An Gottes Versprechen festhalten (Israelsonntag) Meine Brüder und Schwestern, ich muss euch jetzt mit Gottes geheimnisvollem Plan bekannt machen. Wenn ihr euch auf eure eigene Klugheit verlasst, könnt ihr leicht zu falschen Schlüssen kommen. Tatsächlich hat Gott dafür gesorgt, dass sich ein Teil von Israel vor ihm verschließt. Das soll aber nur so lange dauern, bis alle heidnischen Völker ihm zugewandt haben. Wenn das geschehen ist, dann wird das ganze Volk Israel gerettet werden, wie es in den Heiligen Schriften vorhergesagt ist: »Vom Zionsberg wird der Retter kommen und alle Auflehnung gegen Gott von den Nachkommen Jakobs nehmen. Dann werde ich ihnen ihre Verfehlungen vergeben, sagt Gott; und so erfüllt sich der Bund, den ich mit ihnen geschlossen habe.« Im Blick auf das Evangelium gilt zwar: Sie sind Gottes Feinde geworden, damit die Botschaft zu euch kommen konnte. Im Blick auf ihre Erwählung gilt: Sie bleiben die von Gott Geliebten, weil sie die Nachkommen der erwählten Väter sind. Denn Gott nimmt seine Gnadengeschenke nicht zurück, und eine einmal ausgesprochene Berufung widerruft er nicht. Ihr aus den anderen Völkern habt Gott früher nicht gehorcht; – aber weil sie ungehorsam waren, hat Gott jetzt euch sein Erbarmen geschenkt. Genau entsprechend gehorchen sie Gott jetzt nicht, weil er euch sein Erbarmen schenken wollte; und so werden künftig auch sie Erbarmen finden. Gott hat alle ohne Ausnahme dem Ungehorsam ausgeliefert, weil er sich über alle erbarmen will. Römer 11,25-32 Predigt zum 31.7.16 Schwenningen / Tuningen Manche Fragen führen uns an unsere Grenzen. Warum lässt Gott eine schlimme Krankheit zu? Warum wenden sich Kinder vom Glauben ab, obwohl ihre Eltern doch versucht haben, ihnen ein gutes Vorbild zu sein? Warum lässt Gott es zu, dass es so viel Terror gibt auf der Welt? In Deutschland waren wir es viele Jahre nicht gewohnt und wähnten uns in Sicherheit. In manchen Ländern gehört es seit vielen Jahren beinahe zum Alltag. So gerade auch in Palästina, im Heiligen Land. Der Apostel Paulus lädt uns heute jedenfalls ins "Grenzland" ein. Er führt uns an die Grenzen seines und unseres Verstehens. Er führt uns zur Frage: "Warum?" Und meist findet sie im "Grenzland des Verstehens" erst mit der Zeit - oder auch gar nicht - eine Antwort. An welche Grenze ist Paulus geraten? Auf welche Frage bekommt er keine Antwort? Paulus hat sich als Jude intensiv mit dem beschäftigt, was wir das Alte Testament nennen. Die Gebote des Gottes Israel sind ihm kostbar. Paulus weiß, dass sie Wegweiser zum Leben sind. Er ist dankbar dafür, zu dem Volk gehören zu dürfen, zu dem Gott eine besondere Beziehung hat. Deshalb war Paulus zunächst sehr besorgt, als die Bewegung, die um Jesus von Nazareth herum entstand, mit dessen Tod nicht am Ende war. Er wollte diesen Unruheherd, der dem jüdischen Glauben schaden konnte, deshalb ein Ende setzen. - Doch dann kam alles ganz anders: Paulus wurde selbst von dem ergriffen, was den Jesusleuten wichtig war. Der auferweckte Christus begegnete ihm vor Damaskus. Paulus lernte damit den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs auf neue Weise kennen. Paulus entdeckte im Gekreuzigten und Auferweckten nicht nur den Befreier Israels, sondern den Befreier aller Völker. In Jesus Christus begegnete ihm der lang ersehnte Messias, der Retter aller Welt. Paulus wurde zu dessen Boten und Zeugen und trug die befreiende Kraft des menschgewordenen Gottes Israels in die Welt hinaus. Doch gerade seine jüdischen Geschwister behindern immer wieder die Arbeit des Paulus. Gerade die, die ihm am nächsten sind, wollen von der Christusbotschaft nichts hören. Das schmerzt Paulus, denn er möchte mit ihnen teilen, was ihm so unendlich wichtig ist. " Wir sind damit im "Grenzland" des Paulus angekommen: Der Widerstand der jüdischen Gemeinden lässt Paulus immer wieder fragen: "Warum könnt ihr euch nicht auf Jesus Christus einlassen? Warum lehnt gerade ihr Juden ihn ab? Warum findet der Gekreuzigte und Auferweckte vor allem bei Menschen aus anderen Völkern Gehör - nicht aber bei euch? Warum seid gerade ihr, meine Geschwister, so verschlossen?" Paulus hat sich lange mit diesen Fragen geplagt. Denn wenn der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott Israels zugleich auch der Vater Jesu Christi ist, wenn seine Liebe nicht von seinem auserwählten Volk gewichen ist, dann ist nicht zu verstehen, warum gerade sein Volk Israel dem Messias, dem Erlöser, dem Befreier keinen Zugang gewährt. Israel ist doch das Ursprungsland der Gnade Gottes. Warum dann diese Ablehnung? Paulus scheint jemand zu sein, der an "Grenzen" weiterkommen will. Er gibt sich nicht mit Sackgassen zufrieden. Dies gelingt ihm, weil er Gott nicht loslässt. So darf er jenseits der "Blindheit" Israels Gottes Versprechen an Israel entdecken. Trotz der Verschlossenheit des Gottesvolkes erinnert sich Paulus an Gottes Bund, an sein Versprechen, dieses Volk nicht aufzugeben. - Davon kann und will Paulus nicht lassen. Und dieser Bund ist doch auch in Jesus Christus nicht hinfällig geworden. Gott hat doch sein Versprechen, Israel besonders nah zu sein, nicht aufgekündigt, sondern erneuert. Ja, er hat es ausgeweitet auf alle Völker. So gilt es auch Israel ganz neu: "Du bist mein geliebtes Volk! Du liegst mir am Herzen! Du bist mir wichtig! Dich habe ich besonders im Auge!" Aber wie passt das zur Realität? Wenn wir heute an den Staat Israel denken, fallen uns israelische Panzer und Bulldozer ein, die palästinensisches Gebiet als Vergeltungsmaßnahme besetzen und Infrastruktur und Wohnhäuser zerstören. Uns stehen dann palästinensische Selbstmordattentäter vor Augen, deren Bomben auf Marktplätzen und Strassen blutige Opfer fordern, um so zu zeigen: "Auch wir haben ein Lebensrecht! Wir werden uns weiter wehren! Ihr werdet uns nicht ohne Folgen unterdrücken!" Und wir müssen uns fragen, wie der Teufelskreis von palästinensischem Terror und brutalen israelischen Gegenschlägen, denen Trauerzüge von Palästinensern folgen, die wieder in Terror einmünden, der wieder zu Gegengewalt führt, mit dem Gott zusammenpassen, der einen Bund mit seinem Volk geschlossen hat. Ein - immer wieder verfolgtes und von Vernichtung bedrohtes Volk, das sich wehrt und wehrt und doch auch mit einem 759 km langen völkerrechtswidrigen hochgesicherten Grenzzaun keine Ruhe bekommt. Ein Volk, das Palästinenser unterdrückt, ohne ihnen Aussicht auf eine Zukunft mit gleichen Chancen, Rechte und Freiheiten zu geben. Dort wie hier Angst, hier wie dort Sehnsucht nach Frieden, aber in all dem momentan nur Hass und Gewalt, weil das Unrecht des einen nur neues Unrecht des anderen gebiert. Ein furchtbarer Kreislauf. Wie viele dunkle Täler musste doch gerade das Volk Gottes durchschreiten! Es ist noch nicht lange her, dass es in unserem Land hieß: "Die Juden sind unser Unglück!" Wie kann man angesichts der Konzentrationslager des letzten Jahrhunderts vom bleibenden Bund Gottes mit seinem Volk reden? So hat dann auch Papst Franziskus letzte Woche es vorgezogen, in Auschwitz keine Rede zu halten, sondern schweigend das Unfassbare zu gedenken. Wo ist da das alte Versprechen Gottes? Wo ist da sein Wille? Warum das alles? Paulus will an "Grenzen" weiterkommen. Er gibt sich nicht mit Sackgassen zufrieden. Und lädt uns ein, ihm zu folgen. Hören wir, wie er einst weiterkam. Ich lese aus dem 11. Kapitel des Römerbriefes die Verse 25 - 32: Lesung An der Grenze seines Verstehens darf Paulus ein Geheimnis entdecken. Mitten hinein in sein Fragen kommt damit ein neuer Klang. In die Dissonanzen, Spannungen und Missklänge klingt als mächtiger Schlussakkord: "Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme". Und um in der musikalischen Sprache zu bleiben, dieses Erbarmen Gottes ist - für Paulus - wie ein "Orgelpunkt", wie ein ständig durchgehaltener "Ton" in allem, was da an Fragen und Zweifeln zuvor laut ertönt. An der Grenze seines Verstehens hört Paulus die wunderbare Melodie des treuen Erbarmens Gottes: Gott erbarmt sich. Gott lässt nicht fallen. Was Gott zugesagt hat, hält er. Israel ist und bleibt sein besonders auserwähltes Volk. Es ist sein "Werkzeug" um allen anderen Völkern zu helfen. An seinen Grenzen, mitten im Fragen und Zweifeln, am Ende aller menschlichen Klugheit und Erklärungsmöglichkeit durfte Paulus die "Melodie der Gnade Gottes" hören. Das teilte er einst der Gemeinde in Rom und jetzt uns mit. Er weist uns damit darauf hin, dass nicht wir das Maß aller Dinge sind, sondern Gottes Gnade. Höher als unsere Vernunft ist sein Erbarmen. - Deshalb: "Haltet euch nicht selbst für klug!" Höher als unsere Einsicht, weiter als wir sehen können, reicht das Erbarmen Gottes. Es macht nicht an unseren Grenzen halt. Das heißt auch für uns mit unseren Fragen: Grenze Gottes Erbarmen nicht ein! Gib ihm Raum! Für Paulus hieß das einst konkret: Weil Gott gnädig ist, muss die Blindheit Israels einen Sinn haben für alle anderen Völker. Die Welt und ihre Geschichte, ja auch mein eigenes Leben scheinen oft Gottes "Melodie" zu übertönen. Sein Friede scheint unter uns wenig Einfluss zu haben, sein Erbarmen findet bei uns kaum Herberge, seine Treue scheint kaum verlässlicher Grund unter unseren Füßen und Ziel unserer Wege zu sein. Und dennoch: Paulus lädt uns ein, - mit Israel - neu auf Gottes Erbarmen zu vertrauen - gerade auch dann, wenn wir mit unseren quälenden Warum-Fragen an unsere Grenzen kommen. Mitten im "Grenzland", mitten in unserer Begrenztheit, erklingt geheimnisvoll, unverdient und wunderbar die Melodie des Erbarmens Gottes. Sie will in unser Ohr dringen. Auch wenn wir sie nicht hören, ist sie da. Auch bei unseren Fragen nach dem Sinn einer schweren Krankheit, oder dem scheinbaren Verstocktsein so vieler Menschen gegenüber dem Evangelium, auch bei unseren Ängsten vor dem Terror: Gottes Gnade und sein Erbarmen hören nicht auf. Gottes Erbarmen gehört die Zukunft. Auch wenn unsere Wege verwirrend erscheinend, Gott kommt mit allen zum Ziel. Es bleibt ein Geheimnis und übersteigt die Grenzen unseres Verstandes, aber es gilt: Gott hat alle ohne Ausnahme dem Ungehorsam ausgeliefert, weil er sich über alle erbarmen will. Und so beschließt Paulus seine Betrachtungen über den geheimnisvollen Weg Israels mit einem Lobpreis: Oh welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes. Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich sind seine Wege. Denn von ihm und zu ihm und durch ihn sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen. Amen. Hans-Ulrich Hofmann
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