Jedes Wort wirkt

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Tandem
Jedes Wort wirkt
Almut Engelien spricht mit der Sprachforscherin Mechthild von
Scheurl-Defersdorf
Sendung:
27.07.2016 um 19.20 Uhr
Wiederholung vom: 14.11.2014
Redaktion:
Petra Mallwitz
Produktion:
SWR 2014
Bitte beachten Sie:
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weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
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JEDES WORT WIRKT
Almut Engelien:
„Ich schreib noch schnell den Satz zu Ende.“ „Ich mach mal schnell das Fenster zu.“
Mechthild von Scheurl-Defersdorf denkt über solche Sätze lange nach und veranlasst
auch andere, darüber nachzudenken.
Was fällt Ihnen denn auf, an dem Satz: „Ich mach mal schnell das Fenster zu“?
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Dieser Satz scheint fürs Erste völlig normal zu sein und völlig gewöhnlich. Wenn ich
ihn genau betrachte, ist da das Wörtchen „schnell“ drin. Es gibt zwei Aspekte dabei,
Frau Engelien.
Bei dem „schnell“ ist es so, dass der Sprecher hektisch wirkt, eilig wirkt, etwas
verhuscht, je nach Situation auch oberflächlich.
Der Sprachgebrauch wirkt auf den Sprecher selber- Wenn jemand manchmal
„schnell“ sagt und vor allen Dingen dann, wenn’s passt, ist es in Ordnung. Nur, wenn
jemand inflationär „schnell“ sagt, dann sagt das wirklich viel. Dann hängt er noch
„schnell“ die Wäsche auf, dann fährt er „schnell“ ins Büro. Dann hat er noch „schnell“
ein Gespräch zu führen. Und es macht ihm auf Dauer Druck und beschleunigt ihn
selber.
Mich interessiert die Wirkung der eigenen Sprache auf die eigene Persönlichkeit, auf
die eigene Ausstrahlung und natürlich auch auf die Kommunikation, die jemand führt.
Almut Engelien:
Wir sagen dieses „schnell“ ja auch im Sinne von: „Entschuldige, ich will dich nicht
lange aufhalten.“ Es hat auch was mit Höflichkeit zu tun.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Mir ist ein wertschätzender Umgang mit dem Gesprächspartner grundsätzlich
wichtig. Für die meisten ist „schnell“ einfach Gewohnheit. Und das „schnell“ ist oft
gekoppelt mit einem „muss“ oder gar mit einem „muss noch schnell“. Und das hören
manche im Büro, in ihrem Umfeld, ganz oft.
Ich stelle mir immer vor, ich wäre Kundin und frage jemanden nach etwas und
wünsche mir eine Beratung. Wenn derjenige sagt: „Ich muss noch schnell
nachschauen“, fühle ich mich weniger gut beachtet und weniger gut geführt als wenn
der sagt: „Ich schau nach. Ich bin gleich für Sie da.“
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Almut Engelien:
Als ich Ihr Buch las, Ihr erstes Buch, „In der Sprache liegt die Kraft“, das
wahrscheinlich schon so eine Art Standardwerk ist, habe ich natürlich auch über
mein „ich muss dies, ich muss das“ nachgedacht. Und was mir auffiel ist, wenn ich
das „ich muss“ ersetze durch „ich will“ wird mir bewusst, wie viele meiner eigenen
Entscheidungen tatsächlich angenehmerweise nicht durch Zwänge diktiert sind,
sondern durch freie Entscheidung.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Das ist ein gutes Beispiel.
Bei dem „müssen“ habe ich einmal wahrgenommen, dass diejenigen, die oft sagen
„ich muss“, kaum sagen „ich will“, die sagen eher „ich will nicht“.
Und diejenigen, die kaum sagen „ich muss“, die machen einfach oder sie wollen
etwas machen. Der Gebrauch dieser Modalverben „wir müssen“ und „wollen“
unterscheidet sich bei den Einzelnen ganz erheblich. Und das spiegelt sich in dem
Leben wider, das sie führen.
Ich habe früher ganz oft „müssen“ gesagt, ich habe alles „gemusst“, von früh bis
spät. Und ich habe mir selber, und auch meinem Umfeld, viel Druck damit gemacht.
Ich habe dann wahrgenommen, es gibt auch die Möglichkeit ohne so viel „müssen“
zu sprechen. Und ich hab’s einfach weggelassen. Und ich habe geguckt: was meine
ich mit dem „müssen“? Und die meisten „müssen“, die ich gebraucht habe, waren
„müssen“, die in der Zukunft lagen.
Also zum Beispiel:
„Morgen muss ich nach Berlin fahren. Morgen Abend muss ich dort jemanden treffen.
Übermorgen muss ich dann wieder zurückfahren. Und das und das muss ich alles
machen.“
Mein Leben wurde viel leichter, als ich sagte: „Ich werde morgen nach Berlin fahren,
und am Abend werde ich jemanden treffen.“
Ich hatte früher keine Zukunft in meiner Sprache. Vielleicht sah ich die Zukunft auch
nicht so rosig wie ich es jetzt tu.
Almut Engelien:
Kommen Sie an Ihre Seminarteilnehmer so nah ran, dass Sie diesen
Zusammenhang beobachten können, dass Sie tatsächlich sagen können: ja, dieses
viele „ich muss“, was da in der Sprache auftaucht, das finde ich auch in der
Persönlichkeit oder im Lebensgefühl dieses Menschen wieder?
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
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Ich merke es schon bei den Seminarteilnehmern. Ich habe einmal beobachtet, wie es
Menschen geht, die sich im Leben leicht tun, die viel erreichen und wie es umgekehrt
solchen geht, die eben sich viel mehr anstrengen als die anderen, und doch im
Vergleich weniger erreichen.
Und ich bemerkte, dass die einen eine andere Sprache sprechen als die anderen.
Diese Erkenntnis gebe ich meinen Seminarteilnehmern weiter. Und ich mache sie
darauf aufmerksam wie ihr Sprachgebrauch ist, die meisten wissen es gar nicht.
Almut Engelien:
Sie sagen, die meisten wissen es gar nicht. Das heißt, wenn wir uns unterhalten,
dann habe ich wahrscheinlich eine Vorstellung davon, was ich inhaltlich sagen will,
ich habe aber wahrscheinlich oft überhaupt keine Vorstellung davon, wie ich es sage.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Das stimmt. Die Struktur der Sprache spricht eine eigene Sprache, und wir haben
kein natürliches Gefühl dafür.
Almut Engelien:
Was heißt das, wir haben kein natürliches Gefühl dafür?
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Wenn ich Seminarteilnehmer oder irgendjemanden frage, was er vor zehn Minuten
genau gesagt hat, kann keiner es wiedergeben, auch ich könnte es nicht genau
wiedergeben.
Ich frage oft nach:
Waren die Sätze vollständig? Wie war’s beim ersten Mal? Oder wenn es jemand
doch wiedergibt: Wie war’s beim zweiten Mal? Wie war der Gebrauch des Wortes
„aber“? Und sie fangen an dafür ein Gespür zu bekommen.
Almut Engelien:
Also das heißt, das Bewusstsein, wie man etwas ausdrückt, muss selbst bei
Sprachmenschen, also Leuten, die sich viel damit beschäftigen, geschult werden?
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Ich habe Sprachwissenschaften studiert, ich habe drei Sprachen studiert. Und ich
dachte, nach der Universität, dass ich ein gutes Sprachgefühl habe und alles
Wichtige gelernt habe, was mit diesen drei Sprachen zu tun hat.
Almut Engelien:
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Das war Französisch, Arabisch und Englisch.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Ja. Doch das, was ich jetzt lehre, ahnte ich damals noch überhaupt nicht. Davon
habe ich nichts gehört. Denn mir geht’s ja dabei hauptsächlich darum: Wie denke
ich? Und welche Wirkungen haben meine eigenen Gedanken auf mich und natürlich
auch auf die Kommunikation?
Ich merke es bei Seminarteilnehmern, an ihren Rückmeldungen, wenn ich sie dann
wieder höre oder wieder sehe oder eine E-Mail von ihnen bekomme, lese ich oft: „Ich
habe jetzt tatsächlich mehr Zeit. Ich bin mehr bei der Arbeit, die ich gerade mache.
Ich bin viel frischer als ich es immer war, mit dem vielen „müssen“.
Almut Engelien:
Wir haben ja jetzt im Grunde genommen bisher nur über drei Dinge geredet, erstens
über den routinemäßigen Gebrauch des Wortes „schnell“, zweitens den
routinemäßigen Gebrauch von „ich muss dies, ich muss das“ und drittens, dass
überhaupt kein Futur existiert, also dass eigentlich im Bezug auf die Zukunft
meistens im Präsens gesprochen wird.
Und alleine diese drei Dinge, sagen Sie, erleben Ihre Seminarteilnehmer schon als
ganz wichtig für die Verbesserung ihres Lebens?
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Diese drei Aspekte, die wir jetzt betrachtet haben, bringen wirklich eine
Entschleunigung und eine Steigerung der Wirksamkeit.
Ich merk’s an mir auch selber, ich erreiche viel mehr als früher und ich habe mehr
freie Zeit.
Almut Engelien:
Und kann es nicht sein, dass da ganz viele andere Sachen auch eine Rolle spielen,
außer diesen sprachlichen Veränderungen, dass Sie vielleicht Körperarbeit gemacht
haben, dass Sie andere Dinge in Ihrem Leben klären konnten?
Ich meine, Sie sind Jahrgang 1952, Sie sind jetzt nicht mehr blutjung, Sie sehen
Dinge mit Erfahrung. Das spielt doch auch eine sehr hilfreiche Rolle, um Dinge
ruhiger zu tun.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Ja. Und doch hat dieser sprachliche Aspekt eine große Bedeutung.
Es ist ja so, ich habe mich entwickelt, andere Menschen entwickeln sich, das tun wir
alle. Erstaunlicherweise bleibt die Sprachstruktur so, wie sie immer war. Wir fangen
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an, andere Wörter zu gebrauchen. Je nachdem was wir beruflich tun, benutzen wir
andere Wörter als in unserer Jugend und in unserer Ausbildungszeit.
Doch der Satzbau und der Umgang mit einzelnen Wörtern, bleibt so gut wie
identisch. Und wenn jetzt Menschen sich weiterentwickelt haben, wirkt das bewusste
Wahrnehmen und Weiterentwickeln der Sprache wahre Wunder, denn die Sprache,
die sie weiterhin sprechen, passt ja nicht mehr zu dem, was sie schon lange
entwickelt haben. Und mit der Sprache, die sie noch sprechen, halten sie alte Denkund Verhaltensstrukturen aufrecht.
Almut Engelien:
Ich wollte noch mal auf eine andere Zeitfrage kommen, weil ich diese
Grammatikfragen so interessant finde. Wenn man Berichte liest, auch ich von meinen
Töchtern, dann stellt man oft fest, dass in der Vergangenheit überwiegend nur noch
das Perfekt benutzt wird, also das Präteritum „ich ging, ich trat ein, ich besuchte“
existiert quasi nicht.
Und Sie sagen, dass das eine ganz starke psychologische Dimension hat, ob man
das Perfekt oder das Imperfekt benutzt. Worin besteht die?
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Das Perfekt heißt auch „unvollendete Gegenwart“, dann bleibt etwas offen.
Auch hier kann ich im Konkreten ein Beispiel nehmen, auch von einer Lehrerin, die
sagte, dass sie in der Schule an diesem Tag Grammatik machen wird, und zwar den
Umgang mit den Zeiten. Bei der ersten Nachricht war die Hälfte der Klasse
gelangweilt und bei der Ankündigung, dass es um Präteritum und Perfekt geht, war
der Rest auch gelangweilt.
Dann sagte sie diesen Zwölfjährigen, es war eine 6. Klasse: „Wenn ihr den
Unterschied kennt, dann werdet ihr mit dem nächsten Liebeskummer leicht
klarkommen.“ Da waren sie alle da und sie hatten alle Interesse. Und sie sagte:
„Spürt mal den Unterschied: Elisabeth hat mich verlassen.“ und sie wiederholte:
„Elisabeth hat mich verlassen. Im Vergleich zu: Elisabeth verließ mich.“ Es meldete
sich ein 11/12-Jähriger und sagte: „Elisabeth hat mich verlassen; das tut noch weh.
Elisabeth verließ mich; da gucke ich nach einer Neuen.“
Und sie fragten, wann sie wieder Grammatik machen dürfen.
Also beim Präteritum haben wir eine abgeschlossene Sache und wir können etwas
abschließen und hinter uns lassen und uns dem Neuen zuwenden. Wir werden
emotional frei. Das ist ein großer Schlüssel für viele belastende Dinge, die Menschen
beruflich oder privat mit sich herumtragen.
Das ist auch ein wichtiger Faktor für Anamnesegespräche von Ärzten und
Therapeuten, die die Krankheitsgeschichte eines Menschen abfragen. Wenn
derjenige fragt: „Was ist denn in dem Krankenhaus geschehen und was haben die im
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Krankenhaus gemacht?“ rühren er viel mehr emotional bei dem Patienten auf, als
wenn man fragt: „Was geschah im Krankenhaus? Was machten die dann?“
Dann bekommen sie eine sachliche Information. Während sie beim Perfekt den
anderen emotionalisieren, es ist nicht immer dienlich das zu tun.
Almut Engelien:
Also ich habe gelernt, das Imperfekt oder auch Präteritum, es gehen ja beide
Ausdrücke, sei die erzählende Form. Und es ist wirklich interessant, dass Menschen
Dinge, die 10 Jahre zurückliegen, im Perfekt erzählen.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Die meisten Menschen brauchen tatsächlich nur zwei Zeitstufen: Präsens, für alles
Gegenwärtige und Zukünftige, und Perfekt für alles was jemals war.
Almut Engelien:
Da müssen Sie mal Heidi Klum schulen, die sagt immer alles im Plusquamperfekt.
Das ist das eigenartigste Phänomen, was ich kenne, die sagt zu allem „hatte“.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Das stimmt, viele können mit dem Plusquamperfekt nicht umgehen, sie gebrauchen
es einfach standardmäßig.
Almut Engelien:
Gießkannenartig, genau.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Also, hier ist ein großer Schatz zu holen.
Almut Engelien:
Ja.
Was auch in diese Gruppe gehört, von Dingen, die stressen oder entstressen in der
Sprache, ist „ich kann nicht“.
Wir sagen ja oft aus Höflichkeit „ich kann nicht“ oder „ich kann jetzt nicht länger, ich
muss los“, weil wir vielleicht Angst haben denjenigen, mit dem wir sprechen, zu
brüskieren, indem man sagt: „Ich möchte jetzt losfahren.“
Sie messen ja dem „ich kann nicht“ eine ganz große Bedeutung zu. Was befürchten
Sie denn eigentlich, was das bewirkt?
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Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Das „ich kann nicht“ kommt von „können“. Wenn jemand gewohnheitsmäßig sagt „ich
kann nicht“ negiert er sein Können, er verneint sein Können. Und meistens ist es ja
auch gar nicht wahr, wenn er sagt: „ich kann etwas nicht“, er könnte eine andere
Formulierung gebrauchen.
Wenn ich jetzt höflich sein will und mit jemandem im Gespräch bin, kann ich ja auch
sagen: „Frau Schneider, ich habe mich gefreut Sie zu treffen, ich würde jetzt gerne
mit Ihnen weiter plaudern. Ich habe meiner Tante versprochen, sie um vier Uhr
abzuholen und deswegen fahre ich jetzt weiter. Ich wünsch Ihnen einen schönen
Tag.“
Warum soll ich sagen:
„Ich kann jetzt leider nicht mehr mit Ihnen sprechen, ich muss jetzt meine Tante
abholen“? Dann habe ich ein „ich kann nicht“ und ein „muss“.
Dieses Phänomen mit dem „kann nicht“ ist häufig.
Ich habe eine Dame vor Augen, die in einer Bank, in einer mittleren Position tätig ist.
Sie sagte oft: „Ich kann das jetzt nicht weiter ausführen“ z. B. in einer Besprechung.
„Ich kann Ihnen das jetzt nicht sagen.“ Und sie fand Alternativen dafür, zum Beispiel:
„Da fehlen mir noch die erforderlichen Informationen. Ich werde die einholen und ich
werde Sie morgen informieren.“
Auf diesem Weg hat sie viel mehr Selbstbewusstsein entwickelt. Und sie berichtete,
dass die Kollegen mehr auf ihr Wort geben als jemals zuvor. Es geht soweit, dass ihr
Vorgesetzter kommt und sagt: „Bitte schauen Sie einmal über diesen Text. Sie haben
so eine große Sensibilität für die Sprache gewonnen.“
Almut Engelien:
Wie weit geht das eigentlich, dass man quasi den eigenen Lebensplan mit der
Sprache bestimmt?
Ich erlebe selber, dass Leute sich in Gefühle regelrecht reinreden. Neulich hatte mein
Zug irgendein Problem und blieb länger stehen auf dem Gleis, und neben mir
telefonierte eine Frau. Die gab so eine Kanonade von sich, wie: „Ich krieg die Krise,
meine Nerven liegen blank. Ich bin jenseits vorn gut und böse…..“
Das war eine unglaubliche Ansammlung von hektischen Worthülsen und ich hatte
das Gefühl: es wird ihr immer schlechter gehen, so wie sie gerade redet.
Sie sagen, es ist nicht nur die Situation, es ist tatsächlich der Lebensweg, der oftmals
dadurch bestimmt wird?
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
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Ja, es gibt tatsächlich eine Wechselwirkung von Sprache und Lebensthemen, die
jemand hat. Und jemand, der selbstbewusst ist, glücklich ist und in sich ruht, hat eine
andere Sprache als jemand, der genau das krasse Gegenteil ist.
Almut Engelien:
Sie wählen einmal eine Formulierung in Ihrem Buch „In der Sprache liegt die Kraft“,
da sagen Sie, es gebe die Sprache der Visionäre, die Sprache der Erfolgreichen, und
es gebe die Sprache der Opfer und der Abhängigen, der Kranken und der
Erfolglosen.
Das klingt ganz schön krass und fast nach Schubladen. Ich meine, wenn ich wirklich
Opfer werde, dann will ich eigentlich nicht hören, dass es eine Sprache der Opfer
gibt.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Die gute Botschaft daran ist: jeder kann jederzeit seine Sprache wandeln und die
Verantwortung für seine Sprache und sein Denken auf sich nehmen.
Und wenn ich weiß, dass das Opferdenken eine der vier einengenden
Denkstrukturen ist, dann lohnt es sich, dahin zu schauen.
Wir haben ja vier einengende Denkstrukturen. Die eine ist: „Ach, ich armes Opfer, die
Umstände sind schuld. Ich habe ja gar keine Möglichkeit etwas zu ändern.“
Die andere ist die chronische Lust am Problem, also es dreht sich alles immer nur
um Probleme, im Gegensatz zu einem lösungsorientierten Denken.
Die dritte einengende Denkstruktur zeigt sich auch in der Sprache und gerade im
Satzbau. Das ist Wischi-Waschi-Denken. Dazu gehören beispielsweise viele
„eigentlich“ und „man sollte mal“ und „würde, hätte, könnte“. Wo einer sich nicht
festlegt.
Und das Vierte ist das Denken in der falschen Richtung. Wenn jemand immer
benennen kann was er nicht will, der dann ganz viele Verneinungen in seiner
Sprache hat und überall sagt: „Das ist nicht schlecht. Also auch das Referat war nicht
schlecht, das Konzert war nicht schlecht.“ Der denkt in der falschen Richtung. Ist es
nun gut oder ist es schlecht?
Oder wenn jemand sagt:
„Ich will nicht zu spät kommen“, da denkt er auch in die falsche Richtung. Er könnte
doch sagen: „Ich will rechtzeitig da sein.“
Almut Engelien:
Wenn man anfängt sich so mit Sprache zu beschäftigen wie Sie es tun, kommt man
nicht in einen unheimlichen Sprachkrampf? Also man fängt ständig an, sich zu
beobachten.
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Wie geht es denn Ihren Seminarteilnehmern? Ich denke so ein bisschen an den
Tausendfüßler, wo es nicht mehr funktioniert mit dem Gehen, weil er drüber
nachdenkt, was er da mit seinen tausend Füßen macht.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Ich will nicht die tausend Füße nehmen, sondern die, noch viel zahlreicheren Wörter,
die wir haben, mehr als tausend.
Das ist der Vorteil des Seminars gegenüber dem Lesen eines Buches.
Natürlich höre ich oder auch Dr. von Stockert, mit dem ich die offenen Seminare zum
Großteil gemeinsam halte …
Almut Engelien:
Der ist Neurologe und Psychotherapeut.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Genau.
Natürlich hören wir die Sprache eines Menschen. Und dann werden wir gezielt einen
Hinweis geben, einen oder zwei. Und alle anderen 999 Füße des Tausendfüßlers
dürfen weiterlaufen wie’s war. Denn es ist wichtig, dass es leicht geht. Und dass
jemand auch sagt: „Mit dem einen Wort kann ich was anfangen. Der Tipp ist gut.“
Jemand, der auf mich sehr problemorientiert wirkt, den frage ich zum Beispiel, ob er
das Wort „Lösung“ in seiner Sprache hat. Lösen oder Lösung, hm, denkt er dann
nach. Und oftmals kommt ihm kaum ein Beispiel in den Sinn.
Umgekehrt frage ich:
„Gebrauchen Sie das Wort Problem?“ „Ja, das gebrauche ich oft.“ „Aha“ frage ich
dann „und was von beidem haben Sie häufiger, Lösungen oder Probleme?“ „Na,
Probleme.“ Aha, und dann frage ich: „Merken Sie einen Zusammenhang?“
Almut Engelien:
Aber es ist trotzdem so, dass ich, als ich jetzt in Ihren Büchern gelesen habe und
anfing, über meine Sprache nachzudenken, dass ich da ein bisschen verkrampft
wurde. Also die Spontanität ist erst mal weg.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Für die ersten 5 bis 7 Wochen ist es so. Das stimmt.
Wenn ich einem Seminarteilnehmer sage: „Fangen Sie nur mit einem Wort an!“, dann
ist es überschaubar. Und ich reduziere die Aufgabe sogar noch mal und sage:
„Vielleicht die erste Stunde am Morgen“, dann geht das Verkrampfte raus.
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Und es geht nur mit Humor und mit Lachen und mit Leichtigkeit.
Almut Engelien:
Liebe Frau von Scheurl, wir haben jetzt schon viel über sprachliche Gewohnheiten
gesprochen. Wie sind Sie denn selbst eigentlich darauf gekommen? Gab es so einen
„Kasus Knacksus“, wo es bei Ihnen plötzlich losging im Kopf?
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Der „Kasus Knacksus“ kam mit einer Bemerkung. Es war die Bemerkung einer
Ärztin. Ich brachte damals meinen Mann zu einer Untersuchung. Mein Mann ist früh
erkrankt an einer langwierigen und schweren Erkrankung. Und als ich ihn wieder
abholte, sagte sie ein paar Sätze zu mir, der wichtigste dabei war: „Junge Frau, so
wie Sie reden, denken Sie falsch. So können Sie Ihr Paket nicht tragen. Lernen Sie
neu zu denken.“
Und von da an fing ich an, auf meine Sprache zu achten.
Almut Engelien:
Worauf wollte die Sie denn stoßen?
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Im Rückblick ahne ich, wie ich gesprochen habe. Von den Wörtern her war bestimmt
in diesen 4, 5 Sätzen, die ich mit ihr gewechselt habe, „schnell“ drin, „müssen“,
„Problem“. Dann habe ich sehr schnell gesprochen. Dann habe ich viele Negationen
gemacht, dass etwas „nicht“ ist oder „nicht“ schwierig ist oder „nicht“ erforderlich ist.
Ich habe viele, viele Passivsätze gebraucht.
Und durch den bewussten Umgang mit der Sprache fand ich mich immer mehr. Ich
wurde ruhiger und ich fand Möglichkeiten aktiv gestaltend einzugreifen. Ich konnte
zunehmend aus diesem Hamsterrad herauskommen, in das ich geraten war.
Almut Engelien:
Sie haben viel Erfahrung mit Feldenkrais-Arbeit, Sie haben verschiedene
psychotherapeutische Ansätze, auch Ausbildungen gemacht.
Bei Ihnen war und ist bis heute das Schlüsselerlebnis die Sprache?
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
So ist es. Als Pfarrerstochter habe ich lange gebraucht, um zu begreifen, wie wahr es
ist: im Anfang war das Wort.
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Das ist ja der Beginn des Johannes-Evangeliums. Und zu sehen, erst kommt das
Wort oder der Gedanke, und dann kommt die Tat, und daraus entwickelt sich eine
Gewohnheit.
Almut Engelien:
Sie arbeiten eine ganze Menge mit Führungskräften und mit Pädagogen, also mit
Menschen, die wiederum mit vielen Menschen arbeiten.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Ja.
Almut Engelien:
Worum geht es da in erster Linie, wenn Sie in Firmen mit Führungskräften arbeiten?
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Das Lingua Eterna Sprach- und Kommunikationskonzept ruht auf drei Säulen, als da
sind: die Präsenz des Sprechers, die Klarheit der Botschaft und die absolute
Wertschätzung dem Gesprächspartner gegenüber.
Und wenn ich Firmenschulungen habe, dann habe ich das im Blick: wie kann
jemand, ein Mann oder eine Frau, ihre Präsenz, alleine durch Sprache stärken? Was
kann er tun, um die Botschaft klar zu haben? Und wie kann er Wertschätzung zum
Ausdruck bringen?
Almut Engelien:
Ich habe mit Interesse gelesen, dass Sie die drei A empfehlen, fast wie ein
Patentrezept. Die drei A sind also: Anrede mit Namen, Anschauen …
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
… und ein Atemzug, ist das dritte A.
Almut Engelien:
Und das bewirkt was, diese drei A?
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Die drei A stehen für eine wertschätzende und gelungene Kontaktaufnahme. Bei den
drei A klingt es so: „Frau Schneider, ich habe eine Information für Sie.“
Nach diesem „Schneider“ ist eine minimale Pause, „Frau Schneider, ich habe eine
Information für Sie.“ Gängig ist zu sagen: „Frau Schneider ich hab eine Information
für Sie.“
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Und wenn wir jetzt Kinder anschauen, die brauchen die immer, die drei A, die sagen:
„Mama?“
Almut Engelien:
Und dann warten sie, ob Mama guckt oder „ja“ sagt.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Ja. Genauso beim Papa.
Und Kinder erreichen viel.
Wir haben einen kleinen Prozentsatz an Menschen, die diese Sprache pflegen und
gebrauchen.
Almut Engelien:
Ja, und die kommen natürlich besser durch, mit dem was sie sagen wollen.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf:
Neulich hatte ich eine Firmenschulung, die dauerte eineinhalb Tage. Und ich zeigte
etwas zu den drei A, und dazu wie wir einander im Büro am Morgen begrüßen
können oder wie wir uns auch am Abend verabschieden können.
Eine Dame hat das übertragen auf die Familie. Sie begrüßte ihren Mann genau so,
mit den drei A. Und sie sagte: „Frau von Scheurl, Sie haben uns eine neue
Lebensqualität geschenkt. Unser Sohn hat heute früh genau das angewendet, was
ich ihm gestern Abend vorgemacht habe.“ Er sagte: „Papa, ich wünsche dir einen
schönen Tag.“ Daraufhin hat der Mann sich rumgedreht: „Ich wünsche dir auch einen
schönen Tag.“ Und auch zur Frau. Und er küsste die Frau und er küsste den Sohn.
Sonst hatte es immer nur geheißen: „Passt alles? Ich geh dann mal weg. Ich bin
heute Abend ein bisschen später da.“
Sie war beglückt und sagte: „Das ist so einfach“.
Ein Kind mit 6,7 Jahren greift sowas spontan auf, macht das am nächsten Morgen
und initiiert so etwas in einer Familie.
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