SWR2 Forum Buch

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Forum Buch
Vom 24.07.2016 (17:05 – 18:00 Uhr)
Redaktion und Moderation: Carsten Otte
Mit neuen Büchern von: Zoë Beck, Max Annas, Simone Buchholz, Andrea Fischer
Schulthess und Bettina Balàka
Gespräch mit der Schriftstellerin Zoë Beck ("Schwarzblende", Heyne Verlag)
über Trends und Themen in der deutschen Krimi-Szene
Max Annas: "Die Mauer"
Psychothriller
Rowohlt Verlag
224 Seiten
12 Euro
Rezension von Theresa Hübner
Simone Buchholz: "Blaue Nacht"
Kriminalroman
Suhrkamp nova
235 Seiten
14,99 Euro
Gespräch mit Ulrich Noller
Andrea Fischer Schulthess: "Motel Terminal"
Kriminalroman
Salis Verlag
320 Seiten
24,95 Euro
Rezension von Frank Rumpel
Bettina Balàka: "Die Prinzessin von Arborio"
Roman
Haymon Verlag
264 Seiten
19,90 Euro
Rezension von Carolin Courts
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:
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Max Annas: "Die Mauer"
Schon sein Debüt „die Farm“ wurde gefeiert- den deutschen Krimipreis hat er dafür
bekommen – und nun ist sein zweites Buch erschienen. „Die Mauer“ heißt es und
Max Annas hat es geschrieben. Vielleicht sagt Ihnen der Name noch nichts, sollte er
aber, vor allem wenn Sie auf gute Krimis stehen. Max Annas lebt in Berlin aber er
war auch lange Zeit in Südafrika zu Hause und genau dort spielt „die Mauer“.
Theresa Hübner hat Max Annas‘ zweiten Kriminalroman gelesen und führt Sie jetzt
also nach Südafrika, genauer, mitten in eine „gated community“.
On Autorin
In den meisten Horrorfilmen weiß man schon nach wenigen Minuten wer am Ende
am blutigen Haken des irren Schlächters baumeln wird.
Irgendwo im Nirgendwo landen sie dann, die armen Ahnungslosen - Autopanne,
Handy tot - dumm gelaufen.
(winzige Kunstpause☺ )
Der Ahnungslose in Max Annas‘ Thriller „die Mauer“ ist Moses – sein Toyota bleibt
liegen, das Handy sagt keinen Piep mehr – er braucht Hilfe.
S. 15
Moses stieg aus und schaute sich um. Suburbia. Gehobene Mittelklasse. Drei
Meter Rasen zwischen Straße und Mauer, eingeschossige Häuser, zwei
Garagentore, Scherben oder Strom auf der Mauer, um ungebetenen Besuch
abzuhalten.
Klingt erst mal nicht sonderlich bedrohlich, diese Umgebung. Aber gleich, wenn
Moses durch das Tor tritt, wird sein ganz persönlicher Horror beginnen – ohne
Schlächter – aber vergleichbar grauenvoll.
S. 16
Das Tor schloss sich langsam wieder. Moses lief ein paar Schritte und zwängte
sich gerade noch durch den schmalen Spalt, bevor die Gated Community
wieder verschlossen war.
Das metallische Klacken des Tors hallte noch nach in Moses' Kopf, als er sich
fragte, ob er hier tatsächlich richtig war. Die sahen schon alle gleich aus, diese
Gated Communities.
Kurze Begriffsklärung. „Gated community“ - die Übersetzung „geschlossener
Wohnkomplex“ wird all dem, was hinter dem Begriff sonst noch steckt, nicht gerecht.
In Südafrika findet man sie in fast jeder größeren Stadt: eingezäunte, gut-bewachte
Wohnkomplexe. Vornehmlich Weiße leben hier, sie wollen Ruhe und Sicherheit –
Schutz vor dem was draußen vor den Mauern lauern und die Idylle drinnen trüben
könnte. In so einem Hochsicherheitswohngebiet sucht Moses nun also nach Hilfe
Angst hat er nicht, warum auch, er hat nichts verbrochen, will zum Haus eines
Kommilitonen. Vielleicht kann der helfen mit dem kaputten Auto oder ihn zumindest
telefonieren lassen.
Doch ein weiteres Merkmal der „gated communities“: privates Sicherheitspersonal.
S. 31
„Hast du dich verlaufen?“ Der Referee. Und was er locker schwingend in der
Hand hielt, war keine Pistole. Aber was dann?
„Bist ja auch weit weg von zu Hause, mein Junge!“ Der mit dem Stock.
„Was machen wir nur mit dir?“ Der Referee.
„Wollen wir ihm eine Lektion erteilen?“ der andere schlug den Stock fest in die
Innenseite der anderen Hand.
„Wou, wou... „sagte Moses und hob die Hände vor die Brust als Zeichen der
Friedfertigkeit. „Ich wollte nur einen Freund besuchen. Wo ist das Problem?“
„Hm, ein Freund“ Der Stock schlug jetzt rhythmisch in die eigene Hand.
Tacktack, tacktack, tacktack.
„Sollte man gar nicht meinen, dass jemand wie du hier einen Freund hast“ Der
Referee.
„Meinst du, wir haben den Richtigen?“
On Autorin
Den Richtigen? Nein, den haben die beiden weißen Sicherheitsleute nicht. Aber auf
die Idee kommen sie nicht, denn Moses passt einfach perfekt ins Bild. Er ist männlich
und schwarz. Er sieht etwas abgerissen aus, denn am Morgen hat er seinem
Professor bei Umzug geholfen. Als er sich dann auch noch beim Anblick der
bewaffneten Weißen und aus Angst vor Prügel aus dem Staub macht, sind die
Verfolger sicher: das ist der gesuchte Dieb. Der dem armen alten Nachbarn den
wertvollen Familienschmuck geklaut hat.
Die Jagd auf Moses beginnt – und die wahren Einbrecher verstehen die Welt nicht
mehr.
S. 37
Aus dem Fenster sah er, wie jemand joggte. Ziemlich schnell sogar. Ein junger
Schwarzer.
Eigentlich war das kein Joggen gewesen, was er da gesehen hatte, dachte
Thembinkosi. Der Junge war vor etwas davongelaufen.
Jetzt kam auch noch ein älterer Weißer gerannt. Okay. Nicht vor etwas. Vor
ihm.
Stress, dachte Thembinkosi. Stress war nicht gut für ihre Arbeit.
On Autorin
Denn da gibt es noch andere „Besucher“ in der Gated Community. Thembinkosi und
seine Frau Nozipho – ein schwarzes Gaunerpärchen sind die wahren Einbrecher und
gerade dabei ein Haus leerzuräumen. Die beiden wollen eigentlich gerade das
Einbruchshaus mit der Beute verlassen- doch in der Tiefkühltruhe des Hauses in das
sie eingebrochen sind, liegt eine Leiche. Eine Weiße noch dazu. Die Haut noch
warm. ermordet.
S. 56
Nozipho öffnete die Truhe wieder. „Wir haben sie da nicht reingelegt. Wir
haben sie nicht umgebracht. Wir verschwinden einfach, und das war es.“ Sie
schloss die Klappe wieder.
On Autorin
Doch so einfach wird das nicht mit dem Verschwinden – denn draußen ist die Hölle
los, der junge Moses wird vom Sicherheitspersonal durch die Gated Community
gejagt.
Max Annas lässt diese beiden Handlungsstränge parallel ablaufen: die des
schwarzen Einbrecherpärchens und die des jungen Schwarzen Moses, der in der
Gated Community um sein Leben läuft.
S. Moses rannte weiter. Endlich auf der Straße. Nach links und weiterlaufen.
Nur nicht stehen bleiben. Kurzer Blick zurück. Da waren Leute. Weit weg.
Laufen.
Wie er schwitzte.
Hatten diese Security-Leute eigentlich Schusswaffen?
Laufen, dachte Moses. Nur laufen.
On Autorin
„Die Mauer“ ist ein Thriller – hochspannend. Wird Moses aus der Gated Community
herausfinden? Wer ist die tote Frau in der Kühltruhe, was hat es mit dem vielen Geld
im Aktenkoffer auf sich und wie können Thembinkosi und seine Frau unbemerkt
entkommen?
Aber es geht Annas nicht nur um Spannung. Klar macht es Spaß mit zu fiebern, mit
zu rätseln. Aber der offensichtliche Mord an der weißen Frau in der Tiefkühltruhe
steht nicht im Fokus – es geht um viel, viel mehr. Die eigentlichen Themen sind die
ganz großen – eingemauert, eingekreist und damit auf den Punkt gebracht. Das
Schöne dabei: Max Annas spricht diese Themen zwar an – aber er reibt sie dem
Leser nicht plump-belehrend unter die Nase, sondern lässt ihn geschickt eigene
Gedanken entwickeln. Das Thema Rassismus zum Beispiel – nie geht es direkt
darum – und doch sind, 22 Jahre nach Ende der Apartheid, die alten Denkmuster
und Reflexe noch immer präsent. Keiner weiß das besser als der Gejagte Moses. Er
weiß: er ist nicht einfach zur falschen Zeit am falschen Ort – er ist als Schwarzer zur
falschen Zeit am falschen Ort und das kann tödlich enden.
S. 109
Was wäre geschehen, wenn er sich den beiden Weißen ergeben hätte? Ganz
am Anfang...
Sie hätten die Polizei gerufen und ihn verprügelt.
Nein. Sie hätten ihn verprügelt und dann die Polizei gerufen. Er hat sich
gewehrt. Wir hatten keine Wahl, hätten sie behauptet.
In der Station hätten ihn die Polizisten noch einmal verprügelt. Einer von ihnen
hätte ihn vielleicht vergewaltigt. Oder ein Häftling in einer Zelle hätte das
erledigt. Und die Polizisten hätten dabei zugesehen.
Es war richtig gewesen, zu laufen.
Aber auch wenn „die Mauer“ Südafrika spielt – es geht hier nicht nur um Südafrika.
Die gleichen Szenen könnte man auch nach Baton Rouge oder Dallas verlegen. Zur
falschen Zeit mit dem falschen Aussehen am falschen Ort – das wird an vielen Orten
der Welt zum Problem. Und die Mauer, die die Weißen sich um ihre kleine Idylle
gezogen haben – auch sie ist überall. Überall dort wo die Wohlhabenden sich gegen
die verteidigen wollen, die weniger haben und gerne mitspielen möchten im großen
Globalisierungsroulette. Max Annas Mauer steht auch in Europa, bildet die Festung
„Europa“ und soll die draußen halten, die von unserem Wohlstand etwas abhaben
wollen. Wer ist drinnen, wer muss draußen bleiben?
S. 55
Moses stand immer noch hinter der schulterhohen Mauer und versuchte zu
verstehen, wo genau er war. Der Sinn der Mauern und der elektrischen Drähte
und der Überwachung war ja, dass niemand reinkommen konnte, der nicht drin
sein sollte. All die Einbrecher und Strauchdiebe, die Armen und
Benachteiligten, vor denen man sich halt schützte.
All das erzählt Max Annas auf schlanken 220 Seiten. Sein Thriller ist meisterhaft
komponiert, da ist kein Wort zu viel. Man kann das Buch bequem in knapp drei
Stunden durchlesen – man wird es definitiv in knapp drei Stunden durchlesen, denn
diese Geschichte ist so spannend, das es schwerfällt sie zu unterbrechen.
Auch die irre Jagd auf Moses in den Mauern der Gated Community ist in wenigen
Stunden vorbei. Und findet ein Finale auf das das Wort „famos“ wohl am besten
passt.
S. 164
Moses verstand nicht, was die Uniform redete. Der Hund hörte nicht auf zu
bellen. Verrückt. Dann hörte er ein anderes Geräusch. Und obwohl er wusste,
dass diese Dinger immer anders klangen als im Fernsehen und im Kinos.. er
wusste, das war ein Schuss.
Andrea Fischer Schulthess: "Motel Terminal"
Die Fälle von Natascha Kampusch und Elisabeth Fritzl, die jeweils über Jahre
gefangen gehalten und misshandelt wurden, bilden den realen Hintergrund für "Motel
Terminal", den Debütroman der Schweizer Autorin Andrea Fischer Schulthess.
Allerdings erzählt sie dann doch eine ganz andere Geschichte. Bei ihr hält eine
Mutter ihre Tochter gefangen, nicht um sie zu quälen, sondern um sie zu
beschützen. Vor der Welt und den Menschen. Doch eine solche Fiktion, welche die
Mutter da um die Tochter herum aufbaut, kann nicht ewig halten, muss irgendwann
zu bröseln beginnen, wenn das Kind älter wird, hat sich die Autorin gedacht. Und auf
genau dieses Fiasko steuert Andrea Fischer Schulthess in ihrem Roman denn auch
zu. Frank Rumpel stellt uns das Buch vor.
-----------------------------------------------------------Autor:
Für die zwölfjährige Meret ist die Welt ein Zimmer. Und dieses Zimmer ist im ersten
Stock eines heruntergekommenen, ehemaligen Stunden-Motels außerhalb von
Zürich, ein zweistöckiger Kasten aus den Sechziger Jahren. Meret kennt nichts
anderes. Seit ihrer Geburt ist sie dort, darf nicht hinaus, weil alles dort draußen böse
und gefährlich ist. So hat es ihre Mutter Nora erzählt, die sie, mit Hilfe ihrer
Großtante Julie, dort gefangen hält. Und die aufgeweckte Meret hat jede Menge Zeit,
über Gott und die Welt nachzudenken.
Zitat aus "Motel Terminal":
Das einzig Blöde an Gott ist, dass ich Angst habe vor ihm. Julie sagt, dass er alles
sieht und weiß. Ein bisschen erinnert er mich an Mama. Sie weiß auch immer alles,
was ich tue, esse, sage. Sie macht mir auch manchmal Angst.
Autor:
Auf den ersten Blick weckt das Setting in Andrea Fischer Schulthess eindrücklichem,
aber nicht durchweg überzeugendem Debütroman "Motel Terminal" Erinnerungen an
ganz reale Fälle, vor allem an jenen von Elisabeth Fritzl, die im österreichischen
Amstetten von ihrem Vater 24 Jahre lang gefangen gehalten und schwerst
misshandelt wurde.
Und doch trügt der Schein, denn die 1969 in Zürich geborene Autorin erzählt hier
eine etwas andere Geschichte: Hier hält eine Mutter ihre Tochter versteckt, nicht um
sie zu quälen, sondern um sie von der Welt abzuschirmen, zu beschützen. Fischer
Schulthess hat damit die Vorzeichen einer solchen Tat radikal umgekehrt. Im Kern
geht es hier eben nicht um männliche Machtphantasien, sondern um Liebe zumindest so eine Art Liebe. Im Ergebnis ändert das freilich nicht viel. Meret war Zeit
ihres Lebens noch nie an der frischen Luft, weiß nicht, wie sich Schnee anfühlt oder
eine Schokotorte schmeckt. Sie bekommt nur abgepacktes Essen, damit nur ja keine
Krankheitserreger und Keime an sie herankommen. Ihre Tagesabläufe sind
peinlichst genau organisiert und überwacht. Da ist nicht viel Platz für Geheimnisse.
Eines ist Merets Tagebuch, in dem sie mal reflektiert, mal unbedarft über ihre
Situation nachsinnt. Starke Passagen sind das, auch weil da eine Gefangene kleine
Puzzleteile einer ihr neuen Welt zusammenfügt, wenn sie etwa in Abwesenheit der
Mutter mit Julie das Haus erkundet.
Zitat aus "Motel Terminal":
Ab und zu ist sie in mein Zimmer gekommen und hat ihren dünnen Zeigefinger
übertrieben geheimnisvoll unter ihre Nase gedrückt und laut "Pssst" gemacht, bis
kleine Spucketeilchen aus ihr herausgespritzt sind. Dann haben wir immer gelacht
und ich bin hinter ihr her auf den Teppich vor meinem Zimmer geschlichen. Er ist
ganz weich zwischen den Zehen und der Staub klebt an den Füßen wie ein feines
Fell.
Autor:
Es sind diese kleinen, sinnlichen Wahrnehmungen, die einen sehr genauen Eindruck
vermitteln, hier etwa von der Miefigkeit des ausrangierten Stundenhotels und seiner
angejahrten, Baileys trinkenden Hüterin Julie. In kurzen Kapiteln springt die Autorin
zwischen ihren Figuren hin und her, rückt ihnen zu Leibe, um gleich wieder die
Perspektive zu wechseln. Im Zentrum steht die Mutter Nora, eine dreißigjährige,
gutaussehende Frau, die einige Päckchen zu tragen hat, von denen man als Leser in
kurzen Erinnerungssplittern erfährt. Sie wuchs bei ihrem Hippievater auf. Das Leben
als Kind war ein leichtes und änderte abrupt die Richtung, als ihr Vater bei einem
Autounfall starb. Nora kam zu Pflegeeltern - tief religiös und bigott dazu. Das Leben
dort war die Hölle.
Sie floh, versteckte sich und das Kind, das sie später zur Welt brachte, im
ausrangierten Stundenhotel ihrer Großtante Julie. Und weil sie auf gar keinen Fall
wollte, dass diese Welt auch nur ansatzweise mit ihrer Tochter in Berührung kommt,
manipulierte sie das Kind, inszenierte eine winzige Welt nach eigenem Drehbuch.
Nora selbst lebt seit einigen Jahren in einer schicken Wohnung in Zürich. Sie ist mit
einem Banker verheiratet, der Nora vergöttert, aber nicht versteht. Sie bietet ihm eine
Oberfläche, den Rest hält sie verborgen. Von ihrer Tochter Meret hat sie ihrem Mann
nie etwas erzählt und so wechselt die intelligente, berechnende Nora eben zwischen
ihren beiden Leben hin und her. Doch als der Jugendliche Nico auf Meret
aufmerksam wird und sie gar in kurzen Ausflügen mit der Welt da draußen bekannt
macht, beginnt Noras fein ziselierte Kulisse innerhalb weniger Tage zu bröckeln.
Andrea Fischer Schulthess' Blick ist gnadenlos, was die vielen Details trister
Orte und ins Schlingern geratener Leben betrifft, doch geht sie mit ihren Figuren sehr
behutsam um, stellt sie nicht bloß, sondern ergründet, was sie antreibt und
beschäftigt. Das ist gelegentlich harter Stoff und doch ist da keine Spur von Trübsinn,
kein depressiver Ton, der einen in dieser Geschichte ja keinen Moment überraschen
würde. Das Gegenteil ist der Fall. Der Erzählton ist frisch, humorvoll und leicht. Doch
was da so locker erzählt wird, sind Abgründe.
Nun mag man die Grundidee des Romans zunächst etwas klischeehaft, vielleicht
auch kitschig finden, wenn da jemand auf die hypothetische Frage, ob denn eine
solche Tat auch von einer Frau begangen werden könnte, antwortet: Ja durchaus,
aber eben aus Liebe. Doch ganz so einfach ist es freilich nicht. Denn Meret ist kein
Wunschkind, ist vielmehr Erinnerung an üble Zeiten. Und die völlig aus dem Ruder
gelaufene Fürsorge der Mutter für ihr Kind, ist eine verquere Mischung aus
Zuneigung, Angst und Ablehnung. Nora liebt ihre Tochter, braucht dafür aber die
absolute Kontrolle, weil sie meint, nur so auch ihre eigene Vergangenheit im Griff
halten zu können. Das Ganze ließe sich durchaus auch als böser Kommentar auf
übereifrige Helikoptereltern deuten, aber für diese zynische Lesart ist die Autorin
dann doch etwas zu nah an ihren Figuren.
Dieser Erzählerin, die erst Biologie studierte, später in den Journalismus wechselte
und nun also mit einem Roman debütiert, folgt man gern, weil sie Stimmungen,
Atmosphäre und Milieus mit ihrer feinen Wahrnehmung gut trifft und auch immer
wieder ungewöhnliche Bilder findet.
Zitat aus "Motel Terminal":
Der Himmel war verschmiert. Hinter der radlosen Kutsche im Hof färbte er sich zu
Sorbet; Himbeere mit Mango.
Autor:
Der Schein, dass sich hier einiges zusammen braut und auf ein ungutes Ende
zusteuert, täuscht nicht. Immer komplexer und verzwickter wird die sich rasant
zuspitzende Situation. Allein: die Erzählstimme ist so stark, dass sie den Text trotz
beständig wechselnder Perspektive durchweg dominiert. Die Autorin differenziert
dabei kaum die Tonlagen der einzelnen Figuren, verpasst es, ihnen eine eigene
Stimme zu geben. Das nimmt dem Ganzen etwas von der Wucht, die es haben
könnte. Davon bleibt allerdings noch genug übrig, das aus "Motel Terminal" einen
sprachlich gewitzten und dabei so leisen, wie beklemmenden Kriminalroman macht.
Bettina Balàka: "Die Prinzessin von Arborio"
Bettina Balàka ist vermutlich nicht jedem ein Begriff. Eigentlich erstaunlich: Zehn
Literaturpreise hat die österreichische Schriftstellerin bereits gewonnen, diverse
Romane, Erzählungen und Lyrikbände veröffentlicht. Jetzt nimmt sie einen neuen
Anlauf zum Ruhm, vielleicht klappt es ja diesmal? „Die Prinzessin von Arborio“ heißt
der jüngst erschienene Roman. Darin gibt es Mordopfer, Mordwaffen und
Kriminalbeamte. Und es gibt auch jemanden, der überführt und verhaftet wird. Das
klingt nach einem typischen Krimi. So einfach ist es aber nicht, findet Carolin
Courts…
Autorin:
„Columbo“ war eine Fernsehkrimi-Serie, die auch und besonders von Menschen
gemocht wurde, die nicht gerne Fernsehkrimis sehen. Und „Die Prinzessin von
Arborio“ ist ein Kriminalroman, der besonders von Menschen gemocht werden dürfte,
die nicht gerne Kriminalromane lesen. Zwischen der Fernsehserie und dem Roman
gibt es eine auffällige Gemeinsamkeit: Bei beiden ist von Anfang an klar, wer der
Mörder ist. Beziehungsweise: die Mörderin…
Literaturauszug:
Zorzi war Elisabettas Nachname, aber alle Welt verwendete ihn als Kosenamen.
Zorzi war bildschön. Nicht von jener Art Schönheit, wie die Natur sie erfand, sondern
wie sie der Arbeit eines hingebungsvollen Schönheitschirurgen zu verdanken war. Er
hatte ihre natürlichen Schlupflider entfernt und den Blick aus ihren rehbraunen Augen
weit geöffnet. Die Nase hatte er klein und schmal gestaltet, den Mund dagegen voll
und prall. Auf Zorzis kindlichen Körper hatte er runde Apfelbrüste gesetzt, die groß
genug waren, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber nicht so groß, dass sie die
Ausgewogenheit ihrer Silhouette gestört hätten.
Autorin:
Die Sprache von Bettina Balàka hat selbst etwas Chirurgisches. Die Schilderungen
sind von kühler, intelligenter Distanz, die Analysen scharf, die Handlungsbögen
präzise geschnitten. Zu Empathie und Einfühlung lädt dieser Stil ganz bewusst nicht
ein. Im Gegenteil: Es ist offensichtlich gewollt, dass die Figuren des Romans
betrachtet werden, als seien sie Teile eines medizinischen Präparats: faszinierend
und fremd und ohne jede Identifikationsmöglichkeit…
Literaturauszug:
Es war zwei Uhr früh, als sich Jürgen endlich auf die Seite wälzte und Zorzi den
Hinterkopf zuwandte. Zorzi atmete tief ein und aus, wie sie es gelernt hatte, um ihre
Hand ruhig zu halten, dann richtete sie die Makarow auf die kompakte, schwarze
Masse, die Jürgens Hinterkopf war. „Klick klick klick“ macht es aus dem
Schalldämpfer, mit einem schwachen Echo, das von einem Streifen Nebel gestoppt
wurde. Zorzi hätte gerne das Magazin leergeschossen, die ganzen acht Schuss,
aber sie wusste aus dem Fernsehen, dass das Overkill genannt wurde und im
Rahmen des Mordens unethisch war. Der Staatsanwalt sollte ihr später sagen, dass
auch drei Schüsse schon Overkill waren. Zorzi war ihm nicht böse. Er durfte sie von
Berufs wegen nicht mögen, das war ihr klar.
Autorin:
Selbst die Passagen, die sich vermeintlich sinnlichen Themen widmen, haben etwas
Steriles. Zum Beispiel besitzt die Protagonistin ein hervorragend gehendes
italienisches Restaurant. Die Reis-Kreationen ihres Küchenchefs tragen ihr den Titel
„Prinzessin von Arborio“ ein. Arborio ist eine Reis-Sorte. Aber Zorzi geht es nicht um
gutes Essen. Es geht um finanzielle Bewegungsfreiheit und die Bewunderung der
Gäste. Das Lustprinzip ist dieser Protagonistin fremd. Konsequenterweise setzt sie
auch im Bett andere Prioritäten, solange es zu ihren Plänen passt…
Literaturauszug:
Die Tatsache, dass Zorzi schon oft gelesen hatte, dass es keine vaginalen
Orgasmen gab, hielt sie nicht davon ab, welche zu haben. Das Verhältnis von
vaginalem zu klitoralem Orgasmus war für sie wie das von Äpfeln und Birnen. Sie
persönlich bevorzugte Äpfel. Birnen konnte man sich schließlich auch selber
besorgen. Äpfel dagegen bekam man ausschließlich von Männern. Allerdings nicht
von Chuck. Sein Schwanz war nicht viel größer als eine Okra-Schote. Mit
Freundinnen konnte sie über die Sache nicht reden, denn sie hatte keine. Sie musste
alles mit sich alleine ausmachen und auf einen grünen Zweig kommen, auch, wenn
der auf einem Birnbaum wuchs.
Autorin:
Elisabetta Zorzi ist die einzige relevante Frauenfigur in diesem Roman. Männer gibt
es dafür umso mehr. Drei davon bezahlen ihre Bekanntschaft mit Zorzi mit dem
höchstmöglichen Preis: ihrem Leben. Opfer gibt es aber noch mehr, denn Zorzi
mordet nicht nur. Sie umgarnt die einen, bezirzt die anderen, schmeichelt und
klimpert mit den Wimpern und lügt, wenn sie es für nötig hält. So lange, bis das
jeweilige Zielsubjekt bereit ist, alles für sie zu tun. Ihre Methoden sind ein
schleichendes Gift, das irgendwann auch dem gefährlich wird, der glaubt, keinen
Sinn für ihren Reiz zu haben. So ein Mann ist der Gerichtspsychologe Arnold
Körber...
Literaturauszug:
Einmal fragte Arnold Körber Zorzi direkt: „Denken Sie, dass Ihr Vater schuld daran
war, dass Sie zur Mörderin wurden?“ Das war kurz bevor sie zum Du übergingen.
Die Frage war in jeder Hinsicht unzulässig. Nicht nur, weil es eine Suggestivfrage
war. Körber wollte Zorzis Innenansicht, die sich mit der Zeit vielleicht auch gewandelt
hatte, bis ins letzte Detail kennen und verstehen. Zorzi war Forschungsobjekt und
gleichzeitig ein selbstreflektierendes Wesen, so wie auch ein von Anthropologen
befragter Navaho. „Nein!“ rief Zorzi, wieso sollte denn mein Vater daran schuld
sein?“ „Mein Vater“ betonte sie, als hätte Körber gefragt, ob Jesus an ihren Taten
schuld sei oder Angela Merkel oder ein Gnom aus einem Computerspiel.
Autorin:
Das geradezu wissenschaftliche Interesse an Zorzi verbindet Arnold Körber schon
bald mit dem Leser. Die Psyche der schwarzen Witwe ist spannender als die Frage,
wie genau die Ermittler ihr auf die Spur kommen. Und das spricht keineswegs gegen
das Buch. Genau, wie Zorzi die Männer am Zügel hält, führt Bettina Balàka ihr
Publikum hin, wo sie will – und keinen Schritt weiter. Zorzi soll unberechenbar
bleiben, sie changiert zwischen tödlicher Aggression und selbstzersetzender
Unterwerfung…
Literaturauszug:
Zorzi fragte Chuck, ob er bei ihr einziehen wollen. Er sagte auf der Stelle ja. Er ließ
die Wohnung umbauen. Fußböden, Fliesen und Zwischenwände mussten
herausgerissen werden, die Heizkörper verkleidet, die Türen ersetzt. Er wollte, dass
alles modern aussah, klar, minimalistisch. In der Küche hielt Edelstahl Einzug, im
Bad Schiefer, überall Schwarz und Weiß. Ein volles Jahr lebten sie auf einer
Baustelle. Anfangs übernahm Chuck die Hälfte der Kosten, mit der Zeit allerdings
wurden diese so hoch, dass auch die Hälfte seine Möglichkeiten überstieg. Zorzis
abgeblätterter Altbau-Boho-Stil, ihre Retro-Lampen und Vintage-Kissen mussten
weichen. „Du willst doch auch, dass es unsere Wohnung wird, und nicht nur deine?“,
sagte Chuck. Zorzi wollte es auch.
Autorin:
Erst am Schluss versteht man wirklich, was diese Mörderin antreibt. Und das ist der
einzige Kritikpunkt: Diese tiefste Sehnsucht, diese eigentliche Triebfeder der
„Prinzessin von Arborio“ ist ein Frauen-Klischee. Da hätte sich Bettina Balàka gern
etwas Raffinierteres ausdenken dürfen. Aber sei’s drum: Alles andere an ihrem
neuen Roman ist stimmig, geistreich und wahrhaft unterhaltsam zu lesen.