Manuskript

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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Opa war doch ein Nazi
Autobiografische Familienrecherche in Neuengamme
AutorIn:
Sabine Voss
Redaktion:
Petra Mallwitz
Regie:
Tobias Krebs
Sendung:
Donnerstag, 28. Juli 2016 um 10.05 Uhr in SWR2
Wiederholung aus 2014
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MANUSKRIPT:
Ansage: Oft sind es „Dachbodenfunde“, die die späte Suche nach der Wahrheit
auslösen. Die Generation der Kriegsbeteiligten verstirbt, und die Nachkommen
stoßen beim Durchstöbern und Sortieren ihrer Hinterlassenschaften auf Fotos,
Briefe, offizielle Dokumente, Orden oder Uniformen. So war es auch bei Sabine Voss
und denen, die sie interviewt hat. Sie alle wollten auf einmal mehr wissen, als das,
was die Eltern oder Großeltern ihnen erzählt hatten:
Opa war doch ein Nazi
Autobiographische Familienrecherche in Neuengamme
O-Ton 1 Bettina:
2006,
im Dezember starb mein Vater mit 92 Jahren, ein sehr gütiger Vater, ein kulturell
sehr hoch interessierter und dekorierter Mann und ein charmanter Vater. Wir haben
die Schubladen leergeräumt, speziell das Esszimmer mit dem Schreibtisch unten im
Wohnzimmer, wo wir aßen, tranken, lebten, Schularbeiten machten, da war in den
Schubladen alles voll, mit Fotos – und zwar Hitler und Göring in der Wolfsschanze,
sehr dicht fotografiert, dass ich mir dann langsam überlegte: Wer war mein Vater,
dass er das so fotografieren konnte?
O-Ton 2 Johannes:
Erstmal hat meine Mutter einen Stapel Fotos ausfindig gemacht und mitgebracht und
mir gezeigt. Das war so der Beginn. Sie war sehr geschockt von den Fotos, und
daraufhin bin ich dreimal, glaube ich, in dieses Haus gefahren und hab nach
Nazidokumenten gesucht bzw., man musste eigentlich nicht viel suchen, sondern sie
sind einem entgegen gesprungen. Also das ganze Haus war voll mit verschiedensten
Dingen, die mit dem Nationalsozialismus zu tun hatten.
Sprecherin
Bettina und Johannes. Mutter und Sohn.
O-Ton 3 Bettina:
Johannes kam extra, um die Ernst Jünger-Bücher, die ja bei uns massenweise sind –
Ernst Jünger war der Kompaniechef meines Vaters und hochverehrt bis zum Tode
von meinem Vater, sein Bild hing überm Bett – die Bücher wollte Johannes, mein
Sohn, gerne sich rausnehmen, und hat dann auch die Kiste quergelesen und hat
gefunden, dass es entsetzliche Dokumente eines Aufenthaltes in der Ukraine ‘42, ‘43
waren.
O-Ton 4 Johannes:
Sei es „Mein Kampf“ im Bücherregal, die Wehrmachtsuniform im Schrank, die ich
auch als Kind schon mal wahrgenommen hab, glaube ich, auch die
Dachbodenfunde. Bestimmte Orden, die überhaupt nicht verdeckt irgendwo
rumliegen. Also, hätte man das sehen wollen, hätte man das auch vorher sehen
sollen (können), das war nicht versteckt. Wie gesagt, ich war dreimal dort und habe
immer wieder Sachen gefunden. Beim letzten Mal war ich dann auch akribisch,
nichts zu vergessen, was interessant sein könnte, es war schon sehr umfangreich,
die Suche in dem Haus.
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Sprecherin
Nach diesen Funden haben sich Mutter und Sohn zu einem Seminar angemeldet,
das der Leiter des Studienzentrums der KZ-Gedenkstätte Hamburg-Neuengamme,
Oliver von Wrochem, für diejenigen anbietet, die über ihre Familiengeschichte in der
NS-Zeit mehr in Erfahrung bringen wollen.
O-Ton 5 Oliver von Wrochem
Die allermeisten Familien, die betroffen sind, die schweigen und schweigen und
schweigen und verleugnen, und das setzt sich fort in den Generationen. Wenn sie
hierher kommen, dann sind sie schon bereit sich auseinander zu setzen. Also die
Personen, die hierher kommen, haben schon sehr viel Mut.
Sprecherin
Dem Historiker stehen ein Archivar, eine Bibliothekarin und eine Psychologin zur
Seite. Das dreitägige Seminar findet seit vier Jahren halbjährlich statt, etwa 250
Teilnehmer haben es bisher besucht.
O-Ton 6 Oliver von Wrochem
Wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele Millionen Menschen im dritten Reich
indirekt oder direkt an Verbrechen beteiligt waren, in den großen Organisationen, bei
der Wehrmacht, bei der Polizei, bei der SS, in den staatlichen Behörden und Ämtern,
bei der Arisierung usw. usf., wenn man sich dann mal umschaut, wie viel Literatur
gibt es von den Tätern selber, die sich damit kritisch auseinander setzen, also mit
den eigenen Taten, und wie viele Kinder und Enkel bereit sind, darüber auch
öffentlich zu sprechen, dann finde ich schon, kann man zumindest den Verdacht
haben, dass das eine kleine Minderheit ist.
Sprecherin
Ein kleiner, aber illustrer Kreis von fünfzehn Seminarteilnehmern hat sich diesmal in
Neuengamme versammelt : Eine Hebamme, ein Pfarrer, eine Finanzbeamtin, eine
Apothekerin, eine Musiktherapeutin – und auch ich: Mein Großvater war
Dorfschullehrer in Südost-Westphalen, NSDAP- Mitglied und Leiter des örtlichen
Winterhilfswerks. Nach der Kapitulation wurde er infolge seines
Entnazifizierungsverfahrens strafversetzt.
O-Ton 7 Oliver von Wrochem
Und dann gibt es tatsächlich Personen, wie der Sohn des ehemaligen
Kommandanten von Neuengamme, der dann hierher kommt mit einem sehr
spezifischen Interesse, weil er schon sehr viel weiß, aber wissen will, wie er damit
leben kann. Dazwischen gibt es eine ganze Reihe von Menschen, die gar nicht so
genau wissen, was passiert ist, aber ein deutliches Gespür haben, dass in ihrer
Familie etwas nicht stimmt. Und es gibt Menschen, die zwar nicht mit
Schwerverbrechern leben müssen, aber zumindest mit Funktionsträgern des Dritten
Reiches leben müssen, also HJ-Führern, BDM-Führern, Ortsgruppenleiter oder
Wehrmachtsoffiziere. Das sind jetzt keine Massenmörder, sondern das sind eben
andere Formen von Verantwortung.
Sprecherin
Vom Archivar, Herrn M., ist nun folgendes zu erfahren: Einen Antrag auf Einsicht in
die Entnazifizierungsverfahrensakten über meinen Großvater stelle ich beim
zuständigen Landesarchiv. Im Berliner Bundesarchiv gibt es vielleicht eine
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Personalakte über das NSDAP-Mitglied Heinrich Voß, zumal er ein lokaler
Amtsträger war. Für einen Einblick in seine Tätigkeit als Leiter des Winterhilfswerks
werde ich Bücher über die nationalsozialistische „Volkswohlfahrt“ lesen müssen wobei ich auch schon im Seminar interessante Details erfahre. Zum Beispiel dass
das Winterhilfswerk unter anderem Spenden für die Soldaten an der Front sammelte.
Ich bin Recherche-Anfängerin, viele in Neuengamme sind schon mittendrin oder
haben es mehr oder weniger hinter sich – so wie Cornelia.
O-Ton 8 Cornelia
unter Blättern Meine Mutter ist 1924 geboren, ist am 1. September 1942 in die
NSDAP eingetreten, wobei ich das interessanterweise, als ich dann die Daten hatte,
ein bisschen spät fand, merkwürdigerweise, und sie war dann BDM-Führerin im
Untergau Dortmund. Und zwar hatte sie eine Funktion in diesem BDM „Glaube und
Schönheit“. liest vor: „… dass wir als Jungmädelführerinnen mitverantwortlich sind
für den Weg und das Werden der uns anvertrauten Jungmädel.“ - Also, ich denke,
da hat sie einen Vortrag gehalten vor Führerinnen, die wieder Jungmädel führen,
sozusagen.
Sprecherin
Cornelias Mutter hat ihre Schulungstexte und Reden in Sütterlin niedergeschrieben.
Cornelia hat sich beim Übertragen helfen lassen. Dazu gibt es in jeder größeren
Stadt sogenannte Sütterlin-Schreibstuben.
O-Ton 9 Cornelia
reklamiert: „Haben wir viele zu uns gezogen, muss das Ziel alle sein! Und so weit
wird es kommen, wenn auch der Kampf über Jahre geht. Denn kampfmüde dürfen
wir nicht werden!“ - Dass diese Frau acht Jahre später ein Kind geboren hat und das
war ich, das hat mich total erschreckt, also ich war absolut verwirrt danach. Was war
meine Mutter, als ich geboren wurde? Wer war das? Und was hat sie überhaupt
gemacht vorher? Also, das war ja ihr Hauptberuf. Das hab ich früher schon gesagt,
ich hab das Gefühl, meine Mutter hat hier weiter so ne kleine BDM-Gruppe, obwohl
wir nur aus einem Mädchen und einem Jungen bestanden. Wir wurden manipuliert
ohne Ende. Zum Beispiel bin ich dirigiert worden mit Blicken. Meine Mutter musste
nichts sagen. Und das hab ich erst im Nachhinein erfahren, dass das so ein Punkt
ist, um schwarze Pädagogik zu identifizieren. Wenn Kinder wortlos parieren. Es ist
noch nicht mal was gesagt worden, die kriegen das gar nicht mit. Das ist eigentlich
ne Dressur.
Sprecherin
Das „Parieren aufs Wort“ kennen die in den 50er und Anfang der 60er Jahre
geborenen Seminarteilnehmer alle. Im Gespräch mit Cornelia fällt mir auch wieder
ein, wie ausgeprägt rassistisch sich meine Mutter äußern konnte. Zum Beispiel wenn
sie zum Ausdruck bringen wollte, wie sehr ihr meine Verbindung mit einem Inder
missfiel. Sie nannte meinen Freund nie beim Namen, sondern sprach immer nur von
„dem Bimbo“. Unsere Mütter waren unsere Erzieherinnen, und was ist mit unseren
seltsam abwesenden Vätern, die immer irgend woanders waren?
O-Ton 10 Cornelia
Ich denke, mein Vater ist ein gutes Beispiel dafür, wie man einem das Fühlen
austreibt. Aber die Gefühle sind ja irgendwo, also diese Emotionen oder inneren
Zustände. Ich nenn es einfach mal Zustände, weil die nicht verknüpft sind mit dem
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Bewusstsein oder der eigenen Wahrnehmung von sich selber. Und diese Trennung,
diese Abtrennung geht dann eben in Krankheiten. Mein Vater war ewig krank. Also,
was ich damit sagen wollte: Ich hatte keinen strammen Nazi da, der sich ständig
auch so geäußert hat, sondern das war eher so ‘was Stilles, Waberndes, eine
Person, die sich wenig einbringt, die funktioniert, die funktioniert und oft auch krank
ist. Die einer Schonung bedarf, so dass Mutter Kinder immer stillhielt und den Papa
schonte, weil der ganz viele Probleme hat.
Sprecherin
Natürlich war Cornelias Mutter als BDM-„Mädel“ dem Aufruf gefolgt, Soldaten an der
Front aufmunternde Briefe zu schreiben. So hatte sie den SS-Untersturmführer A.,
Cornelias Vater, kennengelernt, der vorher Schüler auf einer Napola war. Die
„Nationalpolitische Lehranstalt“, ein Eliteinternat für Knaben, war dazu da, den
Nachwuchs für die SS und den Vernichtungskrieg heranzuzüchten.
O-Ton 11 Cornelia
In
der Kategorisierung durch die Besatzung ist er hier beschrieben als: 1. SS
Panzerdivision. Höchster Dienstgrad: SS-Unterstuf., weiß nicht, Ustuf,
Untersturmführer oder was das bedeutet hat. Höchste Stellung: Zugführer. Blättert,
liest vor: „Anklageschrift. Ich erhebe Anklage an den zivil internierten Herbert
Aderhold. Der Angeschuldigte hat fast 4 Jahre der Waffen-SS angehört. Seine
längeren Einsätze in Russland in den Jahren 1941 und 1943, insbesondere im
Südabschnitt und im Raum von Shitomir haben ihm genauen Einblick in die
grausame Kampfweise der SS-Einheiten verschafft. Er ist auch zweifellos Zeuge
vieler Verbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung jener besetzten Ost-Gebiete durch
die Waffen-SS gewesen. Dass dieser Truppe der Ruf des Schreckens und des
Terrors voranging, war jedem SS-Mann bekannt. Die Niederbrennung von Dörfern
mittels Lötlampen im Jahre 1943 wurde insbesondere von Einheiten der 1. Panzerdivision SS vorgenommen.“ – Weißt du was? Ich hab das alles mal gelesen und auch
unterstrichen, ich hab das alles wieder vergessen.
Sprecherin
Einige Seminarteilnehmer haben Dokumente und Orden ihrer Eltern und Großeltern
mitgebracht, sowie Fotos. Auf einem Foto, das Johannes den Seminarteilnehmern
präsentiert ist eine alte Bauersfrau mit Kopftuch zu sehen. Wohl aufgeschreckt vom
Fotografen, flüchtet sie auf ein Häuschen, ihre Bauernkate zu. Aufgenommen wurde
das Foto in der nördlichen Ukraine, in jenem Raum um Shitomir.
O-Ton 12 Johannes
Die Bildunterschrift sagt, „eine Frau, die nur fotografiert werden soll, aber glaubt,
erschossen zu werden“. Da fragt man sich natürlich, warum glaubt eine Zivilistin, die
in nem Haus auf dem Land wohnt, sie wird jetzt erschossen. Das heißt, das hat da
eben massenhaft stattgefunden. Und ja, da bin ich mir auch sicher, dass mein
Großvater das wusste und das auch mitbekommen hat.
Sprecherin
Johannes Großvater erzählte oft, wie er an der Front im Dreck gelegen hat. Was er
unterschlug, war seine Zeit als Ordonanzoffizier im OKH.
O-Ton 13 Johannes
Ich glaube, der Job im Oberkommando des Heeres war auf jeden Fall mit Ansehen
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verbunden, mit Achtung. Das war schon ein Job, den viele gern gemacht hätten und
den auch er gerne gemacht hat. Also er hatte wenig administrative Gewalt in dem
Job, aber er war eben Teil der Wehrmachtselite. Er war mit sehr wichtigen Leuten
umgeben, und der Job war natürlich nicht so schmutzig, also er hat sich aus den
unangenehmen Situationen rausgehalten, war, bis er dann nach Italien gekommen
ist, ‘43, wenig in den Schützengräben, hatte eben einen Job, den er interessant fand
durch das Rumreisen und der, dadurch, dass er viel gesehen hat, sehr angenehm
war.
O-Ton 14 Bettina
Das ist unvorstellbar, wenn man da sitzt, über so ner Kiste, und so einen Brief liest.
„Wir werden die Judenfrage jetzt schneller lösen, mit Hilfe von LKWs, mit Duschen“,
und das ist mit Rudolf S. unterschrieben, da wird einem so schlecht, also es wird
einem wirklich übel.
O-Ton 15 Johannes
liest vor: „Bericht über die Reise vom 11. bis 13.9.42 zur Krim. In den Ortschaften
zum Teil schwer vergitterte Judenlager, manche davon leer. Deren Insassen sind
wohl, wie ich es mehrfach hörte, von der Verpflegung abgesetzt oder geerdet. Wie
viele Tausende mögen das sein, und wie viele folgen ihnen noch? Meist werden sie
wohl erschossen, neuerdings aber auch in extra dafür gebauten Fahrzeugen
während der Fahrt vergiftet und in dafür hergerichteten Gruben eingebuddelt,
verscharrt und damit hoffentlich von der Welt vergessen.“
O-Ton 16 Bettina
Ich hab gerade gelesen: Beobachterwissen, Täterwissen, Opferwissen. Also ganz
schlau unterteilt, und da stand unter Beobachterwissen dies, was meinen Vater
ausgemacht hat, dass er immer zugeguckt hat. Und das geht nicht. Das entsetzt
mich! Der hätte ja auch mal Stellung beziehen können, oder hätte offen sein können
mit uns, hätte sagen können, da gibt es eine fürchterliche Kiste in diesem Haus. Er
hat ja nie davon gesprochen. Man kann damit aufwachsen, dass der Vater ein Nazi
war und ihnen das erklären und ihnen das zumuten, dass sie‘s verstehen oder
verurteilen.
Sprecher
Das Seminar besteht aus zwei Teilen. Am ersten Tag erhalten die Teilnehmer
Hilfestellung für ihre Recherche. An den beiden folgenden Tagen tauschen sie sich
aus. Wir sprechen zum Beispiel über das Gefühl, durch das Schweigen unserer
Eltern und Großeltern zu Komplizen gemacht worden zu sein.
O-Ton 18 Oliver von Wrochem
Und in der Regel ist es auch so, dass zwischen den Geschwistern wenig
Kommunikation stattfindet, oft sind die Geschwister nicht bereit, darüber zu reden,
also es gibt da ein großes Kommunikationsproblem, und die Leute recherchieren für
sich, alleine, einsam, und dann sind sie sehr froh, wenn sie sich austauschen
können.
O-Ton 19 Bettina
So, jetzt ist mein Vater tot, und wir räumen das Haus auf, und jetzt fange ich an, nach
Neuengamme zu fahren mit meinem Sohn, und meine Brüder sagen, „was machst
du da?“. Dann hab ich erzählt, dass wir recherchieren und dass wir anhand dieser
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Kiste Vaters Rolle im Krieg auch aufarbeiten. „Ja, da wird ja nichts veröffentlicht?“
Ich sage, nein, das haben wir nicht vor. Wir haben einen internen Kreis, wir sichern
uns jedes Mal Vertrautheit zu, und trotzdem kriege ich natürlich eine andere Haltung
zu meinem Vater. „Ja, das ist uns alles nicht recht, das wollen wir nicht, und lass uns
damit in Ruhe.“
Sprecherin:
Ihre Geschwister, sagt Bettina, wollen lieber an die Geschichten glauben, die ihnen
so oft erzählt worden sind. Auch sie selbst hat diese Familienlegenden lange Zeit für
die einzige Wahrheit gehalten.
O-Ton 21 Bettina
Ich habe wohl gedacht, ja, das war eben so, und Gott sei Dank ist mein Vatti ja
unverletzt überall rausgekommen. Also er ist zum Beispiel mal auf einen Panzer zu,
der Panzer ist auf sie zu, über sie weg, hat die Soldaten zermalmt, seine Kameraden,
und er ist oben drüber geflogen. Oder ein Schuss hat ein kleines Tagebuch
abgewehrt. So, ne. Die Geschichten kannte ich alle, die liebte ich auch, die kamen
auch nur in bestimmten Stimmungen.
O-Ton 22 Johannes
Interessanterweise hatte ich die Idee der Konfrontation schon recht früh. Ich fahr zum
Familienfest und frage ihn über den Tisch rüber, wie viele Leute er erschossen hat im
Krieg. Weil ich damals schon die Vorstellung hatte, naja, da ist was im Verborgenen,
das weiß man ja irgendwie. Also komischerweise.
O-Ton 23 Cornelia
Und dann gabs immer so bestimmte Wörter wie „Maßnahme“ oder so, und da noch
mal genauer nachzufragen, ja, was meinst du denn damit? Es gab bestimmte
Begriffe, wo ich gedacht habe, da ist kein Drankommen. Es ist ein anderes
Koordinatensystem. Der weiß gar nicht, was ich meine. Und ansonsten Defensive.
Das ist natürlich ne schwierige Lage: Weist man ein Wissen zurück und weiß es
doch, und es ist aber ganz vergraben, und man darf es einfach nur nicht wissen, und
arbeitet das in sogenannten vegetativen Störungen ab? Mein Vater war diagnostiziert
mit vegetativen Störungen, schwaches Immunsystem würde man heute sagen, also
arbeitet man diese Themen so ab? Oder er lügt mich an? Wobei, das glaub ich auch
nicht. Aber man weiß es eben nicht.
Sprecherin
Mein Großvater starb, als ich fünf Jahre alt war. Mit seinem Sohn – also meinem
Vater - bin ich, bevor er starb, die Orte seiner Kindheit abgefahren. Wir standen vor
seiner alten Schule in Paderborn, dem ehrwürdigen Theodorianum, und mein Vater
behauptete, keine jüdischen Mitschüler gehabt zu haben. Aber jeder
bildungsbeflissene Bürger und gerade jüdische Ärzte, Juristen, Kaufleute schickten
ihre Söhne auf das Theodorianum, gerade die! Mein Vater gab keine Antwort,
druckste herum, duckte sich weg. Zur Zeit der Novemberprogrome, 1938 in
Paderborn, war er sechzehn Jahre alt.
O-Ton 24 Johannes
Konkret habe ich dann zwei drei Gespräche geführt, die nicht sehr ergiebig waren.
Jedes Dokument, das ich in seinem Haus nach seinem Tod gefunden hab, war
aussagekräftiger, und hätte man ihn mit diesen Dokumenten konfrontiert, dann wären
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teilweise seine Lügen aufgeflogen und teilweise hätte man mehr Anhaltspunkte
gehabt, man hätte sagen können, okay, du warst da und da zu der Zeit eingesetzt,
was heißt das denn, was hat da stattgefunden, was war deine Aufgabe, was hast du
gesehen.
O-Ton 25 Cornelia
Ich hab als Vier- oder Fünfjährige alleine mit meinem Bruder vor der Glotze gesessen
sonntags, zweimal, und wir haben mit großem faszinierten Entsetzen diese
Originalfilme der Alliierten von Bergen-Belsen gesehen. Leichenberge, die mit
Bulldozern hin- und hergeschoben werden. Ich hatte ja keine Begriffe zu der Zeit,
was ist Nationalsozialismus überhaupt, was seh ich da überhaupt? Es war nur
lebensbedrohlich, und was ich da gelernt habe, ist, dass Menschen aus Menschen
Müll machen. Dass das was mit meinen Eltern zu tun, das war sowohl meinem
Bruder als auch mir klar, weil wir zwei Verbote hatten: Erstens durften wir nicht
fernsehen, das heißt, wir durften auch nicht sagen, dass wir überhaupt ferngeguckt
hatten, und die andere Ebene, die ist mir aber hinterher so richtig klar geworden: Wir
durften nicht sagen, was wir da gesehen hatten. Und letztlich als Bild zieht sich das
durch meine ganze Sozialisation mit meinen Eltern: Bestimmte Dinge, die man weiß,
darf man nicht sagen. Oder umgekehrt auch: Was sagen meine Eltern eigentlich, und
was ist davon wahr? Und was wird nicht gesagt?
Sprecherin
Wir wachsen in den 50er und 60er-Jahren zumindest in Westdeutschland in
wirtschaftlich konsolidierten Verhältnissen auf. Der früh abgeschlossene
Bausparvertrag unserer Eltern gehört genauso dazu wie irgendwann das Eigenheim,
und irgendwann der VW Käfer vor der Tür. Wir erleben alle gemeinsam die erste
Ferienfahrt an die Adria, nach Südtirol oder Holland und natürlich den ersten
Fernseher. Und während wir sonntags „Bonanza“ gucken, „Flipper“ und „Die kleinen
Strolche“, machen sich manche unserer Väter fein und gehen zum NapolaKlassentreffen, zu Versammlungen der Stalingradkämpfer oder OKH-Offiziere.
O-Ton 26 Bettina
Also das ist ja eine Ätze. Das wird jeden Tag schlimmer für mich, darüber
nachzudenken. Das war ja jedes Jahr ein Mal, solange ich denken kann, bis in die
80er rein. Und wir haben nicht einmal gefragt, was das ist. Weil wenn man gefragt
hätte, wär man ja irgendwie doof gewesen. Ich wusste nur „OKH“-Treffen.
Oberkommando des Heeres, das war ne wichtige Stelle, für so Offiziere wie mein
Vater war. Aber was das in den 50er, 60er, 70er-Jahren zu suchen hatte, hätte mir
doch klar werden müssen! 1968 habe ich Abitur gemacht und war also doch ein
denkender Mensch! Als wenn in einer ganzen Topographie das Fragezeichen fehlt.
Das Fragezeichen, das hat gefehlt in meinem jungen Leben. Und ich kann da auch
durchaus traurig, sehr traurig drüber sein, weil ich finde, es gehört zu einem jungen
Leben zwischen 20 und 30 dazu zu fragen.
Sprecherin
Seitdem sie nach Neuengamme fährt, geht Bettina nicht nur mit ihrem Vater sondern
auch mit sich selbst ins Gericht. Sie hat Kontakt nach Israel gefunden, reist
manchmal ins Land der Opfer. Gleichzeitig ist es immer noch ein schwieriger
Balanceakt für sie, ihren Vater als Täter mit ihren Gefühlen zu ihm in Übereinklang zu
bringen.
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O-Ton 27 Bettina
Ja, ich find das aber ganz schwierig, und mein Sohn sagt, hör auf mit diesem Aber.
Der hat mir beim letzten Gespräch hat er mir gesagt, hat er über mich gesagt, meine
Mutter sagt immer, mein Vater war ein Nazi, aber…, und dies Aber müsste mal weg.
Und je mehr ich das Aber wegnehme, desto mehr geht die Liebe flöten. Und da bin
ich auch traurig und verhindere das. Wobei … die Liebe auch einfach mal
loszulassen, wäre vielleicht ein neuer kleiner Prozess. Das ist ja eine interessante
Möglichkeit, das Gefühl einfach zu verbannen, zu verlegen, zu sagen, no, er war ein
tötender Mensch, oder begleitend beim Töten im Namen des Unrechts, das muss
man ja auch mal sehen, wofür die getötet haben.
O-Ton 28 Johannes
Es ist ganz schwer für sie zu sagen, er war ein Nazi – ohne Aber. Das „Aber“ muss
immer sein. Das auszuhalten, das stehen zu lassen, das ist, glaube ich, ganz
schwierig für sie. Ich hab auch viel Respekt vor meiner Mutter, weil sie eben eher
noch diejenige ist, die in dieser Familienstruktur steckt und sich da irgendwie
verhalten muss. Und die Aufgabe hab ich nicht mehr, es ist natürlich gewissermaßen
leichter für mich.
Sprecherin
Johannes ist im vergangenen Sommer in die Ukraine gereist, nach Shitomir,
Winnyzja, Orte, an denen sein Großvater ganz sicher war. Sein Enkel wollte die
Perspektive der Opfer erleben, Geschichten hören, für die sich sein Großvater Zeit
seines Lebens nicht interessiert hat.
O-Ton 29 Johannes
Im Nachhinein sehe ich meinen Großvater auch als empathielos, was ja auch eins
der Probleme der Nazigeneration ist. Und das ist ja gleichzeitig das, was ich total
wichtig finde als Aufgabe, weniger empathielos zu sein, das zu überwinden, sich
damit ein Stück weit zu beschäftigen und Empathie zu entwickeln.
O-Ton 30 Cornelia
Erst nach ihrem Tod ist mir klar geworden, hab ich es auch richtig fühlen können, wie
sehr ich mich schäme. Und ich weiß nicht wofür. Also intellektuell weiß ich nicht
wofür, aber ich schäme mich einfach. Und zwar auch für diese Eltern, was ich
natürlich auch nicht möchte. Ich schäme mich einerseits für das, was diese
Menschen, in welcher Form beteiligt auch immer, anderen Menschen zu Millionen
angetan haben, und dann aber auch noch mal in diesem persönlichen Verhältnis für
sie selber, und wenn ich das jetzt ausspreche, dann merke ich auch son Imperativ
wie: Das darfst du nicht! Weil man achtet ja seine Eltern.
Sprecherin
Als meine Geschwister und ich nach dem Tod unseres Vaters, 2009, unser
Elternhaus auflösten und auch die vielen Bücher aussortierten, gab es außer Viktor
Klemperers Tagebüchern kein einziges Buch der Holocaustopfer – nichts von
Primo Levi, Jean Améry, Tadeusz Borowski, Ruth Klüger oder Fred Wander. Die
Shoah war wie ausradiert, kam einfach nicht vor. Das Leid der Opfer hat er – da bin
ich mir sicher – aus seinen Gedanken verbannt. Was er gewusst hat, auch über die
Rolle meines Großvaters – für mich geht die Suche jetzt erst richtig los.
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O-Ton 31 Oliver von Wrochem
Man kann auch den Weg verfolgen dieser Menschen. Also sie kommen, sie gehen
weiter, sie kommen wieder, sie wissen mehr, und irgendwann kommt der Punkt, da
haben sie dann genug sich ausgetauscht. Das heißt nicht, dass sie das für alle Zeit
ruhen lassen und dass es keine Rolle mehr spielt in ihrem Leben. Es ist immer auch
ein Impuls, kritisch mit sich selbst zu sein und wahrscheinlich auch bestimmte Werte
zu vertreten nach außen und zu handeln auch in ner bestimmten Art und Weise.
Aber jedenfalls sagen sie irgendwann, ich kann damit leben, ich weiß jetzt im besten
Falle, was ungefähr geschehen ist und kann das annehmen für mich.
Rechercheseminare
KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Jean-Dolidier-Weg 75
21039 Hamburg
Ansprechpartner: Oliver von Wrochem
Telefon: 040 / 428131 – 515
E-Mail: [email protected]
Stiftung Topographie des Terrors
Niederkirchnerstraße 8
10963 Berlin
Ansprechpartner: Ulrich Tempel
Telefon: 030 / 25450927
E-Mail: [email protected]
Literaturhinweise
Neuengammer Studienhefte 01
Ein Täter, Mitläufer, Zuschauer, Opfer in der Familie?
Materialien zur biografischen Familienrecherche
http://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/?id=328
Christine Holch: Finde Haika!
In: Crismon, Oktober 2012
http://chrismon.evangelisch.de/artikel/2012/finde-haika-15339
Christine Holch: Was machte Großvater in der Nazizeit?
Eine Anleitung zur Recherche
In: Crismon, Oktober 2012
http://chrismon.evangelisch.de/artikel/2012/was-machte-grossvater-der-nazizeit-eineanleitung-zur-recherche-15479
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Uwe Timm
Am Beispiel meines Bruders
Kiepenheuer&Witsch, Köln 2003
Dan Bar-On
Die Last des Schweigens
Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern
Rowohlt, Reinbek 1996
Heinrich Böll Stiftung Brandenburg (Hg.)
Näherungen
Auseinandersetzung mit NS-Täter_Innenschaft im lokalen Umfeld
Potsdam 2013
http://boell-brandenburg.de (kostenloser Download)
Kurt Grünberg, Jürgen Straub(Hg.)
Unverlierbare Zeit
Psychosoziale Spätfolgen des Nationalsozialismus bei Nachkommen von Opfern
und Tätern
edition diskord, Tübingen 2001
Martin S. Bergmann, Milton E. Jucony, Judith S. Kestenberg (Hg.)
Kinder der Opfer, Kinder der Täter - Psychoanalyse und Holocaust
Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1990
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