21/Schweiz (Page 178)

Ausland
SCHWEIZ
„Ein verdorrtes Gewächs“
M. V. GRAFFENRIED / VISUM
P. VAUTHEY / SYGMA
Äußerer Druck machte die Eidgenossenschaft 1848 zur europäischen
Musterdemokratie. Aber zum 150. Jubiläum ist den Schweizern der Stolz vergangen – sie sind
ratlos und gespalten. Kann sich das Land aus seiner Erstarrung befreien?
Schweizer Bergbäuerinnen bei der Rast, Banktresor in der Hauptstadt Bern: Patriotismus und Eigensinn helfen nicht mehr weiter
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scheint der helvetische Sonderweg, der das
Alpenland so lange zu einer Insel des Friedens und des Wohlstands machte, plötzlich nicht mehr zeitgemäß. Ratlos sucht die
Schweiz einen neuen Platz in Europa und
der Welt, weil sie zu erkennen beginnt, daß
die gewohnte Neutralität sie zu einem
Außenseiter macht.
Seit drei Jahren streiten sich in
Brüssel Berner Unterhändler mit
EU-Bürokraten um Straßen- und
Luftverkehr, um Landwirtschaft
und Forschung, um freien Kapitaltransfer und um die Niederlassungsfreiheit. Und der Spielraum
der Schweizer wird um so enger, je länger die Verhandlungen
dauern.
Die Regierung in Bern weiß
längst, daß die Zukunft des Landes nicht auf dem Rütlischwur
und all den anderen populären
Mythen der Wehrhaftigkeit gebaut werden kann, auch wenn
viel widerspenstiges Volk dem
neureichen Volkstribun und Unternehmer Christoph Blocher
nachläuft, der jede Öffnung nach
REUTERS
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ie Freisinnige Partei, die in Bern
Leicht gesagt: Nicht nur der selbstseit 150 Jahren ununterbrochen an zufriedenen Staatspartei der Freisinnigen
der Regierung beteiligt ist, posaun- (FDP) sind die frischen Ideen ausgegangen.
te Eigenlob ins Land hinaus: „Wir gratu- Das ganze, sorgfältig auf Ausgleich und
lieren der Schweiz von ganzem Herzen“, Konsens abgestimmte politische System
tönte sie in Anzeigen, „1848 wurde der der Schweiz ist in Frage gestellt.
schweizerische Bundesstaat auf Initiative
Im Zeichen der Globalisierung und
von Freisinnigen gegründet.“
des europäischen Zusammenwachsens erDoch den Eidgenossen ist nicht
nach Feiern zumute. Sieben Jahre Rezession, 154 000 Arbeitslose
und eine Staatsverschuldung von
nie gekannter Höhe drücken
schwer auf das stolze Gemüt.
„Die Stimmung könnte mieser
nicht sein“, bestätigt das Schweizer Wirtschaftsblatt „Cash“ und
hofft „auf die kollektive Erinnerung an die stürmische, leidenschaftliche, über weite Strecken
chaotische Anfangszeit unserer
nationalen Existenz“. Das Gedenken an die Vorfahren, die –
als einzige in Europa – die liberale Revolution 1848 in einen
dauerhaften Erfolg verwandelten, soll die Depression überEhrengarde der Armee: Schritt in die Moderne
winden.
außen verdammt. Der Alleingang, predigt
er, sei nach wie vor die eigentliche Raison
d’être der Nation. Wer den bewährten Pfad
verlasse, stürze das Land ins Verderben.
Doch Patriotismus und Eigensinn allein
helfen nicht weiter. Jüngste Umfragen
belegen eine wachsende Zustimmung
zur EU-Integration. Im Herbst legen Politiker aus mehreren Parteien ein Volksbegehren für den Uno-Beitritt auf. Erste
Schritte zu einer Regierungsreform sind
gemacht, und das Parlament arbeitet an
einer behutsamen Verfassungsrevision.
Die Erinnerung an die revolutionäre Dynamik der Gründerzeit könnte – anders
als von den unheimlichen Patrioten gedacht – den Mut zum Schritt in die Moderne stärken.
Eigentlich sind es gleich drei historische
Daten, die 1998 mit Feierstunden, Ausstellungen, Publikationen und Volksfesten bejubelt werden: 1648 – vor 350 Jahren – errang der Basler Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein im Westfälischen Frieden für
die Eidgenossenschaft die Unabhängigkeit;
1798 – vor 200 Jahren – besetzten Napoleons Truppen das Land und festigten die
revolutionären Bürgerbewegungen. Und
1848 – vor 150 Jahren – gab sich das Land
eine föderalistische, liberale Verfassung, die
ohne grundlegende Änderungen bis heute
gilt. Eine Fülle von Publikationen und Ausstellungskatalogen ist zum Super-Gedenkjahr angekündigt oder schon erschienen*.
Aus heiterem Himmel begann das Licht
der Freiheit allerdings nicht über den
Alpengipfeln zu leuchten, das demokratische Musterland wurde aus schmerzhaften Konvulsionen geboren. Die französische Besetzung und die folgenden Jahre
der Helvetik gelten in katholischen Landesgegenden bis heute als Zeit schwerer
Heimsuchung.
Zu einem Einheitsstaat zusammengezwungen, waren die Kantone zerstrittener
denn je. Immer wieder kam es zu Unruhen,
Zusammenrottungen und gewalttätigen
Putschversuchen. Aber die Unrast brachte auch vielfältigen Fortschritt hervor.
Das vom Basler Oberzunftmeister Peter
Ochs verfaßte Grundgesetz verankerte die
Menschenrechte und den Gedanken der
Volkssouveränität im Bürgerbewußtsein.
Und zahlreiche Emigranten – vorab aus
Deutschland – stürmten begeistert als Entwicklungshelfer in die junge Republik, um
das zu erreichen, was ihnen daheim versagt
blieb. Der bedeutendste unter ihnen war
* Bruno Meier, Dominik Sauerländer, Hans Rudolf Stauffacher, Andreas Steigmeier (Hrsg.): „Revolution im
Aargau, Umsturz – Aufruhr – Widerstand 1789 – 1803“.
AT-Verlag, Aarau; 328 Seiten und CD-ROM; 74 (bis 31.
August 54) Mark.
Thomas Hildbrand, Albert Tanner u. a. (Hrsg.): „Im Zeichen der Revolution. Der Weg zum schweizerischen
Bundesstaat 1798 – 1848“. Chronos-Verlag, Zürich; 180
Seiten; 38 Mark.
„CH-Chronik, Eine multimediale Reise durch die Zeit“.
3 CD-ROM mit Beiheft; Verlag NZZ, Zürich; circa 60
Mark.
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der 1771 im preußischen Magdeburg geborene Heinrich Zschokke, der sogar – so der
Publizist Markus Kutter – der eigentliche
„Erfinder der schweizerischen Eigenart“
wurde.
Progressive Intellektuelle in ganz Europa verfolgten fasziniert, wie sich die Alpenrepublik, inspiriert durch die Pariser
Julirevolution von 1830, nach und nach aus
den Fesseln der Restauration befreite. Die
Bürger in den Kantonen des Mittellandes
muckten gegen das nach 1815 reanimierte
Ancien Régime auf. Kampflos setzten sie ihre Forderungen nach Volkssouveränität, Gewaltenteilung und
Rechtsgleichheit durch. Nur in Basel, 1798 noch an der Spitze der Revolution, wehrten sich die alten
Patrizier mit Waffengewalt.
Georg Herwegh, als Deserteur
seit 1839 in der Schweiz, reimte auf
seine Wahlheimat:
Das Streben nach Stabilität, das Vermeiden von Risiken, das Schielen auf den
eigenen Vorteil haben die Schweiz in die
Rolle eines ungeliebten und gar nicht mehr
respektierten Außenseiters manövriert.
Seit 1992, als das Volk gegen den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum
stimmte, hecheln Regierung und Parlament hinter Brüssels Bürokraten her,
um die europäischen Rechtsnormen „autonom nachzuvollziehen“ – mit magerem
Erfolg.
Das Asylrecht zum Beispiel
wurde, im Gleichschritt mit den
Nachbarn, immer weiter verschärft. Dennoch strömen Tausende von der EU abgewiesene Armutsemigranten auf die Insel der
letzten Hoffnung.
Noch schwerer lastet der Streit
um den Durchgangsverkehr auf
dem Alpenland. Nachdem sich die
Berner Regierung im Januar mit
„Daß im Schweizerlandrevier,
der EU-Kommission mühsam auf
Sich kein Nacken bücke!
einen Kompromiß beim AlpenKaiser ist der Bürger hier;
transit geeinigt hatte, lehnten die
Vive la république!“
Deutschen das Paket als „inakFür einen großen Teil der Eidgezeptabel“ ab. Bonns Verkehrsminossen waren ein ungebeugter
nister Mathias Wissmann wurde
Nacken und republikanischer Stolz
zum Buhmann der Eidgenossen.
auch 1847 ein Wunschtraum. In
Damit steht für Bern das ganze bimancher Hinsicht glich die Schweiz
laterale Abkommen mit der Euimmer noch dem Land, das Zschokropäischen Union auf Messers
ke 1795 angetroffen hatte: „Ein verSchneide. Aber selbst wenn je
dorrtes politisches Gewächs des
einmal eine Einigung zustande
Mittelalters, ohne nationale Einheit,
kommt, über kurz oder lang
ohne Eintracht der Regierungen mit
scheint ein Beitritt zur Europäiden Regierten.“
schen Union unausweichlich.
In den katholischen Gegenden
Die Frage ist bloß, ob die bürverteidigten die Konservativen hartgerliche Volkspartei FDP noch die
näckig ihre Privilegien. Statt AufKraft hat, die von ihr mitverschulklärung und Bildung für alle zu verdete Isolation zu beenden. Die
breiten, holten sie die Jesuiten, um
Freisinnigen „müssen wieder
der Jugend Gottesfurcht und Remehr Risiken eingehen, durch die
spekt vor der Obrigkeit einzubleuen.
Radikalität der Idee aufrütteln“,
Zweimal, 1844 und 1845, verrät der Christdemokrat Iwan
suchten Freischaren, das konservaRickenbacher. Dessen Partei ist
tive Regiment in Luzern zu stürzen. Anti-EU-Demonstration: „Daß sich kein Nacken bücke“
eben auf klaren EU-Beitrittskurs
Der junge Gottfried Keller zog mit
eingeschwenkt.
ins Gefecht. Das Fieber stieg, als in den des Jahrhunderts, als gefährliche Isolierung
Auch der Sozialist Peter Bodenmann
Kantonen Waadt, Genf, Zürich und Bern herausstellt.
hofft auf eine erneuerte FDP, denn „die
Radikale die Regierung übernahmen und
Erst in letzter Zeit, nach den Enthüllun- politische Mitte muß mit der Linken die
sieben katholische Kantone sich zum gen über die nachrichtenlosen Vermögen Schweiz im europäischen Raum neu posisogenannten Sonderbund zusammen- und den Handel mit dem Raubgold der Na- tionieren“. Die nötige Widerstandskraft geschlossen.
zis, beginnt ein Teil der Schweizer, ihren gen Isolationisten traut Bodenmann am
Der Bürgerkrieg ab Oktober 1847 dau- Staat in neuem Licht zu sehen. Er kommt ehesten Wirtschaftsminister Pascal Coucheerte 26 Tage, etwa hundert Mann fanden ihnen vor wie eine vernachlässigte Pflanze, pin aus dem welschen Unterwallis zu.
den Tod. Klug vermieden es die Sieger, die in einem viel zu engen Topf: eben „ein verAnders als die eigenbrötlerischen
Unterlegenen zu demütigen. Im April 1848 dorrtes Gewächs“, wie es der aus Preußen Deutschschweizer hat die französische
war der Text der neuen Bundesverfassung zugewanderte Zschokke einst beschrieb.
Schweiz in allen Volksentscheiden für die
fertig, „pragmatisch und gemäßigt“, wie
Der Wohlstand der Nachkriegszeit er- Öffnung des Landes gestimmt – und damit
die „Neue Zürcher Zeitung“ damals lob- scheint nicht mehr in erster Linie als wohl- den legendären „Röstigraben“, wie die
te, ein Kompromiß zwischen Zentralisten verdiente Frucht von Fleiß und Freiheit, Sprachgrenze auch genannt wird, deutlich
und Föderalisten, der den kleinen Kanto- sondern als Folge geschäftstüchtiger Will- vertieft.
nen in einer zweiten, gleichberechtigten fährigkeit gegenüber den Nazis und schoCouchepin will seinen Landsleuten desParlamentskammer volle Mitbestimmung nungsvoller Nachsicht der Westmächte im halb vor allem die Angst vor Europa nehsicherte.
Kalten Krieg. Und die Neutralität entpuppt men. „Oder glauben Sie“, fragt er, „wir
Nie wurden die Eidgenossen seitdem sich nicht mehr so sehr als kluge Umsicht, können allein bleiben wie das Dorf von
wie alle ihre Nachbarn durch Kriege und sondern als Heuchelei.
Asterix?“
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KEYSTONE PRESS ZÜRICH / DPA
andere Katastrophen zum Neuaufbau gezwungen. Korrekturen und kleine Reformen genügten, um ihr Staatsgebäude funktionsfähig zu halten.
So verfestigte sich der Glaube an den
Bestand des Überkommenen – und erstarrte allmählich in Selbstgerechtigkeit, in
der überheblichen Gewißheit, das Bestmögliche erreicht zu haben. Fern von allen
Turbulenzen und treu den überlieferten
Grundsätzen, pflegte das Land eine Selbstgenügsamkeit, die sich heute, zum Ende
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