Unter die beliebtesten Mittel, womit man dem Volke das

1876
Unter die beliebtesten Mittel, womit man dem Volke
das gegenwärtige politische System und insbesondere dessen militärische Grundlage mundgerecht zu machen sucht,
gehört die Darlegung der Notwendigkeit
einer ungeheuren militärischen Macht, einer Notwendigkeit, der
gegenüber alle anderen Bedenken schweigen und diedrükkendsten Lasten geduldig getragen werden müßten.
Die Gefahr eines großen Krieges, das ist das, Gespenst,
das beständig dem erschreckten Volke vorAugen gehalten
wird und bis heute bei der Mehrzahl seine Wirkung nicht
verfehlt hat. Das Volk hat sich infolgedessen allmählich in
den Gedanken hineingelebt, daß der ganze Zweck des
Staates nur der sei, es vor räuberischen Überfällen seiner
lüsternen Nachbarn zu schützen, und daß diese Nachbarn
keine anderen Gedanken hätten, als ihm sein Eigentum zu
nehmen und es zu "unterdrücken. Daß das Nachbarvolk
gerade so gut ein Interesse am Friedenhalten habe wie es
selbst, daran denkt es ni.cht und ebensowenig daran, daß
das Nachbarvolk kein Vertrauen fassen kann, wenn es
sieht, daß alles Sinnen und Trachten des Nachbarstaates
nur auf die Vervollkommnung der Mordwerkzeuge gerichtet ist und der höchste Ruhm darin gesucht wird, die
weittragendsten Kanonen und die am schnellsten schießenden Gewehre zu besitzen.
Den Glauben an diesen Zweck des Staates hat die herrschende Klasse in allen großen Staaten Europas mit merkwürdiger Übereinstimmung den von ihnen geleiteten Völkern beizubringen gewußt und damit eine neue Stütze für
ihre Herrschaft gewonnen. Ein Volk, das in beständiger
Angst lebt, von seinen Nachbarn überfallen, zu werden,
wird seine Haupttätigkeit und Aufmerksamkeit diesen zuwenden und damit von der Pflege seiner inneren Angelegenheiten abgezogen oder in Behandlung derselben übervorsichtig und ängstlich werden,
Das ist auch die Absicht, welche "kluge" Regierungen
und herrschende Klassen befolgen und die ihnen bis heute
gelungen ist. In keinem Lande besser als in Deutschland.
Dieser Glaube hat es dahin gebracht, daß Deutschland die
erste Militärrnacht Europas ist, daß alle anderen Mächte
es dieser Macht nachzutun versuchen, daß dadurch Europa
in Waffen starrt und, da die Völker rasch müde würden,
so enorme Lasten zu tragen, wenn sie ihnen zwecklos zu
erscheinen anfingen, daß jedes Jahr wenigstens einmal ein
drohendes Kriegsgerücht
entstehen und gelegentlich auch
eine große Menschenschlächterei
beginnen muß. Die riesigen Armeen und die riesigen Militärbudgets vermindern
nicht die Kriege und die Kriegsgefahr - diese Lehre,
von der herrschenden Klasse gepredigt, ist eine grobe
Lüge und Entstellung der Wahrheit -, sondern sie vermehren sie.
Die Kriege und die Kriegsgejahr
sind in demselben
Maße in Europa gewachsen, wie die Armeen zunahmen.
Je größer die Heere, je größer die Kriegsgefahr
und je
häufiger die Kriege.