Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Feature: Maskottchen Mao M etamorphosen eines Gewaltherrschers Autor: Mathias Bölinger Redaktion: Birgit Morgenrath Produktion: DLF 2016 Erstsendung: Dienstag, 16.07.2016 , 19.15 Uhr Regie: Claudia Kattanek Technik I: Ernst Hermann Technik II: Hanna Steger Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © 1 O-Ton Gruppe Yi, er, san.... Mao zhuxi qin bu qin? –Qiiiin! OV Sprecherin 2: - Liebt Ihr den Vorsitzenden Mao? OV Sprecher 2,3,4,5,6, Sprecherin 1: - Jaaa Sprecher 1: Volksrepublik China. Provinz Hunan. O-Ton Fremdenführerin OV Sprecherin 2: Im Jahr 2015 des Sonnenkalenders, am 10.November, begrüßt die rote Tourismusagentur 17 Gäste vor der bronzenen Maostatue zur Ehrerbietung. Sprecher 1: Shaoshan. Der Geburtsort Mao Tse-tungs. Die bronzene Staute glitzert in der Sonne. Der ausgestreckte Arm Mao Tsetungs deutet irgendwohin in den Himmel. O-Ton Fremdenführerin OV Sprecherin 2: Alle 17 stellen sich jetzt bitte in zwei Reihen auf... sehr gut....Bitte treten Sie nach vorne. Verbeugen Sie sich vor der bronzenen Statue des großen Führers Mao Tse-Tung. Einmal. Zweimal. Dreimal. 2 O-Ton Mao Sprecher 5: Unsere Einheit schreitet fort, wir stehen enger zusammen und werden Jahr für Jahr gemeinsam schlagkräftiger. Sprecherin 1: Maskottchen Mao Metamorphosen eines Gewaltherrschers Ein Feature von Mathias Bölinger Sprecher 1: Chongqing im Westen Chinas. O-Ton Zheng Zhisheng OV Sprecher 3: Meine Frau hat all die Jahre zu mir gehalten, sie hat viel ertragen. Ich habe ihr nicht gesagt, dass ich mich mit einem Ausländer treffe. Sprecher 1: Zheng Zhisheng ist ein kleiner Mann, 73 Jahre alt, mit einem äußerst resoluten Handgriff. Wir gehen in kleinen Schritten einen Parkweg hinauf. Während der ganzen Zeit graben sich seine Finger fest in meinen Oberarm. O-Ton Zheng Zhisheng OV Sprecher 3: Ich habe ihr gesagt, Sie seien ein Journalist von der Volkszeitung in Peking – dem offiziellen Blatt des Zentralkomitees. Sonst hätte sie mich nicht gehen lassen. Sie hat zu viel Angst um mich. Sprecher 1: Zheng trägt eine beigefarbene Blousonjacke. Die dichten weißen Haare hat er zurückgekämmt. Wir kommen an einem kleinen See vorbei. Mehrere Alte machen Gymnastikübungen am Ufer. 3 Er bleibt vor einem kleinen Glashäuschen stehen, an dem sich ein paar Telefonnummern befinden. Während Zheng eine der Nummern wählt, spricht sein Telefon die Zahlen mit. O-Ton Zheng Zhisheng OV Sprecher 3: Hallo Frau Xin? Wo sind Sie? Ach, Sie haben heute frei? Ich wollte fragen, ob Sie uns aufschließen können. Ich bin hier mit einem Journalisten.... Nein, geht nicht? Na dann lassen Sie mal. ... (wendet sich dem Journalisten zu) Normalerweise machen sie für mich und meine Freunde immer auf. Aber Sie sind Ausländer, da ist sie vorsichtig. Sprecher 1: Hinter dem großen Eisentor sieht man prächtige Grabsteine, einige sind mehrere Meter hoch. Sie sind mit Sternen oder mit Hammer und Sichel verziert. O-Ton Zheng OV Sprecher 3 Wir haben die Toten vom Campus hergebracht. Das sind zwei oder drei Kilometer von hier – einmal über die große Brücke. Wir haben sie in ein Leichentuch gehüllt und mit LKWs hierher gebracht, um sie hier zu beerdigen. Man nannte mich den Leichenoffizier. So wie der Offizier in der Armee - nur mit Leichen. Sprecher 1: Der kleine Friedhof – umgeben von einer großen Mauer - ist eine von ganz wenigen Stätten in China, die offiziell an die Opfer der Kulturrevolution erinnern. Damals rief Mao Tse-tung Jugendliche auf, sich zu Kampfgruppen zusammenzuschließen und gegen die Tradition zu rebellieren. Die fanatischen Roten Garden gingen zuerst auf Beamte, Lehrer und Geistliche los und dann schließlich aufeinander. Die Opfer dieser Kämpfe hat Zheng, der Leichenoffizier, hier begraben. 4 O-Ton Mao OV Sprecher 5 Unsere Sache ist gerecht. Und eine gerechte Sache ist jedem Feind gegenüber unbesiegbar. Sprecher 1: Zurück nach Shaoshan, Maos Geburtsort. Ou Xinhe steuert ihren schwarzen Wagen an der großen Mao-Statue vorbei. Nicht weit von hier, ein Stück die Straße hinauf, wurde Mao 1893 geboren. Als kleine goldene Büste auf dem Armaturenbrett begleitet er Ou auf ihren Fahrten. O-Ton Ou Xinhe OV Sprecherin 1 Der Vorsitzende sorgt für unsere Sicherheit. Er ist eine Gottheit, die uns beschützt. Sprecher 1 Ein paar Kilometer außerhalb der Stadt fährt Frau Ou auf einen Hof, der von einstöckigen Werkstattgebäuden gesäumt ist. In einem der Seitengebäude stapeln sich rote Kisten bis unter die Decke. Kisten, in denen Büsten und Statuen von Mao Tse-tung verschickt werden sollen. O-Ton Ou Xinhe Sprecherin 1 Das hier ist eine Lieferung für ein Modehaus. O-Ton Cheng Qingshan Sprecher 6 Die Verpackungen sind natürlich rot. Wir hier in Shaoshan lieben die rote Farbe – chinesisches Rot. Das ist unsere rote Kultur. Orte wie Shaoshan, wo es viele revolutionäre Sehenswürdigkeiten gibt, nennen wir rote Reiseziele. 5 Sprecher 1 Cheng Qingshan ist Ou Xinhes Neffe. Er ist vor ein paar Jahren in den Betrieb eingestiegen. Ein Familienunternehmen, das von der Vermarktung Mao Tsetungs lebt. O-Ton Ou Xinhe Sprecherin 1 Es ist unsere Pflicht, dem Vorsitzenden die Ehre zu erweisen. Der Vorsitzende ist unser Stolz. O-Ton Mao: Sprecher 5 Einmal in den Händen des Volkes wird jede Ecke Chinas in neuem Glanz erstrahlen, gleich der Sonne, die im Osten aufgeht. O-Ton Yu Hua Sprecher 2 Meine Eltern haben manchmal im Flüsterton gesprochen. Sprecher 1 Der Teesalon eines großen Hotels in Peking. Eine Angestellte schiebt süße Leckereien Auf einem Wägelchen über den Marmorboden. O-Ton Yu Hua Sprecher 2 Sie haben ihre Zweifel an Mao besprochen. Aber nie hätten sie gewagt in unserer Gegenwart schlecht über ihn zu sprechen. Einmal habe ich sie belauscht, wie sie sich kritisch über den großen Vorsitzenden äußerten. Ich habe mich sehr erschreckt. 6 Sprecher 2 Der Schriftsteller Yu Hua hat den Treffpunkt ausgesucht. Wir sitzen in einer ruhigen Ecke, die mit einem Bücherregal abgetrennt ist. Der 56 Jährige, ein mittelgroßer Mann, trägt kurzgeschnittene Haare über einem runden Gesicht. O-Ton Yu Hua Sprecher 2: In meiner Kindheit, bis in meine Jugend hinein hatte ich ausschließlich grenzenlose Verehrung für ihn übrig. Mao war für mich ein Gott. Wir hatten keine Zweifel. 2. Musik Alle unsere Hoffnungen Sprecher 6 Unser großer Lehrer, unser großer Anführer, großer Kommandeur und Steuermann, der Vorsitzende Mao hat grenzenloses Vertrauen in uns, die revolutionäre Jugend. Er sagt: Sprecher 5 Die Welt gehört Euch. Sie gehört auch uns, aber am Ende wird sie Eure sein. Ihr jungen Menschen, frisch und aufstrebend, Ihr seid das erblühende Leben, gleichsam die Sonne um acht oder neun Uhr morgens. Unsere Hoffnungen ruhen auf euch. Die Welt gehört euch, Chinas Zukunft gehört euch. Sprecher 1 Zheng Zhisheng, der „Leichenoffizier“ glaubte an diese Zukunft. O-Ton Zheng Zhisheng Sprecher 3 Als die Kulturrevolution begann, war ich Student an der Universität Chongqing. 1967 sollte ich eigentlich meinen Abschluss machen. Ich war ein guter Student. Aber mein Familienhintergrund war nicht gut. Mein Vater galt als Grundbesitzer. Deshalb habe ich mich immer besonders ins Zeug gelegt. Besonders im politischen Unterricht war ich immer sehr gewissenhaft. 7 Sprecher 1 Hinter den Kulissen tobte ein Machtkampf in der Kommunistischen Partei Chinas. Nachdem der Diktator das Land mit der Kollektivierungspolitik des "Großen Sprungs nach vorn" in eine Hungerkatastrophe geführt hatte, übernahmen pragmatischere Kräfte um den damaligen Präsidenten Liu Shaoqi und den Generalsekretär des Zentralkomitees, Deng Xiaoping, in der Partei die Macht. Zwar pflegten sie weiterhin den Kult um den großen Vorsitzenden, Steuermann, Anführer und so weiter. Doch aus der praktischen Politik hatten sie ihn weitgehend ausgeschlossen. Mao sann auf Rache und Chinas Jugend – aufgewachsen in blinder Verehrung für den großen Steuermann – sollte sie ausführen. Lin Biao, Maos Stellvertreter, richtete das Wort an die Massen. O-Ton Lin Biao Sprecher 5 Wir werden das Ungeziefer ausrotten und die Hindernisse beseitigen. Sprecher 1 Mao und seine Mitstreiter warfen den Parteikadern vor, die sozialistischen Erfolge rückgängig machen zu wollen. Sie stachelten die Jugend an, gegen das Parteiestablishment zu kämpfen. Die Macht der Straße gegen die Macht des Apparats. O-Ton Zheng Zhisheng Sprecher 3 Unser Ziel war es, das Parteikomitee der Stadt zu entmachten. Wir kämpften gegen den Parteiapparat und wollten den Direktor unserer Uni stürzen. Sprecher 1 Im ganzen Land und auch in Chongqing bildeten Schüler und Studenten Rebellengruppen. Doch bald schon stritten die Gruppen untereinander um die Vorherrschaft. Offiziell kämpften beide für den Vorsitzenden Mao – in Wahrheit aber gegeneinander. Sie plünderten Depots der Armee und der Rüstungsindustrie. 8 O-Ton Zheng Zhisheng Sprecher 3 Die Kämpfe wurden zu einem richtigen modernen Krieg, in dem echte Waffen eingesetzt wurden: Maschinengewehre, halbautomatische Sturmgewehre. Die Kämpfe wurden immer heftiger. Und immer mehr Menschen kamen ums Leben. Sprecher 1 Die Zahl der Toten ging in die Tausende. Erbittert kämpften Studenten der Universität Chongqing und der Pädagogischen Hochschule gegeneinander – eine Fehde zwischen zwei Lehranstalten, die immer brutalere Züge annahm. Worin sich ihre Ideen oder Ziele eigentlich unterschieden, kann heute keiner der Beteiligten mehr sagen. Beide Seiten waren überzeugt, aus Treue zu Mao zu kämpfen. Und als immer mehr junge Menschen in den Kämpfen starben, bekam der Leichenoffizier seinen Titel. O-Ton Zheng Zhisheng Sprecher 3 Zu Beginn der Bewegung habe ich mich gegen unseren Anführer gestellt. Ich hatte den Eindruck, dass er zu ehrgeizig sei. Jetzt kam er zu mir. Er lobte mich als fleißig und linientreu und sagte: Wir müssen etwas mit den Leichen unternehmen. Du bist der beste dafür. Du hast keine Angst vor Dreck, du scheust die harte Arbeit nicht und du hast keine Angst vor den Geistern. Wenn Du diese Aufgabe übernimmst, dann vergessen wir, dass Du am Anfang gegen mich warst. Also habe ich dem Druck nachgegeben und bin Totengräber geworden. O-Ton Yu Hua Sprecher 2 Wir Kinder waren damals den ganzen Tag auf der Straße. Für Kinder war es sicher damals. Es gab keine Menschen, die Kinder gequält haben oder verkauft wie heute. Unsere Eltern haben sich nie Sorgen gemacht. Sprecher 1 Yu Hua, der Schriftsteller, ist 1960 geboren. Als die Kulturrevolution begann, war er sechs Jahre alt. 9 O-Ton Yu Hua Sprecher 2 Also haben wir uns den ganzen Tag draußen rumgetrieben. Wir haben gesehen, wie demonstriert wurde, wir haben gesehen, wie Menschen gedemütigt wurden. Wir haben gesehen, wie Menschen geschlagen wurden, bis sie blutüberströmt waren. Sprecher 1 Die Bilder, die der Sechsjährige damals aufnahm, prägen den Schriftsteller bis heute. Yu Hua ist bekannt geworden durch seine Bücher, die die jüngere chinesische Geschichte aufarbeiten. Häufig sind es Familiengeschichten. Sie handeln von Gewalt und Korruption im heutigen China und von den Grausamkeiten der Mao-Jahre. O-Ton Yu Hua Sprecher 2 Auch die Eltern meines besten Freundes wurden verhaftet. Verunsichert hat mich das nicht. Ich war damals überzeugt, dass sie schlimme Dinge getan hätten. Allerdings bekam ich große Angst um meine eigenen Eltern. Ich habe gesehen wie immer mehr Eltern meiner Freunde gequält wurden und fürchtete, dass ihnen dasselbe passieren wird. Sprecher 1 Mao-Gedenkhalle in Shaoshan, nur wenige Meter von der großen Bronzestatue entfernt. Ein kleines Mädchen, vielleicht vier Jahre alt, läuft in die Halle, hält an einer überlebensgroßen Statue des Diktators – diesmal aus Marmor - und ruft mehrmals begeistert aus: "Der Vorsitzende Mao, der Vorsitzende Mao“. Ihr Vater tätschelt ihr den Kopf. Sprecher 1 Die monumentalen Gedenkstätten, die noch zu Maos Lebzeiten an den historischen Orten der Revolution entstanden, haben wieder großen Zulauf. Jahrzehntelang hatten viele Chinesen nur ein spöttisches Lächeln für den Personenkult um Mao Tse-tung übrig. Doch seit einigen Jahren strömen immer mehr Menschen zu den roten Heiligtümern. Nicht nur zu Maos Geburtsort. nach Shaoshan, auch nach Yan'an im Norden, wo sich die Kommunisten in den dreißiger Jahren in den Bergen verschanzten und zu den Schlachtfeldern der nordchinesischen Tiefebene, wo sich in den vierziger Jahren Kommunisten und Nationalisten bekriegten, oder auch zur 10 Gründungsstätte der Kommunistischen Partei in Shanghai. Ein Millionengeschäft. Allein in den ersten drei Monaten 2016 machten sich 30 Millionen Chinesen auf den Weg zu den Stätten des roten Tourismus. O-Ton Mao Sprecher 5 Wir müssen unser Ziel erreichen. Wir können unser Ziel erreichen. Sprecher 1 Peking. Luft- und Raumfahrtuni versität. Neben dem alten Campus mit seinen Parkanlagen und den Hörsaalgebäuden im sozialistischen Klassizismus steht ein riesiger Neubau. Ein rechteckiger Klotz, Natursteinfassade, schmale hohe Fenster. Innen lange Gänge. In Aufgang A, Raum 905, hat Han Deqiang sein Büro. O-Ton Han Deqiang Sprecher 4 Warten Sie kurz, ich schalte schnell den Computer aus Sprecher 1 Han ist Professor für Betriebswirtschaft. Einen Namen hat er sich allerdings nicht in seinem Fach gemacht. Er wurde bekannt als Globalisierungskritiker und Wortführer der Linken in China. O-Ton Han Deqiang Sprecher 4 Ich bin nur ein einfacher Wissenschaftler. Meine Meinung tut doch überhaupt nichts zur Sache. Sprecher 1 Han ist 1969 geboren. Von der Kulturrevolution hat er nicht viel mitbekommen. Als der Vorsitzende Mao starb, war Han Deqiang sieben Jahre alt. Er ist bis heute ein glühender Verehrer des Vorsitzenden. 11 O-Ton Han Deqiang Sprecher 4 Es gibt Menschen, die halten diese Zeit Maos für eine schlimme Zeit. Mao hat Konterrevolutionäre, Kapitalisten, Grundbesitzer unterdrückt. Das war keine kleine Gruppe. Sie und ihre Nachkommen haben diese Zeit als Schreckensherrschaft in Erinnerung. Das ist nicht falsch. Aber ich bin ein Bauernkind. Ich bin Mao dankbar, dass er den Grund aufgeteilt hat und uns ein Haus gegeben hat. Sprecher 1 Lange Zeit waren Stimmen wie die des Professors im Land kaum zu hören. Inzwischen schwelgen immer mehr Chinesen in der Mao-Nostalgie manchmal klingt sie wie ein fröhliches Volksfest. In Shaoshan schieben sich die Reisegruppen durch Mao Tse-tungs Geburtshaus. Nachdem man eine Sicherheitskontrolle passiert hat, betritt man die kargen Räume einer südchinesischen Bauernfamilie. Wenn man das Haus verlässt wird man von Musik beschallt. Es sind die alten Hymnen der Kulturrevolution, als Pop-Schnulzen aufgehübscht. Hinter dem Platz liegt eine Reihe kleiner Souvenir-Läden vor. Im Angebot sind Medaillen, Mao-Statuen, Tassen, Uhren mit Maos Konterfei – und natürlich Gipsbüsten. Überall im Land liegen inzwischen die Devotionalien des Mao-Kults in den Shops. Hier in Shaoshan ist die Auswahl natürlich besonders groß. Revolutionärer Kitsch, den zwanzig Jahre zuvor lediglich westliche Touristen gekauft hätten – als exotisches Souvenir mit einem kräftigen Schuss Ironie. Sprecher 1 Im Chongqing des Jahres 1967 führte die Bereitschaft, sich für den Vorsitzenden aufzuopfern zu immer mehr Toten. Über den Sommer eskalierten die Kämpfe. Der Leichenoffizier Zheng Zhisheng kam mit dem Beerdigen der Toten kaum hinterher. O-Ton Zheng Sprecher 3 Eines Tages brachten sie mir drei Gefangene, damit sie mir beim Beerdigen helfen. Zwei von ihnen unterschrieben ein Geständnis. Es waren Angehörige der wilden Tiger – der gegnerischen Rebellengruppe. Sie gaben zu, viele von unseren Leuten getötet zu haben. Sie sagten: ich bin schuldig, ich verdiene den Tod, ich gestehe. Der Dritte gestand nicht. Er sagte, er sei kein wilder Tiger und beschuldigte die anderen, Anführer der Tigergruppe zu sein. 12 Sprecher 1 Zheng erinnert sich an eine Menschenmenge, die sich vor dem Gebäude versammelt hatte. Man forderte die Herausgabe der Gefangenen. O-Ton Zheng Sprecher 3 Sie fragten, welcher ist der Anführer der Tiger? Ich habe ihnen die beiden ausgeliefert. Beim Dritten sagte ich: den dürft ihr nicht schlagen, der ist unschuldig. Ich hätte auch die anderen beiden schützen können, aber die hatten ja gestanden. Ich war wütend auf sie, machte sie für unsere Toten verantwortlich. Also habe ich sie den anderen ausgeliefert. Die Menge hat sie halb totgeschlagen. O-Ton Zheng Sprecher 3 Als ich gesehen habe, was sie mit beiden gemacht haben, habe ich Angst bekommen. Ich habe die beiden in ein Auto geladen und habe sie ins Krankenhaus gebracht. Dort traf ich auf ein Mitglied unserer Gruppe – einen meiner Untergebenen. Er hat mich gefragt: Warum sollen wir diese Leute retten, nach allem, was sie uns angetan haben? Da habe ich ihm gesagt: In Ordnung. Schlag sie tot. Sprecher 1 Chongqing. Nachdem die Kämpfe zwischen den Rebellengruppen im ganzen Land immer stärker außer Kontrolle geraten waren, griff die Armee ein. Die Roten Garden wurden entmachtet. O-Ton Zheng Zhisheng Sprecher 3 Der Tod der beiden Rebellen wurde dann untersucht. Sie fragten, was genau geschehen sei. Ich habe die Verantwortung übernommen. Sie haben mich zu 13 Jahren Arbeitslager verurteilt. Ich bin verantwortlich für den Tod dieser beiden. Ich habe nicht zu Unrecht gesessen. Ich habe Schuld auf mich geladen. Bis heute schäme ich mich dafür. 13 Sprecher 1 Zheng sitzt leicht vornübergebeugt da. Er hat diese Geschichte schon oft erzählt. Anfang der achtziger Jahre kam er aus dem Gefängnis frei. Seine Erinnerungen hat er aufgeschrieben, traut sich aber noch nicht, sie zu publizieren. Deshalb erzählt er seine Geschichte immer wieder von neuem. Sie lässt ihn nicht los. O-Ton Zheng Sprecher 3 Mein größter Wunsch ist es, den Angehörigen dieser beiden die Knochen der Toten zu übergeben. Ich hoffe, dass ich das eines Tages tun kann. Sprecher 1 Mao Ttse-tung starb 1976. Zwei Jahre dauerte der Kampf um seine Nachfolge. Am Ende setzte sich der Reformer Deng Xiaoping durch. Sein Ziel: die Wirtschaft, die nach zehn Jahren Chaos am Boden lag, wieder aufzubauen und für den Weltmarkt zu öffnen. O-Ton Yu Hua Sprecher 2 Wir haben uns nie als arm empfunden. Wir dachten immer, Amerika, Japan Deutschland, Frankreich, das seien arme Länder. Sprecher 1 Deng führt zunächst vorsichtige marktwirtschaftliche Reformen ein. Und er vollzieht erste kleine Schritte der Annäherung gegenüber dem Ausland – jener imperialistischen Welt, die es bisher zu bekämpfen galt. Yu Hua, der spätere Schriftsteller war 18 Jahre alt, als Deng seine Reformen begann. O-Ton Yu Hua Sprecher 2 Er hat Japan einen Staatsbesuch abgestattet. Und dort hat er eine Familie besucht, eine ganz normale japanische Familie. Wir haben das im Fernsehen gesehen. Und da haben wir gesehen, dass diese Familie einen Kühlschrank hatte, eine Waschmaschine und sogar ein Auto. Wir waren völlig überrascht – eine einfache Familie mit einem eigenen Auto. Wir haben uns das angeschaut 14 und gedacht – Wow, ist Japan reich. Da hatte ich plötzlich das Gefühl, betrogen worden zu sein. Mao hatte mich betrogen. Meine ganze Kindheit und Jugend hindurch. Sprecher 1 In der Manufaktur für Mao-Statuen steht ein Mann an einem großen Behälter mit flüssigem Gips. O-Ton Cheng Sprecher 6 Wir haben keine genaue Statistik, wie viele Statuen wir im Monat herstellen. Aber was ich sagen kann, ist, dass alle unsere Statuen sofort weggehen. Meist ist die ganze Produktion bereits verkauft wenn sie fertiggestellt ist. Meist produzieren wir auf Vorbestellung. Sprecher 1 Die Büsten gehen ins ganze Land. Sie werden von Firmen, Behörden und von Souvenirhändlern bestellt. Auch die Verkäufer im Zentrum des Ortes decken sich bei Ou Xinhe und ihrem Neffen mit Ware ein. Ou Xinhe hat vor 15 Jahren mit der Produktion dieser Statuen angefangen. Cheng hat in Peking Sport studiert und dann als Übersetzer gearbeitet bevor er in das Familiengeschäft einstieg. Er ist ein Kind der achtziger. Aufgewachsen in den konsumbegeisterten Jahren des Wirtschaftswachstums. Maos Sozialismus hat er nie erlebt. O-Ton Cheng Sprecher 6 Mao war ein großer Mann, ein Volksheld, der in unserem Herzen groß und heilig ist. Er hat Fehler gemacht, ja das hat er. Aber seine Verdienste überwiegen seine Fehler. Sprecher 1 Chongqing. Vor dem Rotgardisten-Friedhof. Zu dem älteren Paar am Friedhofstor hat sich ein Mann mit seinem Sohn gesellt. Ein wenig abseits erklärt der Mann dem Zehnjährigen mit leiser Stimme etwas und deutet auf die Grabsteine. Ein Greis kommt die Stufen zum Tor hinauf. Als er uns sieht, hebt er beide Daumen hoch und spricht aus seinem zahnlosem Mund. 15 O-Ton Alter Sprecher 5 Der Vorsitzende Mao und seine Roten Garden. Das waren große Zeiten. Auf der ganzen Welt gibt es keinen größeren als Mao Tse-tung. Alles, was sie damals getan haben, haben sie für uns arme Leute und Arbeiter gemacht. Sprecher 1 Sofort entspinnt sich eine hitzige Diskussion. Der Mann und sein Sohn gehen. Das Ehepaar stellt dem Alten zaghaft ein paar Fragen. Zheng widerspricht dem Alten lautstark. O-Ton Zheng Sprecher 3 Erst die Reformen von Deng Xiaoping haben doch China zu dem gemacht, was es heute ist. O-Ton Alter Sprecher 5 Was? Deng Xiaoping – mit dem hat doch erst diese ganze Korruption angefangen. Mao war der einzige, der sich um das Volk gekümmert hat. Sprecher 1 China unmittelbar nach Maos Tod 1976. Deng Xiaoping hat ein heruntergewirtschaftetes und erschöpftes Land übernommen. Er beginnt die Wirtschaft zu reformieren. Zunächst wird den Bauern erlaubt, ihre Ernte selbst zu verkaufen. Später entstehen Industriezonen, wo ausländische Investoren für Wirtschaftswachstum sorgen sollen. Schnell beginnt die Wirtschaft zu florieren. Lebensmittel sind nicht mehr rationiert. Der wirtschaftliche Aufstieg nimmt seinen Anfang. Modernisierung ist das Schlagwort dieser Jahre. Han Deqiang, der Anführer der Linken, wechselte1979 von der Grundschule in die Mittelschule. O-Ton Han Sprecher 4 Ich bemerkte plötzlich, dass sich etwas geändert hatte. In der Grundschule gab es jede Menge Aktivitäten – alten Leuten helfen und so weiter. Es ging 16 immer darum, wie Du dich moralisch verhältst. Doch in der Mittelschule war es anders. Das Lernen war plötzlich das Wichtigste. Und plötzlich hatte ich den Eindruck: Die Zeiten haben sich geändert. O-Ton Yu Hua Sprecher 2 Unter Mao war sehr viel Literatur verboten. Und als Mao tot war und Deng Xiaoping an der Macht war, tauchte all diese Literatur wieder auf. Die Leute konnten diskutieren, konnten verschiedene Standpunkte haben. Und wenn Du das erlebst, dann hast Du plötzlich das Gefühl, dein ganzes bisheriges Leben hat sich in einem Käfig abgespielt. O-Ton Han Sprecher 4 In den siebziger Jahren habe ich gelernt, man soll dem Volk dienen und sich für die Gesellschaft aufopfern. Und jetzt sollte man plötzlich nach vorne schauen und lernen. Das hat mich deprimiert. Beide Standpunkte wurden ja von der Partei vertreten. Ich kam ins Grübeln. Und mir war klar, wenn die Wirtschaftsreformen richtig sind, kann ja nur falsch gewesen sein, was vorher war. Und wenn das, was wir vorher gelernt haben, richtig war, dann muss die Reformpolitik falsch sein. Sprecher 1 Han Deqiang, 47 Jahre alt, ist heute einer der einflussreichsten linken Intellektuellen Chinas. Yu Hua, der Schriftsteller, 56 Jahre alt, ist einer der bekanntesten Liberalen des Landes. Gegenpole in der chinesischen Öffentlichkeit. O-Ton Yu Hua Sprecher 2 In den achtziger Jahren existierte die Bewegung der Gedankenbefreiung. Intellektuelle, Künstler begannen Mao zu kritisieren. Nicht nur ich, auch viele meiner Freunde betrachteten Mao als einen Diktator, einen Tyrannen. In unserer Generation herrschte Konsens darüber, wie Mao einzuordnen ist. Die Abscheu gegenüber Mao, die Kritik an ihm war damals Mainstream. 17 Sprecher 1 Für die junge Generation war Mao Tse-tung Geschichte. Yu Hua machte sich mit experimentellen Texten einen ersten Namen in Literatenkreisen. Han Deqiang, der Junge vom Land, den die Zeitenwende verunsichert hatte, kam Mitte der achtziger Jahre nach Peking, um zu studieren. O-Ton Han Deqiang Sprecher 4 Die ganze Uni hat damals Freud, Nietzsche, Sartre gelesen. Auch wir Studenten an der technischen Hochschule haben uns mehr für Literatur und Philosophie interessiert als für Technik. Wir haben zwar auch das Kapital gelesen, aber vor allem hat uns alles interessiert, was neu übersetzt aus dem Westen kam. Die Ideen brandeten wie die Gezeiten im Meer auf und ab. Es gab Demonstrationen, hitzige Diskussionen, bis sie im Jahr 1989 ihren Höhepunkt erreichten. Sprecher 1 Im Frühjahr 1989 demonstrierten Studenten auf dem Tian'anmen-Platz in Peking für Demokratie und Meinungsfreiheit. Über Wochen besetzten sie den Platz, viele Bürger der Stadt schlossen sich ihnen an. Auch in anderen Städten gab es Proteste. Es war die erste Massenbewegung in der Volksrepublik, die nicht von oben initiiert wurde – und bis heute die Einzige. O-Ton Yu Hua Sprecher 2 Natürlich habe ich 1989 an den Demonstrationen auf dem Tian‘anmen-Platz teilgenommen. Zweimal brachten wir mehr als eine Million Teilnehmer auf die Straße. Mit den Demonstrationen, die ich als Kind während der Kulturrevolution in unserer Kleinstadt gesehen hatte, war das kein Vergleich. O-Ton Han Sprecher 4 Ich habe auch an den Protesten teilgenommen, ich habe mit Begeisterung teilgenommen. Aber ich hatte trotzdem Zweifel an der Stoßrichtung der Demonstrationen. Die meisten Studenten hofften auf eine Liberalisierung, auf marktwirtschaftliche Reformen. Ich aber glaubte an den Sozialismus, an die Kollektivierung. Im Innern habe ich mich in dieser Zeit stark verändert. 18 O-Ton Yu Hua Sprecher 2 Als die Studenten niedergeschossen wurden, war ich im Zug. Da kam eine Durchsage: In Peking wurde ein konterrevolutionärer Aufstand niedergeschlagen. Da wusste ich, auf dem Tian‘anmen-Platz ist etwas passiert. Im Oktober kam ich nochmal auf das Gelände der Peking-Universität. Aus den Fenstern der Studentenwohnheime hörte man nur noch zwei Geräusche – das Murmeln englischer Vokabeln und das Klackern von Mahjongg-Steinen. Die englischen Vokabeln kamen von denen, die das Land verlassen wollten, und sich um einen Studienplatz im Ausland bemühten. Die-MahjonggGeräusche von denen, die sich langweilten. Jeder Revolutionsgeist war verflogen. Der Campus vor der Niederschlagung der Proteste und danach – es war als ob hundert Jahre dazwischen gelegen hätten. O-Ton Han Deqiang Sprecher 4 Die Art und Weise, wie sie damals die Proteste beendet haben, dass sie auf die Studenten geschossen haben, das fand ich nicht richtig. Zumindest damals war das meine Meinung. Heute denke ich, es gab gute Gründe dafür. Sprecher 1 Han, der sozialistische Nostalgiker und Yu Hua, der liberale Realist – Heute ist es kaum vorstellbar, dass sie einmal an den gleichen Demonstrationen teilgenommen haben – so wie sich damals kaum jemand vorstellen konnte, dass die Begeisterung für Mao irgendwann wieder neuen Schwung erhalten könnte. O-Ton Yu Hua Sprecher 2 Ich denke, der Tian‘anmen-Zwischenfall war der Scheidemoment. Damals sind die Hoffnungen der Menschen auf Demokratie und Freiheit zerstört worden. Die Leute haben sich in den neunziger Jahren aufs Geld verdienen verlegt. Das ging gut bis 2008, bis zu den olympischen Spielen in Peking und der Weltfinanzkrise, die kurz danach folgte. Als die Wirtschaft in Schwierigkeiten geriet, haben die Menschen auf einmal angefangen, all die Ungerechtigkeiten zu bemerken. All die Probleme in der Gesellschaft sind auf einmal zutage getreten. Und da haben die Leute Mao wieder ausgekramt. Und sie haben sich gesagt – Unter Mao gab es das alles nicht. 19 Sprecher 1 Das offizielle China nutzt und bedient die Nostalgie nach dem Diktator. Parteichef Xi Jinping lässt Feierstunden für den Diktator abhalten und pilgert ebenso wie Millionen roter Touristen zu den Wirkstätten Maos. Für viel Aufmerksamkeit sorgte 2015 insbesondere ein Besuch Xis in dem Dorf, in das er unter Mao zwangsverschickt wurde, um von den Bauern das echte Leben zu erlernen. O-Ton Xi Jinping Sprecher 5 Sieben Jahre habe ich hier verbracht. Von 1969 bis 1975. Aber als ich gegangen bin, da bin ich als Mensch gegangen, mein Herz aber ist hiergeblieben. Sprecher 1 In der Erinnerungsliteratur der achtziger Jahre schildern Autoren diese Zeit als Zeit der Entbehrung, als Akt staatlicher Willkür, als Zeit grausamer Konflikte zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und den Zugereisten. Bei Xi Jinping hingegen wird diese Erfahrung zu einer Schule des Lebens, die sich nahtlos in das Bild des weisen und gütigen Herrschers fügt, das die staatliche Propaganda von ihm zeichnet. Shaoshan. Das komplette Sortiment von Frau Ous Mao-Statuen kann man in einem Laden im Ort bewundern. Nicht weit von hier liegt das Geburtshaus des Vorsitzenden. Kunden sind keine im Geschäft, dafür deuten mehrere lebensgroße Bronze-Maos mit ausgestrecktem Arm in eine glorreiche Zukunft. Goldlackierte gipserne Vorsitzende halten Schriftrollen in den Händen oder haben die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Eine Verkäuferin kommt auf mich zu. O-Ton Chen Xiacai Sprecherin 2 Er ist tief in unserem Herzen. Das ganze Land verehrt ihn. Jeden Tag kommen Besucher aus dem Ausland und aus dem ganzen Land hierher, an diesen heiligen Ort, um ihn zu bewundern und seine Geburtsstätte zu sehen. 20 Sprecher 1 Ich frage die Verkäuferin wie viel Geld man ausgeben muss, um eine lebensgroße Bronze-Statue zu kaufen. Sie korrigiert mich streng. O-Ton Verkäuferin Chen Xiacai Sprecherin 2 Wir sagen hier nicht, eine Mao-Statue kaufen. Wir sagen hier, eine MaoStatue einladen. Sie laden den Vorsitzenden zu sich ein, damit er Gesundheit, Glück und Frieden bringt. Das alles kann man nicht einfach kaufen, wir müssen ihn bitten, zu uns zu kommen. Sprecher 1 Den Preis verrät sie dann aber doch. 4000 Yuan kostet die Bitte an den Bronzevorsitzenden, einen zu Hause zu besuchen – etwas mehr als 500 Euro. Für Frau Ou, die sich im Hinterzimmer des Ladens auf ein beigefarbenes Kunstledersofa gesetzt hat, hat sich das Bitten ausgezahlt. In den neunziger Jahren zog sie noch als Wanderarbeiterin übers Land, jobbte als Hilfskraft in Kantinen. Jetzt deutet sie stolz in den Raum. O-Ton Ou Xinhe Sprecherin 1 Wir haben ein Haus mit mehreren hundert Quadratmetern gebaut, wir haben Geld und wir können uns auch ein schönes Auto leisten, einen BMW. Das alles verdanken wir dem großen Vorsitzenden. Weil wir hier so stolz auf ihn sind und sein Andenken hochhalten, hilft er uns von da oben. Sprecher 1 Zheng, der Leichenoffizier kam 1983 aus dem Gefängnis frei – sieben Jahre nach dem Tod Maos. O-Ton Zheng Zhisheng Sprecher 3 Die Kulturrevolution hat mich zum Mörder gemacht. Dafür habe ich gebüßt. Nach der Haftzeit habe ich angefangen, in der Gefängnisverwaltung zu arbeiten. Bis zu meiner Pensionierung war ich dort beschäftigt. Auch mein 21 Sohn ist Polizist geworden und meine Schwiegertochter auch. Und mein Sohn ist sogar Parteimitglied. Sprecher 1 Den Glauben an den chinesischen Staat hat Zheng nie verloren. Für die Sicherheitsbehörden zu arbeiten war sein Weg zurück in die Gesellschaft. Auch sein Urteil gegenüber dem Mann, in dessen Namen er sein Verbrechen beging, fällt bis heute milde aus. O-Ton Zheng Zhisheng Sprecher 3 Mao hatte die alleinige Macht, niemand hat sich getraut, ihm zu widersprechen. Das war sicherlich ein Fehler. Aber ich hasse ihn trotzdem nicht. In meinem Herzen ist er weiter ein großer Mensch. All seine Fehler hat er begangen, um das Volk voranzubringen. Ohne Maos Fehler wären auch später die Reformen Deng Xiaopings nicht möglich gewesen. Sprecher 1 Der Diktator, der das Land gegründet hat und dann bedauerlicherweise auch einige Fehler begangen hat. Das war lange die offizielle Sprachregelung zu Mao. Siebzig dreißig war die Formel, die Deng Xiaoping vorgab – zu siebzig Prozent gut, zu dreißig Prozent schlecht. Die Partei versuchte den Spagat: Sie verehrte Mao als Staatsgründer ohne dem Personenkult zu viel Raum zu lassen. Doch in den neunziger Jahren schlich sich die unbedingte Verehrung wieder in die Gesellschaft zurück. 2003 trat Han Deqiang, der Professor, bei einer Konferenz zu Karl Marx in Havana auf. Mit damals äußerst provokanten Thesen. Zitator Sprecher 4: Das Auftauchen einer neuen Ausbeuterklasse und die Rückkehr des Kapitalismus bringen eine große Zahl alter Kader dazu ihre Position zu überdenken. Selbst solche, die während der Kulturrevolution kritisiert und attackiert wurden, haben heute eingesehen, dass die Kulturrevolution eine Notwendigkeit war. O-Ton Han Deqiang Sprecher 4 Damals gab es nur wenige, die meine Position teilten. Aber heute werden es mehr und mehr. 22 Sprecher 1 Han ist heute Wortführer einer Gruppe von Neo-Maoisten. Noch vor wenigen Jahren sind Leute wie er als Spinner abgetan worden. Heute erreicht er eine wachsende Zahl vor allem junger Menschen, die lange nach der Mao-Zeit geboren wurden. O-Ton Han Deqiang Sprecher 4 Für mich ist Mao ähnlich bedeutend wie Jesus. Sein Gedanke, dem Volk zu dienen ist der Grundgedanke jeder Religion. Budda hat das gelehrt. Mohammed hat das gelehrt. Da gibt es keinen Unterschied. Aber wenn wir betrachten, wie diese Idee umgesetzt wurde, dann ist Mao besser gewesen als diese Religionsstifter. Mohammed war ein Herrscher, aber er hat damals seine Macht nicht sehr weit ausdehnen können. Jesus hatte gar keine Macht. Er hatte nur seine zwölf Jünger. Aber Mao hat seine Ideen im ganzen Land durchgesetzt. Sprecher 1 Han ist ein Radikaler – gerade unter intellektuellen Chinesen. Doch allein ist er mit seinen Thesen schon lange nicht mehr. In Frau Ous Fabrik führt mich der Neffe zum Schluss noch in eine kleine Werkstatt ganz hinten im Hof. Hier entstehen die Muster für neue Statuen. Gerade arbeitet eine Angestellte an einem Wachsmodell für neue Gipsfiguren. Es ist nicht Mao. O-Ton Cheng Qingshan Sprecher 6 Das ist Guangong, kennen Sie den? Auch eine historische Figur, die zum Gott geworden ist. Die beiden haben viel gemeinsam. Beide schützen vor Unglück und Katastrophen und beide bringen Wohlstand und Glück. Sprecher 1 Guangong war ein Feldherr im zweiten Jahrhundert. In der traditionellen Volksreligion ist er der Gott des Krieges und des Wohlstands. Die Zeit ist reif, haben Frau Ou und ihr Neffe beschlossen, dem Vorsitzenden Mao eine weitere Gottheit zur Seite zu stellen. 23
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