Solides de la Tierra - Klänge der Welt

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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature
Ortserkundungen
Solides de la Tierra - Klänge der Welt
Das Kinderorchester in Areguá
Autorin: Gaby Weber
Regie: Susanne Krings
Redaktion: Karin Beindorff
Produktion: DLF
Erstsendung: Dienstag, 09.08.2016 , 19.15 Uhr
Erzählerin: Ursula Illert
Übersetzer 1 : Szaran Jochen Kolenda
Übersetzer 2: Maqueda, William
Hans-Gerd Kilbinger
Übersetzerin 1 (Jugendl.): Barbara
Maike Jüttendonk
Übersetzer 3 (Jugendl.): Jose, Danni, David, Lucio
Robert Oschatz
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©
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Atmo William, Probe
Erzählerin:
Morgen ist der große Auftritt im Festsaal der Kooperative, da muss alles klappen.
Heute probt das Kinderorchester von Areguá, einer Kleinstadt in Paraguay. Es gehört
zu „Sonidos de la Tierra“ – Klänge der Welt, einem über das ganze Land verstreuten
Netzwerk. Nachbarn und Freunde sind eingeladen, und Luis Szarán, weltbekannter
Komponist und Dirigent, Gründer der „Klänge der Welt“, wird aus der Hauptstadt
Asunción anreisen und dirigieren.
Atmo William, Probe
Ansage:
Sonidos de la Tierra - Klänge der Welt
Das Kinderorchester in Areguá
Ein Feature von Gaby Weber
Atmo Auto
Erzählerin :
Areguá ist die zweitälteste Stadt Paraguays, 1538 gegründet – also wenige Jahre
nachdem Kolumbus die „Neue Welt“ entdeckt und die spanische Krone sie in
Beschlag genommen hat. Die Kleinstadt liegt am Ufer des Sees, 30 Kilometer östlich
von Asunción. Los ist hier nicht viel, die meisten Bewohner pendeln jeden Tag in die
Hauptstadt, kommen nur zum Schlafen her. Wer hier bleibt, schlägt sich mit ErdbeerAnbau und der traditionellen Töpferei durch. Jugendliche sitzen in Gruppen am
Straßenrand und trinken Bier, abends meist auch härtere Sachen. Die Zukunft ist
woanders, wer kann, zieht weg.
William, der junge Musiklehrer, guckt auf die Uhr, wird ungeduldig. Verkrampft sitzen
seine acht Schüler vor ihren Notenständern, barfuß, ihre Schuhe mussten sie an der
Haustür ausziehen. Zwischen acht und 17 Jahren sind sie und irgendwie scheint
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heute gar nichts zu klappen. Wie oft haben sie schon dieses Stück geübt? Doch
immer noch spielen sie zu langsam, zu unsicher. Aber morgen ist das große Konzert!
O-Ton Keller:
“Die Regel ist so, dass wir 2 mal die Woche Probe haben, jetzt haben wir es auf
Freitag und Samstag verlegt, in der Hoffnung, dass sie am Samstag und das ist auch
real, dass sie weniger müde sind, wenn sie am Abend kommen. Nach dem ganzen
Schultag waren sie oft sehr müde, und sie haben jetzt zweimal Probe. Also vier
Stunden - das ist schon viel - und dann sollen sie noch üben. Also das ist eine
Leistung von einem Jugendlichen, der das macht.”
Erzählerin:
Die Schweizerin Verena Maria Keller hat das Kinderorchester in Areguá gegründet.
2006 war sie nach Paraguay ausgewandert. Damals war sie 64 Jahre alt und hatte
genug von der Schweiz, sagt sie, wo alles so geregelt ist.
O-Ton Keller:
“Hab auch als Musiktherapeutin 12 Jahre in einer Psychiatrischen Klinik,
Universitätsklinik, gearbeitet. Man hat mir eigentlich alle Patienten ans Herz gelegt,
wo man nicht mehr weiter wusste.”
Erzählerin:
Sie wollte noch etwas Sinnvolles in ihrem Leben tun. Mit ihrer Schweizer Grundrente
kommt sie in Paraguay einigermaßen über die Runden. Und seitdem therapiert sie,
im Herzen Paraguays, keine europäischen Kranken mehr, sondern holt Kinder aus
schwierigen sozialen Verhältnissen in ihr Orchester.
O-Ton Keller:
“Ich versuche, ihnen Selbstvertrauen zu geben, eigene Verantwortung zu lernen,
pünktlich zu kommen, das ist sowieso auch eine Geschichte… überhaupt zu
erscheinen, und auch so, dass wir dann auch gemeinsam ein paar Takte spielen
können und nicht, dass die ersten schon gehen, wenn die anderen erst kommen.
Das ist alles ein Prozess. Dass die Leute mit mir zusammen das so mitmachen, das
ist schon ein ganz großer Erfolg”.
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Erzählerin:
Schon wenige Monate nach ihrer Ankunft in Paraguay lernte sie Luis Szarán kennen
und war von seinem Projekt – Klänge der Welt - fasziniert.
O-Ton Keller:
“Dann bin ich mit Luis Szarans Geschichte herumgefahren, in den hintersten Winkeln
von Paraguay, hab den Enthusiasmus gesehen, aber auch das HaHaHa, Musik
machen, schnell spielen. Hart. Und mein Wunsch ist und bleibt, dass es genug Lärm
hat auf der Welt, dass es sehr viel Lärm hat auf der Welt und dass wir, dass es
unsere Aufgabe ist, wieder in den Fluss zu kommen. Und somit ist mein
Wunschtraum und meine Vision für unser Orchester, dass wir so spielen, dass sich
die Menschen, die uns zuhören, sich aufgebaut fühlen, dass sie sich wohl fühlen und
beschwingt weggehen”.
Erzählerin:
Heute besteht das Projekt „Klänge der Welt“ aus über zweihundert Musikschulen,
Orchestern und Chören, viele in den Armenvierteln, dort, wo die Leute ums
Überleben kämpfen und eine Geige ein unerreichbarer Luxusgegenstand ist. Oft
basteln sie ihre Instrumente selbst, aus Konservendosen, Plastikflaschen und
Abfällen. Auch in Gefängnissen geht Luis Szarán ein und aus. Gerade haben einige
Häftlinge mit ihm zusammen eine CD herausgebracht. Auf sie ist Szarán besonders
stolz:
O-Ton Szaran:
“Es un programa de integración …
Übersetzer 1
Unser Programm heißt: soziale Integration über Musik. Wir haben, im ganzen Land
verteilt, ein Netz von Musikschulen, deren Besuch umsonst ist.
Erzählerin:
Szarán verdient seinen Lebensunterhalt als Direktor des Symphonischen Orchesters
von Asunción. Doch seine große Leidenschaft gilt „Sonidos de la Tierra“, das er vor
14 Jahren gegründet hat. Die Jesuitenmission hat ihn dabei unterstützt. Heute ist
Sonidos de la Tierra mit 17.000 Jugendlichen die größte soziale Bewegung
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Paraguays. “Ein Jugendlicher, der tagsüber Mozart interpretiert, wirft nachts keine
Scheiben ein”, sagt Szarán. Die Reichen interpretieren das so, dass er die Kinder
von der Straße holt, wo die Rebellion gegen die alltägliche Armut und
Ungerechtigkeit lauert. Banken und Großunternehmen unterstützen sein Projekt, und
die Stiftung von Klaus Schwab, Gründer und Präsident des Weltwirtschaftsforums in
Davos, kürte ihn zum „sozialen Unternehmer“ des Jahres 2014. Aber auch Linke
schätzen Szaráns soziales Engagement, denn in ihren Augen wird jemand, der
tagsüber Mozart interpretiert, nicht drogenabhängig oder ein nur auf das eigene
Konto fixierter Kapitalistenknecht.
Atmo
Erzählerin:
Die Hauptstraße Areguás ist eine der wenigen asphaltierten Straßen des Städtchens.
Hier werden Tonkrüge in allen Größen feilgeboten, daneben Statuen der Heiligen
Jungfrau und Gartenzwerge. Auf dem Hügel und mit Blick auf den See liegt die
Kirche und hinter ihr finden sich idyllische Gassen aus der Gründerzeit. Juan
Maqueda ist so etwas wie der Chronist Areguás. Statt ihn anzurufen, besucht ihn
Verena Keller in seinem Töpferladen, gleich um die Ecke. Die Fenster stehen offen,
auf dem Bürgersteig große Vasen, Töpfe und Marienfiguren.
O-Ton Maqueda:
“Yo tengo una alfararia de trad familiar …
Übersetzer 2:
Meine Töpferwerkstatt war immer in Familienbesitz, seit 97 Jahren. Wir stammen
vom ersten aus dem spanischen Valencia eingewanderten Ingenieur Ricardo Pérez
ab, er wurde in Spanien politisch verfolgt. Er brachte die moderne Töpferei nach
Areguá. Das war eine andere Technologie als die bis dahin bekannte indianische
Töpferei.
Erzählerin:
Juan Maqueda sammelt Zeitungsartikel über die Stadt und ihre Umgebung. Er will
Touristen herlocken, aber Paraguay hat mit seinem schwülen Klima, ohne Meer und
Strand, wenig zu bieten. Und selbst die Wochenendurlauber aus der Stadt kommen
schon lange nicht mehr nach Areguá. Früher gingen sie im See schwimmen, aber
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das Gewässer ist umgekippt. Der See ist nicht nur schmutzig und stinkt, es ist
regelrecht riskant, auch nur einen Zeh hineinzustecken. Und bisher haben die
Behörden außer ein paar wertlosen Ankündigungen nichts unternommen. Korruption
gehört in Paraguay zum Alltag. Maqueda studiert trotzdem in Abendkursen
Tourismus. Der Ort habe Geschichte, sagt er, Kolonialbauten und den See. Ja, der
See sei verseucht, aber immerhin ein See.
Atmo
Musik: Ensayo
Erzählerin:
Das Kinderorchester probt La Bamba, das berühmte mexikanische Volkslied. Mit ihm
wollen sie morgen das Konzert beginnen. Es klingt noch ziemlich holprig. Und das
liegt nicht etwa an selbstgebastelten Instrumenten. Ihre Schüler spielen mit Geige,
Bratsche und Cello, da ist Verena Keller traditionell. Einige Instrumente brachte sie
aus der Schweiz mit, andere kaufte sie in Paraguay. Meist „made in China“. Diese
Instrumente verleiht sie an ihre Schüler, die sie aber auch kaufen können, um zu
Hause zu üben. Zwei haben monatelang gespart, um eine Geige zu erwerben. Die
hüten sie nun in ihren Hütten am Stadtrand, wie ein Kleinod.
O-Ton Keller:
“Also ich bezahle den Dirigenten, der auch die Arreglamientos, also die Sätze,
schreibt und viele von ihm spielen wir, ich bezahl den Geigenlehrer, den Cellolehrer.
Und jetzt muss ich auch Kontrabassstunden bezahlen, weil der andere, der hatte ein
Stipendium gehabt und hat in Sonidos gelernt, ja da kommen Kosten zusammen”.
Erzählerin:
Ihre Möbel hat sie aus der Schweiz mitgebracht, ebenso die dicken Teppiche, die hier
in den Subtropen etwas fehl am Platze wirken. Aber sie schlucken den Lärm und
sorgen für guten Klang. Ihren Nachnamen kennt kaum jemand, hier sie ist einfach
„Verena“.
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O-Ton Keller:
“Ich bin am Anfang in das Elendsquartier gegangen und hab gefragt, wo soll ich
meine Jugendlichen rekrutieren? Und da bin ich nach Mercedes raufgegangen, da
wo die Schule ist, wo viele Kinder sind, wo die Eltern sehr arm sind, die sich nichts
leisten können. Die haben ja die Schuluniformen, also das sieht man nicht an den
Kleidern, wie arm sie sind. Da sind zwei Zimmer und da wohnen 5 oder 6 Leute, und
die Küche ist im Freien und das Badezimmer ist auch im Freien.”
Erzählerin:
Über ihre Probleme zu Hause reden die Kinder nicht, und Verena fragt auch nicht
danach. Mit der Zeit erfährt sie ohnehin, wie es im Leben dieser jungen Menschen
zugeht.
O-Ton Keller:
“Missbrauch ist beinahe in jeder Familie. Das ist normal, dass es so ist”.
Atmo Verena mit Kindern am Tisch, Reden.
Erzählerin:
Nach zwei Stunden Probe sind die Kinder müde, ihr Magen knurrt. Verena hat auf
ihrer Terrasse den Tisch gedeckt: ein großer Korb gefüllt mit Ananas,
selbstgepressten Fruchtsäften, Käse und eigenem Brot.
Im Garten steht ein Mango-Baum und unter ihm liegen zahllose überreife Früchte.
Aber nur Verena macht aus ihnen Saft. Wer es sich leisten kann trinkt Cola. Es ist
früher Nachmittag, fast 35 Grad im Schatten, für die Jahreszeit noch kühl. Über der
Karaffe mit Eiswasser liegt ein Netz, um Moskitos und anderes Getier fernzuhalten.
Ein Gürteltier zieht vorbei, es lebt im hinteren Teil des Gartens, am Gästehäuschen.
O-Ton Keller:
Wir haben auch so einen Powerpoint über Coca Cola, was mit dem Körper passiert,
was mit dem Essen passiert, ich zeige ihnen, ich bin selber vegetarisch, und ich
zeige ihnen, warum, wie ich lebe”.
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Erzählerin:
Gesunde Ernährung ist in Paraguay kein Thema, schon gar nicht bei den ärmeren
Gesellschaftsschichten - wenn überhaupt nur etwas zu essen da ist.
O-Ton Keller:
“Ich bin in vielen Häusern gewesen, ich habe alle zu Hause besucht und alles
gesehen, wie sie leben. Und ich fange erst jetzt langsam an zu verstehen, wie sie
leben, weil es ist wirklich eine andere Welt. Und sie zeigen auch nicht gerne, wo sie
Schwächen haben. Und wenn man da einfach so hineinkommt. Sie leben, dass viele
wissen nicht, was sie essen am nächsten Tag, sie kaufen sich zwar Gaseosas und
haben Orangen am Boden – Sachen, die mir dann wirklich auch wieder wehtun.”
Atmo
Erzählerin:
„Gaseosas“ sind industriell hergestellte Erfrischungsgetränke. Viel Zucker, Farbstoffe
und Geschmacksverstärker. Verena zeigt den Kindern und Jugendlichen, wie man
Essen zubereitet, das gut schmeckt und das gesund und billig ist. Und die Jungen
müssen in der Küche mithelfen. Auch die Gleichberechtigung ist in Paraguay bislang
kaum ein Thema: Hausarbeit ist Frauensache.
O-Ton Barbara:
“Tambien superando varios obstáculos …
Übersetzerin 1:
Ich bin dabei, meine Probleme zu lösen und ich glaube, es geht aufwärts. Mein
Leben ist kompliziert. Meine Eltern haben sich immer gestritten und leben jetzt
getrennt. Meine Mutter ist alleine zu Hause. Deshalb musste sie arbeiten gehen, um
den Lebensunterhalt für uns zu verdienen und ich musste zu Hause bleiben und auf
meine Geschwister aufpassen. Dabei war ich selbst noch ein Kind.
Erzählerin:
Bárbara hat lange braune Haare und dunkle Augen. Die 17-Jährige spielt im
Orchester Bratsche.
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O-Ton Barbara:
“Si, hay muchos problemas …
Übersetzerin 1:
Viele nehmen Drogen, vor allem Marihuana, manchmal Kokain. Das sind Jungs, die
auf der Straße leben, ohne Job, und die aus kaputten Familien kommen. Dann bieten
ihnen Freunde diesen Stoff an.
Musik Ensayo
O-Ton José:
“Ella se fue al colegio …
Übersetzer 3:
Verena kam in die Schule, in den Unterricht, und schlug vor, mit ihr Musik zu
machen. Seitdem bin ich bei ihr. Meine Schwester ist leider nicht dabei.
Erzählerin:
José ist 16 Jahre alt. Er besucht den Grundkurs der örtlichen Oberschule, abends
zwischen 6 und 8 Uhr. Tagsüber muss er, wie fast alle Kinder, den Eltern im Geschäft
helfen.
O-Ton José: “Mi abuelo trabajaba …
Übersetzer 3:
Schon mein Großvater hat mit Ton gearbeitet. Wir haben einen eigenen Ofen und die
Familie ist dort den ganzen Tag beschäftigt. Nachmittags bin ich im Orchester,
danach in der Schule. Ich will auf jeden Fall die Schule abschließen.
O-Ton Danni:
“Acá, la frutilla …
Übersetzer 3:
Die Leute hier leben von den Erdbeeren und dem Kunsthandwerk. Wir haben nur
wenig Tourismus, weil der See so schmutzig ist.
Erzählerin:
Danni ist fünfzehn.
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O-Ton Danni:
“No, yo vivo en Isla Valle …
Übersetzer 3:
Ich wohne im Inseltal, 9 Kilometer von hier entfernt. Ich habe keine direkte
Busverbindung, deshalb komme ich mit dem Fahrrad und manchmal zu Fuß. Ein
Freund von mir, der Kontrabass spielte, hat mich heute hergebracht, mein Bruder übt
hier Geige. Ich will später zum Polizeiorchester. Dann kann ich weiter Musik machen
und davon leben. Ich hoffe, dass das klappt.
O-Ton David:
“Entro en el colegio de Asuncion ….
Übersetzer 3:
Ich komme oft zu spät, weil ich in Asunción zur Schule gehe. Mein Unterricht beginnt
dort um 13 Uhr und endet um 18 Uhr, und die Fahrt von Asuncion bis Areguá dauert
zwei Stunden. Manchmal lässt man mich früher gehen, dann schaffe ich es, um
sieben pünktlich hier zu sein. Meist klappt das aber nicht, und deshalb gibt mir
Verena zusätzlich Einzel-Unterricht.
Erzählerin:
David wohnt im Nachbarort, sein Vater arbeitet nachts in einer Kneipe, seine Mutter
häkelt und verkauft ihre Decken und Strampelanzüge per Internet. Zu Verena Keller
kommt David seit drei Jahren regelmäßig, angefangen hat er auf einer Geige, jetzt
spielt er Bratsche.
O-Ton David:
“Y porque hay mucha …
Übersetzer 3:
Wir haben nur eine Buslinie und die Busse sind so alt, dass sie fast
auseinanderfallen. Sie fahren, wann sie wollen. Es gibt keine Fahrpläne, und oft sind
sie so voll, dass der Fahrer die Türen nicht schließen kann. Dann fährt er bei den
Haltestellen einfach weiter, weil niemand mehr reinpasst. Manchmal warte ich eine
Stunde. Meine Eltern haben kein Auto, und zu Fuß bräuchte ich über eine Stunde
hierher, oft nehme ich das Fahrrad. Der Nahverkehr ist eine Katastrophe.
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O-Ton Lúcio:
“Hay corrupción, mucha corrupción …
Übersetzer 3:
Hier gibt es viel Korruption, sehr viel Korruption. Wir brauchen ehrliche Menschen,
die für die Gemeinschaft arbeiten.
Erzählerin:
Dass es Korruption gibt – damit sind die Kinder aufgewachsen. Das war unter der
Diktatur so, die eigentlich 1989 zu Ende ging – also lange, bevor sie auf die Welt
kamen. Aber es blieben dieselben Leute an der Macht, mit dem, was seither
Demokratie heißt, änderte sich erst mal wenig.
Lúcio ist 16. Er weiß, was alle hier wissen: warum der See verpestet ist und warum
niemand etwas dagegen tut.
O-Ton Lúcio
Übersetzer 3:
Sie leiten alle ihre Abfälle einfach in den See, über viele kleine Zuläufe. Das tun die
Fabriken, aber auch die Leute. Vor einigen Jahren war er richtig giftig. Dann haben
sie versprochen, den See wieder sauber zu machen, Aber das war schon zu spät,
damit hätten sie vorher anfangen sollen. Da war der See schon kaputt.
Atmo
Erzählerin:
William Aguayo ist Verenas Musiklehrer der ersten Stunde. Er hat
Musikwissenschaften studiert und leitet mehrere kleine Orchester.
William wohnt im Nachbarort Caacupé und ist wie fast alle Paraguayer ein frommer
Katholik. Der kleine Ort ist jedes Jahr im Dezember das Ziel einer besonderen
Pilgerfahrt. Caacupé bedeutet in der Sprache der Guaraní “hinter dem Busch”. Die
Legende besagt, dass um das Jahr 1600 ein missionierter Guaraní-Indianer namens
José im Urwald vom heidnischen Stamm der Mbayá verfolgt wurde.
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O-Ton William:
“Según la leyenda …
Übersetzer 2:
In seiner Not legte er ein Gelübde ab: wenn er diese Gefahr überlebt, dann würde er
aus Holz eine Jungfrauen-Gestalt schnitzen. Daraufhin sei ihm die Maria erschienen
und habe ihm zugerufen „versteck dich hinter dem Yerba-Busch“. Das habe er getan,
und weil die Mbayá ihn nicht entdeckt haben, hätte er sein Versprechen erfüllt, eine
Marienfigur geschnitzt und der Kapelle gespendet.
Erzählerin:
Jahre später, erzählt die Legende weiter, hätten die Franziskaner Gott angefleht, eine
Überschwemmung zu stoppen. Und als sich das Wasser tatsächlich zurückzog, hätte
sich eine hölzerne Marienfigur aus der Flut erhoben. Der Kult der Jungfrau von
Caacupé lebt bis heute und wird jedes Jahr mächtiger. Sogar Papst Francisco hat
den Wallfahrtsort besucht.
O-Ton William:
“Las personas vienen a pie …
Übersetzer 2:
Im Dezember kommen die Leute zu Fuß aus Asunción und aus anderen Teilen des
Landes. Zwei Millionen Pilger. Das ist für sie sehr anstrengend, denn Caacupé liegt
auf einem Hügel.
Atmo Übung in Kooperative, Szaran. Gelächter.
Erzählerin:
Schon seit Wochen ist der Auftritt des Kinderorchesters von Areguá angekündigt. Die
Dorf-Kooperative hat ihren Festsaal zur Verfügung gestellt, eine eher schmucklose
Halle. Luis Szaran ist extra aus Asunción gekommen. Er selbst spielt Gitarre und
Geige, doch meist dirigiert er. Sein Vater, erzählt er, war Bauer und aus Osteuropa
eingewandert. Die Familie musste sich durchkämpfen, doch irgendwie gelang es
dem Sohn, ein Stipendium aus Italien zu ergattern. So konnte er in Sizilien Musik
studieren.
Atmo Koop
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O-Ton Szaran:
“No es un proyecto paternalista …
Übersetzer 1:
„Klänge der Welt“ ist kein paternalistisches Projekt, sondern eine private Initiative, die
von den Leuten selbst aufgebaut und verwaltet wird. Es steckt keine Regierung
dahinter, auch nicht die paraguayische. Auch wenn wir einige Spenden für unser
Büro erhalten: jedes Orchester vor Ort ist autonom. Wir sagen den Eltern, dass sie
Geld sammeln sollen, um die Flöten und Geigen zu kaufen. Wir stellen ihnen nur
unser Wissen und unsere Kontakte zur Verfügung. Deshalb dirigiere ich zwar den
öffentlichen Auftritt von Verenas Orchester, aber die Einnahmen bleiben in Areguá.
Erzählerin:
In Paraguay werden neben spanisch 17 Sprachen indigenen Ursprungs gesprochen,
die bekanntesten sind das Guaraní, das Nivaclé, und das Aché.
O-Ton Szaran:
“Trabajamos mucho en el rescate de la ….
Übersetzer 1:
Wir wollen in den ländlichen Gegenden die (indigenen) Identitäten fördern und das
bedeutet, dass wir sie in einigen Fällen wiederherstellen müssen. Bei den
Jugendlichen geht das am besten über ihre traditionelle Musik – dies ist vor allem die
paraguayische Harfe. Seit zwei Jahren haben wir ein Orchester mit 400 HarfeSpielern, das größte der Welt. Die Jesuiten hatten dieses Instrument einst nach
Paraguay gebracht, um in den Kirchen die Orgel zu ersetzen. In unserer feuchten
Hitze konnte man einfach keine Orgeln aufstellen. Die gingen sofort kaputt und
waren viel zu kompliziert zu bedienen. Eine Harfe hingegen war in den Werkstätten
der jesuitischen Reduktionen relativ einfach zu bauen, und die Ureinwohner nahmen
sie als ihr eigenes Instrument an. Und als die Jesuiten gezwungen wurden, Paraguay
zu verlassen, blieb die Harfe als Soloinstrument mit einem unglaublichen Repertoire
bei uns.
Erzählerin:
Areguá war früher der Wochenendsitz der reichen Paraguayer, erzählt der 62Jährige.
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O-Ton Szaran:
“Dicen que el clima es …
Übersetzer 1:
Das Klima am Ypacaraí-See galt als sehr gesund, denn die heißen Winde aus dem
Norden kamen nicht über die Hügel und aus dem Süden weht immer ein Lüftchen. In
San Bernadino, am anderen Ufer des Sees, ist es hingegen feucht und schwül, und
im Winter zu kalt.
Erzählerin:
Der Komponist und Dirigent lebte selbst bis 1995 in Areguá.
O-Ton Szaran:
“Pude construir una casa ….
Übersetzer 1:
Ich habe in meinem Haus, direkt am See-Ufer 15 Jahre lang gelebt. Ich baute dort
Gemüse an oder besorgte es mir von den Bauern aus der Nachbarschaft. Ich war in
diesen kleinen Ort regelrecht verliebt. Ich bin widerwillig nach Asunción
zurückgegangen, weil der See umkippte und derart stank, dass ich es nicht mehr
aushielt. Außerdem wurde der Verkehr unerträglich, denn statt 30 Minuten, wie
früher, braucht man jetzt, auch mit dem eigenen Auto, zwei Stunden bis nach
Asunción.
Erzählerin:
Szaran hatte in Areguá noch den Horror der Diktatur des deutschstämmigen Alfredo
Stroessner erlebt.
O-Ton Szaran:
“Todos los pueblos estaban controlados …
Übersetzer 1:
In den Dörfern herrschten die Caudillos (die lokalen Fürsten) der Colorado-Partei, die
das gesamte Leben kontrollierten. Hier gab es eine furchtbare Frau, die die Steuern
und sonstigen Abgaben eintrieb, die legalen wie die illegalen. Sie organisierte auch
den Viehdiebstahl. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Ihr gehörte praktisch
Areguá, zusammen mit dem Polizeichef. Das System funktionierte mit Repression,
einem Spitzelwesen und der alles kontrollierenden Partei. Hier herrschten Angst und
Schrecken. Lange Haare waren verboten, und ich erinnere mich, dass ich einmal im
Bus saß und zwei Polizisten einstiegen. Sie suchten nach Langhaarigen unter den
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Fahrgästen. Es kam öfter vor, dass sie sie herauszerrten und ihnen auf dem
Dorfplatz den Schopf abschnitten. Ich trug meine Haare immer offen, und in dem
Moment kippte mir eine Frau, die hinter mir saß, aus ihrer Thermoskanne Wasser
über den Kopf und nahm meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, so dass
man von vorne nichts sah. Sie hat mich gerettet.
Erzählerin:
Nach der Unabhängigkeit von Spanien - 1811 - stellte sich José Gaspar Rodriguez
de Francia an die Spitze des neuen Staates und ließ sich vom Kongress als
"Oberster Diktator der Republik" ausrufen. Er erklärte den Kongress für überflüssig,
entmachtete alle Widersacher, schrieb Gesetze, war Richter und zugleich Oberhaupt
der katholischen Kirche. Die Güter der ehemaligen spanischen Oberschicht ließ er
konfiszieren. Die beschlagnahmten Ländereien wurden bäuerlichen Gemeinschaften
geschenkt. Alle Konsumgüter wurden im Land hergestellt, Arbeitslosigkeit war
unbekannt, in den staatlichen Manufakturen war genug zu tun. Als Francia 1840
starb, war Paraguay das reichste Land des Kontinents - und schuldenfrei.
Seine Nachfolger, Carlos Antonio López und dessen Sohn Francisco Solano, führten
das Wirtschaftsmodell Francias fort. Aber sie verabschiedeten eine Verfassung und
öffneten die Landesgrenzen, erzählt Chronist Juan Maqueda:
O-Ton Maqueda:
“Lopez no era muy bien …
Übersetzer 2:
López war innerhalb der europäischen Diplomatie nicht gut angesehen. Man
betrachtete ihn als Affen mit viel Geld. Aber er reiste mit Unmengen Geld und Gold
nach Europa und konnte kaufen, was er wollte. Er bezahlte fünf komplette Schiffe,
wovon aber nur eins geliefert wurde. Bei diesem Aufenthalt lernte er Madame Lynch
kennen, eine Dame mit einem gewissen Raffinement und einer ausgefeilten Kultur.
Erzählerin:
Wieviele Frauen er gehabt und geschwängert hat – darüber gibt es nur vage
Schätzungen. Einigermassen “offiziell”, sagt Maqueda, seien seine drei Kinder mit
seiner Jugendfreundin Juana und weitere sieben Kinder mit eben jener Elisa Alicia
Lynch, seiner großen Liebe. Er hatte die Irin bei einem Empfang von Napoleon III. in
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Versailles kennengelernt und sich nie mehr von ihr getrennt. Sie folgte ihm nach
Paraguay und ließ sich in Areguá nieder.
O-Ton Maqueda:
“En la época del Mariscal …
Übersetzer 2:
Marschall López ließ die Eisenbahn bauen, von Asunción nach Luque, und später
kamen weitere Strecken dazu. Am Wochenende brachten die Züge die Urlauber nach
Areguá.
O-Ton Maqueda:
“Ella permitió que el …
Übersetzer 2:
Madame Lynch ließ hier die Allee anlegen. An dieser Allee liegen der Bahnhof und
die Kirche, und hier treffen sich die Verliebten.
Erzählerin:
Es war die erste Eisenbahn des Subkontinents. Und sie war, wie die eigenen
Waffenschmieden, die Krankenhäuser und das Telegraphensystem in staatlicher
Hand. Der Binnenmarkt und nicht der Export für den Weltmarkt war die Achse der
Wirtschaft. Nach einem blutigen Krieg zwischen 1865 und 1870, den die
Nachbarstaaten, der sog. Dreierbund, finanziert von britischen Banken, angezettelt
hatten, war das Land zerstört. Von den einst 1,3 Million Menschen hatten nur
221.000 das Gemetzel überstanden und nur ein Zehntel der Überlebenden waren
Männer.
Nach diesem Krieg verschwand auch die Töpferei des Landes, erzählt mir Maqueda.
O-Ton Maqueda:
“Y también encontraron restos de la alfararia …
Übersetzer 2:
Wir haben hier Tonarbeiten gefunden, die die Soldaten des Dreierbundes mitgeführt
hatten. Sie waren Teil ihrer Logistik. Diese Gegenstände und die neue Technik
blieben dann hier.
Atmo: Vogel / “Si, claro que si …”
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Erzählerin:
Am Ufer des Lago Ypacaraí verkauft Norma belegte Brötchen, Bier, Spielzeug und
Sonnencreme. Aber es kommen keine Touristen an ihren Kiosk. Aufgeregt zeigt sie
auf eine fünf Meter entfernte fette Kröte mit heraushängender Zunge. Die sei gestern
Abend aus dem offenen Abfluss-Rohr gehopst, hinter ihr eine Schlange, eine giftige.
Norma sitzt der Schrecken noch in den Gliedern, die Schlange sei in aller Ruhe,
zwischen ihren Beinen, weiter in Richtung See entwichen. Vor ein paar Tagen habe
die Stadtverwaltung Laub zusammen fegen lassen, und einer der Arbeiter sei von
einer Schlange, die sich unter den feuchten Blättern versteckt hatte, gebissen
worden.
O-Ton Maqueda:
“Está ubicado geográficamente …
Übersetzer 2:
Der See liegt in einem Tal, und alle Abwässer und der gesamte Müll der umliegenden
Städte wie San Bernadino, Luque und San Lorenzo landen darin. Über Jahrzehnte
hinweg hat das niemanden interessiert, aber mit der Zeit wurden die Beschwerden
der Anlieger immer heftiger, und Anfang der siebziger Jahre holte man einige
Techniker aus Japan. Die sagten schon damals eine Katastrophe voraus, wenn wir
nichts unternähmen. Wir haben nichts unternommen und die Katastrophe kam dann
auch.
Erzählerin:
2014 mussten die Behörden den Notstand ausrufen. Mehr unternahmen sie nicht,
und irgendwann drehte sich der Wind und blies den Gestank in eine andere
Richtung. Der See blieb zwar schmutzig, aber die Leute gingen wieder fischen und
die Kinder wieder schwimmen. Das Baden in Schwermetallen und Bakterien aller Art
führt zu Hautkrankheiten, und die führen zur deutschen Ärztin, die am See-Ufer
wohnt.
O-Ton Brauner:
“Viel Parasitosen haben wir, dann haben wir viele Diabetiker, das liegt auch an der
ungesunden Ernährung, was aber ein pädagogisches Problem ist. An den Schulen
müsste das viel mehr proklamiert werden, oder propagiert werden, dass man eben
auch Gemüse und frisches Obst isst und nicht das Obst auf den Müll kippt und sich
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Vitamintabletten in der Apotheke holt, das ist so ein Allgemein. Es gibt viele Herzund Kreislaufkrankheiten, das ist eben das Übliche, es wird sich nicht mehr viel
bewegt, es wird zunehmend Motorrad gefahren, man läuft nicht mehr und die Leute
werden dicker und dann hat man eben diese üblichen Zivilisationskrankheiten”.
Erzählerin:
Angelika Brauner kam 1995 nach Paraguay. Ihr Mann hatte in Greifswald ein
Krankenhaus geleitet, und als er in Rente ging, suchten sie sich ein wärmeres Land.
So ein Anwesen mit Palmen und tropischen Tieren am Seeufer schien zunächst
einladend. Bis es anfing zu stinken. Aber im Moment geht es, meint sie, man kann
sogar - mit einem gewissen Abstand zum Wasser - draußen auf der Terrasse sitzen.
In Paraguay stehen die staatlichen Hospitäler den Armen ohne Krankenversicherung
offen, sie sind aber schlecht ausgerüstet.
O-Ton Brauner:
“Und das sind aber zum Teil sehr schlimme Verhältnisse in den Krankenhäusern und
das ist eine reine Theorie, weil die müssten eigentlich die Medikamente umsonst
rausgeben müssten, aber sie haben sie nicht. Und wenn sie sie nicht haben, können
sie sie auch nicht rausgeben. Dann kommt mal ne Ladung Paracetamol und dann ist
mal wieder was da und dann ist wieder nichts da und dann müssen die Leute dafür
trotzdem Geld ausgeben”.
Erzählerin:
Wenn jemand ernsthaft krank wird, nimmt er eher eine Reise ins Nachbarland
Argentinien auf sich, wo er umsonst relativ gut versorgt wird.
Atmo Ensayo
Erzählerin:
Ein Drittel der Bevölkerung leistet sich eine private Versicherung oder ist so reich,
dass die Arztrechnungen bar bezahlt werden. Die kleine Mittelschicht hat sich in
lokalen nicht-gewinnorientierten Kooperativen zusammen gefunden. Angelika
Brauner ist in einer solchen Kooperative tätig, nachdem sie endlich die Anerkennung
ihrer deutschen Abschlüsse durchgeboxt hatte. Sie ist im Rentenalter und geht noch
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zwei Mal die Woche jeweils vier Stunden dorthin. Sie bekommt eine Art „Kopfgeld“:
pro Patient fünf Euro.
O-Ton Brauner
“Ein soziales System, ein solidarisches System. Da wird ein Solidarbeitrag eingezahlt
von den Mitgliedern, der sehr niedrig ist, das ist nicht mal ein Euro im Monat. Dafür
haben die Mitglieder dann das Recht auf kostenlose ärztliche Behandlung. Kriegen
auch alle möglichen Untersuchungen umsonst, eigentlich alle, aber die
lebenswichtigen, also ein Zuckertest für die Diabetiker einmal im Monat umsonst, und
bestimmte Röntgenuntersuchungen einmal umsonst, und eben die
Stuhluntersuchungen für die Kinder, das ist ja ein wichtiges Problem, und sie haben
für die fachärztliche Behandlung gewisse Diskontsätze. Und was ich auch sehr
wichtig finde, wenn man Mitglied in der Kooperative wird, dann verpflichtet man sich,
einen monatlichen Beitrag, der liegt ungefähr bei zwei Euro, auf sein Konto
einzuzahlen, also regelmäßig zu sparen. Und wenn man dieses Konto hat, kann man
auch einen Kredit aufnehmen, da braucht gar nichts so viel drauf sein, aber man
kann dann über diese Kooperative auch einen Kredit aufnehmen und muss keine
Sicherheiten nachweisen. Und das ist für viele arme Leute einfach ein soziales Netz,
was sie auffängt, weil vom Staat ist sowieso nichts zu erwarten, und bei den Banken
sind die Kreditsätze sonst wie hoch, die haben ja auch alle keine Sicherheiten und
dafür ist die Kooperative schon. Das ist eine wichtige Institution in diesem Land”.
Erzählerin:
Woran die Menschen erkranken, will ich wissen. Da seien zuerst einmal
Suchtprobleme aller Art. Es werde zu viel getrunken, und Drogen aus den Städten
würden inzwischen auch auf dem Land konsumiert. Illegale Abtreibungen seien an
der Tagesordnung, und da diese selten fachmännisch durchgeführt würden, komme
es zu Blutungen und sogar zu Todesfällen. Tuberkulose sei häufig, denn in den
Wintermonaten Juli und August fällt das Thermometer unter zehn Grad, aber fast
niemand hat hier eine Heizung.
O-Ton Brauner
“Die Kinderzahl ist sehr hoch, Bevölkerungsexplosion haben wir auch. Die Kirche
verbietet die Benutzung von Kondomen und das ist ein Problem, das kann man auch
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gar nicht so verurteilen. Wir haben vor kurzem erst den Fall gehabt, Missbrauch, ein
10-jähriges Mädchen, von ihrem Stiefvater missbraucht worden, die musste die
Schwangerschaft austragen. Da führt kein Weg vorbei, das ist hier so gesetzmäßig,
und es gibt auch keine richtige Stimmung dafür, weil unter der Decke kann man das
ja auch dann irgendwie machen, heimlich, irgendwo, und das ist dann auch gar nicht
so teuer und da spricht auch keiner drüber, das wird nicht verurteilt”.
Erzählerin:
Eine zivile Gesellschaft, die soziale Veränderungen einfordern könnte, ist bisher nicht
entstanden. Die Diktatur von Alfredo Stroessner und seiner Colorado-Partei hat zwei
Generationen geprägt, die nichts anderes kannten, als Anpassung und Repression.
Auch sein Nachfolger, ein General, war Mitglied der Colorados. 2008 tauchte dann
Fernando Lugo auf, langjähriger Bischof von San Pedro, einer Provinz im armen
Norden Paraguays. Wegen seines Einsatzes für die Armen galt er als "roter Bischof".
Zur Überraschung aller gewann er tatsächlich im April 2008 die Wahlen und wurde
Staatspräsident.
O-Ton Brauner:
Nach der Wahl von Lugo hatte ich am nächsten Tag Sprechstunde, und da kamen
viele Patienten rein und haben gesagt: ‚Und der Lugo hat gewonnen. Ich bin ja
eigentlich Colorado und ich bin ja eigentlich liberal – also von der anderen Partei,
aber diesmal hab ich den Lugo gewählt, und das fand ich so toll, endlich mal ein
anderer, die anderen Gesichter kann man schon nicht mehr sehen‘ - und so in dem
Sinne. Und der Lugo hat eine ganz hervorragende Gesundheitsministerin gehabt, die
ich auch persönlich kenne, und die hat damals eingeführt, dass in diesen staatlichen
Gesundheitseinrichtungen ausreichende Medikamente da sind. Und das hat geklappt
in der Zeit. Die hat Verträge abgeschlossen mit den Pharmaunternehmen, und hat
zum Einkaufspreis, irgendwie das ökonomisch hingekriegt, dass eben ausreichend
Medikamente da waren für die Basisversorgung. Dann wurde eine Liste gemacht,
was Basis ist, was jeder braucht, und das hat geklappt. Und da hab ich auch
Patienten verloren, muss ich sagen. Und da ich ja pro Kopf bezahlt werde, hat sich
das schon bemerkbar gemacht in der Zeit.“
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Erzählerin:
Doch Lugo hatte im Parlament keine Mehrheit. Seine Versuche, eine Bodenreform
durchzusetzen und den tausenden landlosen Bauern ein Stück Land zu übereignen,
scheiterten an der Macht der Soja-Mafia. Es gelang ihm nicht einmal, ein
Sozialversicherungssystem aufzubauen. Seine Bewegung zerfiel, einige bildeten
kleine bewaffnete Gruppen im Landesinneren. Und am Ende war es für die
Großbauern ein leichtes Spiel, Lugo noch vor dem Ablauf seiner Amtszeit in einer
Nacht- und Nebelaktion abzusetzen. Die Colorados zogen wieder in den
Regierungspalast ein. Medikamente sind nicht mehr umsonst, und der Besitzer einer
riesigen Pharmakette wurde Gesundheitsminister.
O-Ton Brauner:
“Und seitdem gibt es viele Leute, die sagen: ‚Ist doch egal, wen ich wähle, die
machen ja doch, was sie wollen. Und dann nehm ich lieber das Geld von dem und
dann wähl ich eben den oder den, ist ja egal, ob ich mich dagegen wehre oder nicht,
passiert ja nichts.‘”
Atmo Areguá Koop Stühlerücken.
Erzählerin:
Im Festsaal der Kooperative werden Campingstühle vor die Bühne gerückt. Man hat
in der Schule, in der Nachbarschaft, in der Verwandtschaft eingeladen. Verena Keller
ist nervös. Ob die Leute kommen werden? Immerhin wird Luis Szarán dirigieren.
Atmo Ensayo
O-Ton Szaran:
“Es convivencia, es disciplina …
Übersetzer 1:
Sonidos de la Tierra ist ein kollektives Unterfangen. Bei uns lernen die Kinder
Disziplin, Toleranz und die Fähigkeit, im Team zu arbeiten. Begonnen haben wir mit
18 Schulen im Landesinneren und heute haben wir 80 Orchester und Chöre. In
dieser Zeit haben sich unsere Jugendlichen verändert und ein anderes
Selbstwertgefühl entwickelt – verglichen mit ihren Gleichaltrigen, die nicht bei uns
lernen. Wir haben das ausgerechnet: Die Schulnoten unserer Schüler sind im
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Durchschnitt um 28 Prozent gestiegen. Musik hilft, die eigenen Fähigkeiten zu
entwickeln. Sie entspannt nicht nur. Mit Musik reist man um die Welt, denn wir
spielen Werke aus verschiedenen Ländern. Über Musik lernt man Geschichte, denn
jedes Werk ist in einem bestimmten historischen Zusammenhang entstanden. Die
Eltern berichten uns, dass ihre Kinder, die bei uns studieren, ernster, disziplinierter
und ordentlicher sind und im Alltag besser zurechtkommen.
Erzählerin:
Langsam treffen die ersten ein, Eltern, Geschwister und Freunde. Der Auftritt ist ein
soziales Ereignis.
Das Kinderorchester wird Händels Feuerwerksmusik spielen. Und vorher erklärt
Szarán dem Publikum, wer dieser Händel eigentlich war, und wann und wie seine
Musik entstanden ist. Und dann geht es los.
Atmo Musik: Areguá Koop Händel
Erzählerin:
Georg Friedrich Händel. Ein deutscher Komponist des europäischen Barock.
Geboren im 17. Jahrhundert, wirkte für die britische Monarchie, die sein Werk in
Auftrag gegeben hatte, uraufgeführt 1749. Es war damals als imposantes Spektakel
geplant, endete aber in einem Fiasko, und ein Teil der Bühne brannte ab. Szarán
kennt London und kann anschaulich erzählen – auch wenn für die Bauernkinder
London sehr weit weg ist. Europa? Barock? Die britische Krone?
Atmo Musik: Areguá Koop Beifall
Erzählerin:
Am Ende der erhoffte Applaus. Es ist geschafft.
Verena Keller ist mit dem Auftritt ihrer Jugendlichen zufrieden. Noch nicht perfekt,
aber es hagelte Anerkennung von allen Seiten. Auch Barbara strahlt.
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O-Ton Barbara: “Como yo era una chica …
Übersetzerin 1:
Ich hatte immer Probleme und habe viele Sachen in meinem Leben nicht geschafft.
Hier im Orchester habe ich neue Freunde gefunden. Ich fühle, dass das hier mein
Platz ist, hier gehöre ich hin. Das habe ich bisher noch nie gefühlt.
Erzählerin:
Ob sie, wenn sie ihren Schulabschluss schafft, in Areguá bleibt, weiß sie noch nicht.
O-Ton Barbara:
“Seguimos adelante, porque …
Übersetzerin 1:
Wir gucken nach vorne. Dann alles ist möglich. Man muss es nur wollen. Und jetzt
spare ich für eine eigene Bratsche.
Atmo Musik
Absage
Sonidos de la Tierra – Klänge der Welt
Das Kinderorchester in Areguá
Ein Feature von Gaby Weber
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2016.
Es sprachen: Ursula Illert, Maike Jüttendonk, Hans-Gerd Kilbinger, Jochen Kolenda
und Robert Oschatz
Ton und Technik: Gunther Rose und Jens Müller
Regie: Susanne Krings
Redaktion: Karin Beindorff
Atmo Musik