Der Ritus der Entwanzung - oder: Wie werde ich als Zugezogener ein anerkannter Kreuznacher? Von Stefan Kühlen Wanzen sind Insekten und seit etwa 250 Millionen Jahren nachweisbar. Weltweit gibt es etwa 40.000 Arten, davon cirka 800 einheimische. Man unterscheidet die beiden Unterordnungen Landwanzen und Wasserwanzen. Landwanzen lieben Trockenheit und Wärme. Die meisten leben von Pflanzensäften, es gibt aber auch räuberisch lebende Arten, die als Parasiten Blut saugen, z.B. Bettwanzen. Die Wanze kann auch als Schädling auftreten und Krankheiten übertragen. Nach dieser Definition müssen die Kreuznacher wohl Nicht-Eingeborene, also Neubürger, als Schädlinge oder Parasiten empfunden haben. Bild: Einheimische Landwanze. Sie liebt Trockenheit und Wärme. Foto: Stefan Kühlen Eine Erklärung finden wir bei Buss und Westermann in ihrem Buch „So redd merr in Zelemochum“: Wanze, die keineswegs schmeichelhafte Bezeichnung eines Neubürgers der Stadt Bad Kreuznach, der mit der Sprache, den Gewohnheiten und sonstigen Eigentümlichkeiten der Alteingesessenen nicht vertraut ist. Der sofort einsetzende Prozeß der „Entwanzung“ erfordert eine vieljährige Ansässigkeit – mindestens 20 Jahre – und den Konsum von 1.000 […] Remisjer. Was ist ein Remisje? Auch hierzu finden wir bei Buss und Westermann eine Erklärung: Remisjen, das in Bad Kreuznach übliche Maß für sog. „offenen“, d.h. im Glas, nicht in der geschlossenen Flasche servierten Wein, früher ein halber Schoppen [0,25 l] heute zwei Zehntel Liter Inhalt [0,2 l]. An anderer Stelle heißt es, erst wenn der Neubürger einen Sack Kreuznacher Salz verzehrt habe, werde er als Kreuznacher anerkannt. Ein Sack Salz wog laut einer Annonce in der »Kreuznacher Zeitung« vom 31. Mai 1814 208 Pfund und wurde bei „Gumberich Hirsch an der Mühlengasse“ für 18 Gulden verkauft. Welchen Sinn hatte nun die Entwanzung? Dahinter stand: Du bist neu, du bist nicht hier geboren, du musst von diesem Makel befreit werden. „Entwanzen“ ist ein bildhafter Ausdruck für die Anerkennung eines Zugezogenen als echter Kreuznacher, nach mindestens zehnjährigem Aufenthalt in der Kurstadt. Nun stellt sich die Frage, wer ist denn ein echter Kreuznacher? Rudolf Hornberger (genannt Hombes) schreibt in seinem zuletzt erschienenen Buch „De Siwwesinnich“ aus dem Jahr 2014: Ja, di Kreiznacher… Wenn eener meent, er wär e’ Kreiznacher, sich aber nit so ganz sicher is, dass er ach eener is, dann guckt er in’s Schdammbuch. Schdeht do im Schdembel „Kreuznach“ (siehe rechts) drunner un di Gebihr, di’s Intraan koscht hot, is ach bezahlt, dann kanner saan: Ich bin e’ Kreiznacher! Das e’mol for`s eerschde. Kreiznacher unnerscheide sich: In Kreiznacher „nor“ gebor, dono uffem Land großgezoo . in Kreiznach uffgewax, awwer nit dort gebor, awwer aach do in die Schul gang, gelernt, fortgang un widderkomm, odder schunn immer un ewich do gewees, vumm Vadder her schunn. „Mei Vadder wa schunn e’ Kreiznacher“ saan viil Leit voll Schdolz, un das sinn dann die alde Kreiznacher, vun dene oft die Red is. Kimmt awwer eener der seet: „Mir sinn schunn immer vun do, mei Oba un di Oma ware aach schunn vun do! Di anner Oma un de anner Oba aach!“ Das sinn dann die „uralde Kreiznacher“ mit Griinschboon uffem Bugel, wenn se all dogeblibb ware. So war es auch schon vor über 100 Jahren nicht einfach, von der einheimischen Bevölkerung als Neubürger anerkannt zu werden! 1909 schrieb Dr. Lorenz Schmitt (Heddesheim) in seinem Buch „Das Paradies der Nahe“: „Es ist zwar schon behauptet worden, das früher manchmal Kreise der Bürgerschaft dem Fremdenverkehr abgeneigt waren und zu weilen die Ansiedlung neuer Bürger erschwerten, wohl um ihre eigene Bedeutung nicht einzubüßen, – selbst heute hört man noch mitunter von einem gewissen Kastengeiste reden – .“ Einerseits wollte man sich als echter Kreuznacher klar abgrenzen, andererseits den Zugezogenen die Möglichkeit geben, nach langjährigem Aufenthalt in der Stadt als Kreuznacher ‚eingebürgert‘ zu werden. In alten Zeiten und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein besaß längst nicht jeder Einwohner auch das Bürgerrecht! Einbürgerungen bedurften eines Stadtratsbeschlusses und wurden durch Ausstellung einer Einbürgerungsurkunde bescheinigt. Der Stadtrat lehnte Einbürgerungsgesuche durchaus auch ab, zum Beispiel, wenn ein bestimmtes Handwerk bereits ausreichend besetzt war, der Neubürger also sein Brot auf Kosten der Alteingesessenen gesucht hätte. Möglicherweise ist der Ritus der ‚Entwanzung‘ entstanden, nachdem die juristisch-verwaltungstechnische Unterscheidung zwischen ‚Bürgern‘ und ‚Einwohnern‘ hinfällig geworden war. Aus dem »Oeffentlichen Anzeiger« vom 28. Januar 1905: Ein Verein geborener Kreuznacher hat sich im Pfälzer Hof (Bild rechts, Foto: Sammlung Kühlen) gebildet und tagt jeden Samstagabend dort. „Wanzen“, die über zwanzig Jahre die Stadt bevölkern[,] können als passive Mitglieder aufgenommen werden. Darauf folgte am 31. Januar die Antwort der ‚Wanzen‘, ebenfalls im »Öffentlichen«. Sie meinten, es wäre […] angebracht, das Lokal für Nichtwanzen in einem solchen zu wählen, wo der Besitzer nicht selbst noch Wanze ist. Übrigens dürfte es einem längst gehegten Bedürfnisse entsprechen, wenn sich auch baldigst ein Wanzenverein bildete. Die Bildung eines solchen Vereins konnte ich bis jetzt noch nicht nachweisen. – Mit dem ‚Wanze‘-Wirt war der 1895 aus dem belgischen Ostenden zugezogene Aloys Stökle gemeint, dessen Geburtsort Langenenslingen im Großherzogtum Baden gewesen ist. Daß er immerhin die preußische Staatsbürgerschaft besaß, änderte in den Augen der Kreuznacher an seinem ‚Wanze‘-Status rein gar nichts! In alten Geschichten und Reimen treffen wir des öfteren auf Vorbehalte gegenüber den Wanzen und Hinweise, wie sie sich von der einheimischen Bevölkerung unterscheiden, besonders beim alljährlichen Feiern des Jahrmarktes auf der Pfingstwiese. So reimte Ferdinand Harrach im Jahre 1894 in seinem Klassiker „Zellemochumer Mark“: Unser scheeschde Festlichkeit is Zellemochumer Mark. Aus der Näh, vun weit und breit Is der Zulaaf stark. Samschdags werd enunnergang Geje Uhrer sechs. G’spauzt, prowiert, oft Stunnelang. „Wer hot`s bescht Gewächs?“ Was beim Zellemochumer gilt, merkt mer schun uff dausend Schritt: Er bestellt e Sponsau groß, un die Wanz ißt Brotworscht bloß, immer geht de Schoppe rund, bis er leer is uff de Grund. Wer grad will, bezahlt die Wichs; annere zahle nix. Bild: Auf dem Jahrmarkt im Angebot: Sponsau un Brotworscht: “der „Kreiznacher“ bestellt e Sponsau groß, un die Wanz ißt Brotworscht bloß“… Foto: (Ausschnitt) Sammlung Kühlen Und ‚W.M.‘ bemerkte 1896 „In Kreiznach is viel los“: s gibt so Wanze , die saan als: „hier wär jo garnix los, un in Kreiznach deet mer jo sich langweile bloß Geesche heem, grad Kreiznach is dodrin arig groß. Hier is immer viil, sogar oft de Deiwel los. Bernhard Scheick endlich erklärte 1958: Wer kee Wanz is un kee Cochum, sondern stammt vun Cellemochum, hängt am Jahrmarkt wie am Hoor die Klett. „Cochum“ kommt vom jiddischen „chochem“ und ist die Bezeichnung für einen klugen oder auch schlauen Menschen. Also vielleicht auch für einen Zeitgenossen, der so ‚verkopft‘ ist, daß er den Jahrmarkt nicht wirklich genießen kann? Unseren Karnevalisten genügte der eingangs erwähnte, sofort einsetzende Prozeß der Entwanzung nicht. Ein Zeremoniell sollte nach langjähriger Ansässigkeit den Abschluss der Anerkennung als Kreuznacher bilden. Die Entwanzung durch die Fastnachter war geboren. Einer, der es am eigenen Leib erfuhr, ist Richard Walter (Bild rechts). Über seinen Werdegang zum „echten Kreuznacher“ erzählt der am 23. Juli 1923 im hessischen Reinheim geborene Redakteur: Ich bin kein Bad Kreuznacher, doch bin ich seit dem Winter 1947/48 Bürger dieser Stadt. Durch den Elferrat der „Fidelen Wespen“ unter Präsident Seppel Braun und Vize Hans Hermann bin ich 1957 nach zehn Jahren Anwesenheit in Bad Kreuznach auf der Bühne des „Concordia-Saals“ ordnungsgemäß entwanzt worden. Bild links: Die „Concordia“ in der Kurhausstraße war die Narrhalla der „Fidelen Wespen“ Foto: Sammlung Rolf Schaller. Bild rechts: 1971 wurde der Concordia-Saal baupolizeilich wegen Fäulnisschäden geschlossen Foto: Sammlung Rolf Schaller Das Zeremoniell der Entwanzung: Ich wurde vorher nicht informiert, saß im Saal mit gutem Anzug. Zwei Boten in Gardistenuniform holten mich an meinem Platz im Saal ab. Sie führten mich vor den Elferrat und platzierten mich auf einem Stuhl der zum Saal gekehrt war. Der Sitzungspräsident ließ verlauten: „Anwärter auf Entwanzung ist Richard Walter. Er ist reif für die Entwanzung nach 10 Jahren, da er Tag und Nacht als Redakteur arbeitet.“ Welche Regel stimmt denn nun? 20 Jahre oder 10 Jahre? Hat Richard Walter vielleicht schneller den Sack Salz geleert, zügiger die „Remisjer“ getrunken, oder als Journalist wirklich Tag und Nacht gearbeitet? Eine große Urkunde mit schöner Schrift und persönlichen Versen wurde verlesen. Die Urkunde durfte ich aber nicht behalten, sie wurde also nicht überreicht. Sie blieb im Besitz der Wespen. Der Elferrat trat an mich heran und überschüttete mich aus Gläsern und Behältern. Gefüllt waren die Gläser mit Parfüm, Wasser, Alkohol, Schnaps, Papierkonfetti und übelriechender Flüssigkeit. Der Anzug war anschließend im wahrsten Sinne des Wortes versaut, ich musste ihn am nächsten Tag in die Reinigung bringen. Bild: Die „Fidele Wespe“ ist ein traditionsreicher Kreuznacher Karnevalsverein, gegründet 1899. Seit 2007 veranstaltet der Verein auch den „Kreiznacher Nockherbersch“ nach Münchener Vorbild. Richard Walter unterwarf sich der Prozedur. Es war eine Riesengaudi im Saal. Nach der „Entwanzung“ wurde er von den Gardisten zum Platz zurückgeführt. Auf dem Weg zurück in den Saal kam er an Otto Zimmer, mit dem Spitznamen „es Viezche“ (damalige Bezeichnung für einen weichen Milchweck) vorbei, dieser beschwerte sich mit dem Ausruf „Bei mir eßt er und bei de Fidele Wespe werd er entwanzt.“ – Otto Zimmer war laut Richard Walter ungehemmt in seiner Aussprache. Er rief oft lautstark „Ruhe“ in den Saal, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Auch reagierte er schon mal cholerisch, ja mit Tobsuchtsanfällen, wenn die Menschen im Saal durch lautes Gerede die Vorträge störten. Otto Zimmer betrieb schräg gegenüber der Redaktion des Öffentlichen Anzeigers, die sich damals in der Hochstraße 28 befand, seine Bäckerei und Gastwirtschaft. ‚Es Viezche‘ war für Richard Walter als Sitzungspräsident ein Vorbild. Walter bekleidete 8 Jahre das Amt des Sitzungspräsidenten bei der Großen Karnevalsgesellschaft (siehe rechts). Auch Richard Walter praktizierte zu seiner aktiven Zeit als Sitzungspräsident der GKGK die Entwanzung, jedoch weitaus harmloser als er sie selbst erfahren hatte. Es war ein humorvoller Akt: ein Regen von Papierstück- chen. Mit dem Locher erzeugtes Papierkonfetti wurde in einen Eimer gefüllt, dieser wurde über dem Kopf des Anwärters mit dem Spruch „Hau Ruck“ ausgekippt. Der ganze Saal beteiligt sich lautstark dabei mit dem Ruf: „Hau Ruck, Hau Ruck“. Richard Walter kann sich noch gut an die Entwanzung von Kurdirektor Dr. Küstermann erinnern. Dabei wurde die Flüssigkeit im Eimer nur angedeutet. Im Eimer befand sich nämlich nur Konfetti, was das Publikum allerdings nicht wusste. So stockte den Menschen im Saal der Atem, als der Eimer über Dr. Küstermann Bild: Dr. Werner Küstermann, ausgekippt wurde. Kurdirektor von 1960 - 1978 Über den Akt der Entwanzung wurde sehr oft gesprochen, aber er wurde nicht häufig praktiziert. Laut Gerd Modes wurde noch Anfang der 1970er Jahre bei den Fidelen Wespen das Zeremoniell der Entwanzung durchgeführt. Dazu wurde eine Flasche mit Wasser aus der (nur ‚Wanze‘ sagen: dem) Ellerbach gefüllt und über dem Kopf der zu entwanzenden Person ausgeleert. Bild: Der Ellerbach ist ein Nebenfluss der Nahe. Er entspringt im Soonwald und mündet in „Klein-Venedig, an de Peffermiehl“ in die Nahe. Die Bewohner dieses Stadtteiles gelten als „mit Ellerbachwasser“ getauft. Sie bestehen oft aus „alde“ und „uralde Kreiznacher“. Foto: Isabel Mittler, Allgemeine Zeitung Quellen: Wirtschafts-Concessions-Register (ab 1904)/Stadtarchiv Bad Kreuznach, Akte 2941 Haushaltungsbogen Stökle/Stadtarchiv Bad Kreuznach Heimatblätter 7/2011, Richard Walter wird 90 Jahre alt von Dr. Horst Silbermann Das Paradies der Nahe, Dr. Lorenz Schmitt/Heddesheim, 1909 Das Bürgergeld, Dr. Martin Senner (52 Geschichten aus Kreuznachs Geschichte, Bd. 7) So reed merr in Zelemochum, Buss und Westermann Vorsicht 11/2006, Fit für Kreuznach? (von Dr. Martin Senner) Kreuznacher Zeitung vom 31.05.1814 De Siwwesinnich, Rudolf Hornberger, 2014 Öff. Anzeiger vom 28.01.1905/Stadtarchiv Bad Kreuznach Öff. Anzeiger vom 31.01.1905/Stadtarchiv Bad Kreuznach Meyers Grosses Universallexikon Über 100 Jahre Kolpinghaus Bad Kreuznach, 2012, R. Schaller und H.G. Schnorrenberger
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