Tam Lin - BABUSCHKA

Tam Lin
ein Märchen aus Schottland
2012, leicht bearbeitet von Barbara Scheel,
Märchenerzählerin im BABUSCHKA-Theater
In einem Schloss lebte einmal ein Graf im schottischen Unterland. Seine Tochter war
die schöne Janet. Eines Tages mochte das Mädchen nicht mehr nur in ihrer Kammer
sitzen und nähen oder sich mit den Hofdamen die Zeit zu vertreiben. Und so zog sie
ein grünes Kleid an, flocht ihr goldfarbenes Haar und ging hinaus in den Wald von
Carterburgh. Immer tiefer ging sie in den Wald, denn die Heckenrosen blühten und
dufteten.
Sie pflückte eine der wunderbaren Rosen und steckte sie in ihren Ausschnitt. Kaum
aber hatte sie die Rose abgebrochen, stand ein junger Mann vor ihr. „Wie kannst du
es wagen, durch diesen Wald zu streifen! Wie kannst du es wagen, die Rosen von
Carterburgh zu brechen!“, rief er. „Verzeiht, ich wollte nichts Unrechtes tun.“,
verteidigte sich Janet. „Ich bin der Wächter dieses Waldes und sorge dafür, dass
niemand seinen Frieden stört!“, sagte der Jüngling drohend. Dann aber ging ein
seltsames Lächeln über sein Antlitz, er brach eine weiße Rose ab und steckte sie zu
der anderen. „Einer Frau, die so schön ist wie du, würde ich alle Rosen von
Carterburgh schenken!“, sagte er.
„Wer bist du?“ fragte Janet. „Mein Name ist Tam Lin.“ - „Von dir habe ich gehört! Du
bist ein Feenritter!“, rief Janet erschrocken, ergriff die Rose des Jünglings und warf
sie fort. „Du brauchst dich nicht zu fürchten! Man nennt mich zwar Feenritter, aber ich
bin als Sterblicher geboren - wie du.“, sagte Tam Lin. Da blickte Janet ihn an und
hörte seine Geschichte: „Meine Eltern starben, als ich noch ein Kind war. Mein
Großvater, der Graf von Roseburgh, nahm mich auf. Eines Tages jagten wir in
diesem Wald, als plötzlich ein seltsamer, kalter Wind wehte. Ich wurde müde, blieb
hinter den anderen zurück und fiel zuletzt vom Pferd. Als ich erwachte, war ich im
Reich der Feen. Die Feenkönigin hatte mich geraubt.“
Tam Lin schwieg einen Augenblick. Es schien, als seien seine Gedanken weit, weit
fort. „Seitdem“, erzählte er weiter, „stehe ich unter dem Bann der Feenkönigin. Am
Tage bewache ich die Wälder von Carterburgh, bei Nacht kehre ich ins Feenreich
zurück. Wie gerne wäre ich wieder ein gewöhnlicher Sterblicher. Ich wünsche es mir
von ganzem Herzen!“, seufzte er.
Seine Stimme klang so traurig, dass sie Janet mitten ins Herz traf, und sie rief: „Gibt
es denn gar kein Mittel, das diesen Zauberbann löst?“ Da fasste Tam Lin sie bei den
Händen: „Heute Nacht ist Halloween, Janet. Das ist die Nacht der Nächte. An
Halloween reitet das Feenvolk aus, und ich reite mit ihnen.“ - „Sag mir, was ich tun
soll!“ - „Du musst um Mitternacht zum Kreuzweg gehen und warten. Der Zug der
Feen wird kommen. Kümmere dich nicht um die erste Gruppe. Lass sie vorbei; auch
die zweite. Achte aber auf die dritte Gruppe, denn dort reite ich auf einer
milchweißen Stute. Auf dem Kopf trage ich einen goldenen Reif. Lauf zu mir, reiß
mich vom Pferd und nimm mich in deine Arme. Drücke mich so fest an dich, dass ich
deine Brüste spüren kann. Was immer auch geschieht, halte mich fest. Lass mich
1
nicht los! Nur so kannst du mir die Sterblichkeit wiederschenken.“ Dann verschwand
Tam Lin und ließ Janet allein zurück.
Als es Mitternacht schlug, wartete Janet bereits am Kreuzweg im Schatten eines
Strauches. Das Gras schimmerte im Mondlicht, die Büsche warfen seltsame
Schatten, und der Wind erhob seine unheimlichste Stimme. Von Ferne hörte Janet
Hufgetrappel. Da wusste sie, dass die Feen unterwegs waren. Sie sah einen weißen
Schein von der Stirn des ersten Pferdes leuchten. Der Zug kam näher und näher. Die
bleichen Reiter hatten ihre Gesichter dem Mondlicht zugewandt und ihre silbernen
Locken wehten im Wind, als sie vorüber ritten. Janet atmete kaum. Auf einem
schwarzen Pferd ritt die Feenkönigin.
Janet rührte sich nicht, als die zweite Gruppe vorüber ritt. Dann kam die dritte
Gruppe. Sie erkannte das milchweiße Pferd, sie sah den Goldreif im Haar von Tam
Lin. Da sprang sie hervor, ergriff die Zügel, zerrte Tam Lin aus dem Sattel und
presste ihn fest an sich. Gezeter und Geschrei erhob sich: „Tam Lin ist
verschwunden!“
Die Feenkönigin sprengte herbei, hielt an, richtete ihre schönen, kalten Augen auf
das Paar und bannte Tam Lin mit einem Zauber. Er wurde kleiner und kleiner. Und
plötzlich hielt Janet einen Salamander an ihrem Busen. Der Salamander wurde zur
Schlange, die sich in ihren Armen wand, und Janet hatte Mühe, das Tier
festzuhalten. Schrecken und Schmerz durchzuckten sie, als sich die Schlange in ein
Stück rotglühendes Eisen verwandelte. Tränen liefen Janet übers Gesicht, aber sie
drückte Tam Lin an sich, ließ ihn keinen Augenblick los.
Da merkte die Feenkönigin, dass sie Tam Lin verloren hatte, denn die unbeirrbare
Liebe einer sterblichen Frau hatte ihn erlöst. Da gab sie ihm seine menschliche
Gestalt zurück, und Janet hielt einen Mann umfangen, der war nackt wie ein neu
geborenes Kind.
Langsam ritt der Feenzug weiter und hielt nur kurz an. Eine Hand erschien aus dem
Dunst und führte die milchweiße Stute fort, während die Feenkönigin jammerte und
klagte: "Der schönste Ritter meines Gefolges ist verloren! Leb wohl, Tam Lin! - Hätte
ich gewusst, dass sich eine Sterbliche in dich verliebt, hätte ich ihr das Herz aus der
Brust gerissen und ihr eines aus Stein dafür gegeben. Hätte ich gewusst, dass die
schöne Janet in diesen Wald kommt, hätte ich ihr die Augen ausgekratzt und ihr
Holzaugen beschert!“ Als die Feenkönigin ihren Zorn herausgebrüllt hatte, begann es
gerade, hell zu werden, und mit einem Schreckensschrei gaben die Feenritter ihren
Pferden die Sporen und verschwanden im Nebel des aufkeimenden Morgens.
Tam Lin aber küsste Janets verbrannte, schmerzende Hände, und dann eilten sie
zum Schloss von Carterburgh.
Das ursprüngliche Märchen ist zu finden in:
Märchen der vier Jahreszeiten, herausgegeben von Sigrid Früh, Verlag Fischer
Taschenbuch, Frankfurt a.M., 1998, ISBN 3-569-14225-3
2