheit in der Chile-Solidaritätsbewegung in der BRD und über den
Dokfilm »El viaje«. Außerdem: Autokratenkunde à la Zeit. Schwarzer Kanal
n Fortsetzung auf Seite zwei
ACHT SEITEN EXTRA
GEGRÜNDET 1947 · SA./SO., 6./7. AUGUST 2016 · NR. 182 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT
WWW.JUNGEWELT.DE
Schlaf der Moral
Freunde der Folklore
Zeichen des Protests
Patrioten des Geldes
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Hiroshima – das Verbrechen, das sich
für die USA heute noch auszahlt.
Von Diana Johnstone
In Motorradklubs von Justizbeamten
und Polizisten tummeln sich
»gezähmte Abenteurer«
Heftige Watschen für Zuma. Südafrikas ANC verliert Kommunalwahlen in mehreren Großstädten
»Kapital hat ein Vaterland«. Polen will
Bankenkrise nutzen, um heimischen Finanzsektor auszubauen
Waffen für Islamisten
Verfassungsgericht billigt
Vorgehen der Regierung
REUTERS
Armee Syriens hebt Depot von Al-Nusra-Front aus. Waffen aus USA, Deutschland
und Tschechien ­gefunden. Von Karin Leukefeld, Damaskus
U
Hochgerüstet: Aufnahmen aus dem mutmaßlichen Waffendepot der Al-Nusra-Front
Luft-Raketen. Besondere Aufmerksamkeit erregten »TOW«-Systeme, moderne Antipanzerraketen, die aus den USA
stammen. Charles Shoebridge, ein ehemaliger Offizier der britischen Armee,
wies gegenüber RT darauf hin, dass die
USA bereits 2015 öffentlich angekündigt hatten, »Antipanzerraketen vom
Typ ›TOW‹ an ›moderate Rebellen‹ in
Syrien« zu liefern. Wie schon in anderen Fällen waren die Waffen rasch in
den Bestand der Al-Nusra-Front übergegangen, die die »moderaten Rebellen« überfallen und ausgeraubt hatten.
Die unter anderem von Deutschland
und der Europäischen Union unterstützte Organisation »Conflict Armament
Research« hat wiederholt dokumentiert, dass Waffen, die an die Golfstaaten, an die nordirakischen Peschmerga
oder an die vom Westen als »moderat«
bezeichneten Kampftruppen geschickt
worden waren, im Laufe der Gefechte
in den Besitz der Al-Nusra-Front oder
des »Islamischen Staates« übergegangen waren. Trotzdem werden die Lieferungen über die Türkei und Jordanien
an die Islamisten in Syrien nicht unterbunden, wie der Bericht des Reporternetzwerkes BIRN Ende Juli öffentlich
machte (siehe jW vom 2.8.).
Beobachter sind sich einig, dass
die Zukunft Syriens sich militärisch in
Aleppo und in Idlib entscheiden wird.
In Idlib agiert die von der Türkei, SaudiArabien und Katar unterstützte »Armee
der Eroberung«. Zur Zeit versuchen
Tausende Söldner dieser bewaffneten
Verbände, eine Nachschublinie für
die in Aleppo eingeschlossenen Milizen freizukämpfen. Bisher konnten sie
allerdings die Abriegelung durch die
syrischen Streitkräfte und deren Verbündete nicht durchbrechen. Sollte die
syrische Armee weitere Erfolge erringen, werden die Kampfgruppen früher
oder später aufgeben und sich auf einen
verhandelten Abzug einlassen müssen.
Derweil bezahlt die Zivilbevölkerung
weiterhin für den Krieg mit Gesundheit
und Leben.
Immer mehr Flüchtlinge aus der Türkei
Erdogans Krieg gegen Kurden lässt Zahl der Asylanträge steigen
D
er repressive innenpolitische
Kurs der türkischen Regierung wirkt sich offenbar
auch auf die Asylbewerberzahlen in
Deutschland aus. Im ersten Halbjahr
sei die Zahl der Antragsteller mit 1.719
Menschen fast schon so hoch wie im
gesamten Jahr 2015 (1.767), berichtete
der Tagesspiegel am Freitag unter Berufung auf Zahlen des Bundesamts für
Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Die meisten Asylbewerber kommen
demnach aus den Kurdengebieten der
Türkei. Dort gehen Regierungstruppen
gegen die Zivilbevölkerung und Un-
Paris. Die Gewerkschaft Force
Ouvrière (FO) hat am Freitag die
Entscheidung des französischen
Verfassungsgerichts kritisiert, das
zuvor das Vorgehen der sozialdemokratischen Regierung zur
Durchsetzung des neuen Arbeitsrechts gebilligt hatte. Das Gericht
erklärte am Donnerstag abend,
Staatschef François Hollande
(Foto, l.) und das Kabinett von
Premierminister Manuel Valls
(r.) hätten die gesetzlichen Vorschriften eingehalten, als sie die
Gesetzesvorlage ohne jede Debatte
und Abstimmung durchs Parlament
drückten. Damit wiesen die Richter eine Beschwerde von Abgeordneten zurück. Gegen die Aushebelung von Arbeitsrechten hatten
die Gewerkschaften monatelang
demonstriert. Die FO kündigte an,
weitere juristische Schritte gegen
die Durchführungsverordnungen
des Gesetzes zu prüfen. Außerdem
sind für den 15. September neue
Proteste geplant. (AFP/jW)
QUELLE: RT/SCREENSHOT
S-Präsident Barack Obama
hat seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin
vorgeworfen, in Aleppo mit »rücksichtslosen Bombardierungen« die
dort eingeschlossene Zivilbevölkerung
zu gefährden. Moskau helfe den syrischen Streitkräften, humanitäre Lieferungen zu blockieren. Dennoch werde
er sich weiter bemühen, mit Russland
eine »Deeskalation« der Lage herbeizuführen, so Obama bei einer Pressekonferenz am Donnerstag (Ortszeit)
im Pentagon. Er wolle die russische
Koopera­
tionsbereitschaft testen, um
»einen Weg« zu finden, über den politische Verhandlungen beginnen können.
Putin konterte mit dem Vorwurf, dass
Washington seit Jahren islamistische
Kampfgruppen in Syrien bewaffnet hätte, die Sicherheit und Stabilität nicht
nur dort gefährdeten.
Russische Kampfflugzeuge hatten
seit Mitte Juli Stellungen der Al-Nusra-Front und ihrer Verbündeten in und
um Aleppo angegriffen. Die Gruppe,
die sich inzwischen in »Front zur Eroberung Syriens« umbenannt hat, gilt
als das »Rückgrat der oppositionellen
Kampfverbände«, wie es in der libanesischen Tageszeitung Al-Safir hieß.
Das Hauptquartier der Islamisten
in Bani Said im Umland von Aleppo
konnte inzwischen von der syrischen
Armee gesichert werden. Dabei stießen die Truppen auf ein Depot, in dem
modernste Waffen gefunden wurden.
Filmaufnahmen zweigen Waffen, die
»mehrheitlich aus den USA, Deutschland und der Tschechischen Republik«
stammten, hieß es in einem Bericht des
von Russland finanzierten Senders RT,
der die Bilder veröffentlichte.
Gefunden wurden große Mengen
Munition, Mörsergranaten und Boden-
terstützer der verbotenen kurdischen
Arbeiterpartei PKK vor. Die Chancen
auf Asyl in Deutschland seien jedoch
gering, die Anerkennungsquote sei gesunken, hieß es in dem Bericht weiter.
Auswirkungen des gescheiterten
Putsches und des harten Vorgehens der
türkischen Regierung gegen Anhänger
des islamischen Predigers Fethullah
Gülen sind in der Statistik noch nicht
erfasst. Bereits zuvor hatten aber mehrere CDU- und CSU-Politiker vor einer Visumfreiheit für die Türkei mit
der Begründung gewarnt, dann dürfte
die Zahl der Asylbewerber aus dem
NATO-Land steigen. Die EU hat der
Türkei eine Visumliberalisierung
zugesagt, wenn das Land alle dafür
nötigen Kriterien erfüllt. Besonders
strittig sind dabei die türkischen AntiTerrorgesetze, die aus Sicht der EU
nicht akzeptabel sind und die nach
dem gescheiterten Putsch zur Verhaftung von mehr als 60.000 Personen in
der Türkei führten.
Nachdem EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bereits am
Donnerstag österreichische Forderungen nach einem Abbruch der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei abge-
lehnt hatte, wies Kanzleramtschef Peter Altmaier das Ansinnen nach einer
Alternative zu dem EU-Türkei-Flüchtlingsdeal zurück. »Es gibt keinen
Grund für Plan B«, sagte Altmaier der
Berliner Zeitung. »Ich bin überzeugt,
dass das Abkommen Bestand haben
wird«, sagte er zu Drohungen aus der
Türkei, das Übereinkommen zu beenden, wenn die EU der Türkei nicht bis
Oktober Visumfreiheit gewährt. Auch
die Türkei habe ein klares Interesse an
dem Flüchtlingsabkommen, sagte der
CDU-Politiker. (Reuters/jW)
Siehe Kommentar Seite 8
6.548 rechte Straftaten
im ersten Halbjahr
Berlin. Die Zahlen zu rechter Gewalt
in der BRD steigen unaufhörlich.
Im ersten Halbjahr 2016 registrierte die Polizei bereits 6.548 Straftaten von Neonazis und anderen
Rechten (5.496 im Vergleichszeitraum 2015), davon waren 520 Gewaltdelikte (2015: 342). Das berichtete der Tagesspiegel am Freitag
unter Berufung auf die Bundesregierung. Diese antwortet monatlich
auf entsprechende Anfragen von
Bundestagsvizepräsidentin Petra
Pau (Die Linke). Bei rechten Übergriffen seien in diesem Jahr bereits
399 Menschen verletzt worden
(2015: 271). Die Polizei habe von
Januar bis Juni 3.227 Tatverdächtige ermittelt. Laut Zahlen des BKA,
die das Blatt außerdem zitiert, habe
es bis inklusive Juli 665 Attacken
auf Unterkünfte von Asylbewerbern gegeben, 613 der Angriffe
seien eindeutig rechts motiviert
gewesen. (jW)
wird herausgegeben von
1.862 Genossinnen und
Genossen (Stand 4.7.2016)
n www.jungewelt.de/lpg