Porträt - Agrarzeitung

Jubiläumsausgabe
2 Weitblick
Foto: UBA
Foto: BMEL
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Die Gesellschaft fordert von der
Landwirtschaft eine stärkere
Berücksichtigung von Aspekten
des Umweltschutzes und der Nachhaltigkeit. Dazu ist es wünschenswert, die Ökolandwirtschaft zu stärken. Warum müssen wir
den Weltmarkt bedienen, wenn wir nicht einmal in der Lage sind, den heimischen Bedarf mit
Ökoprodukten zu befriedigen? Doch auch in der
konventionellen Landwirtschaft kann viel mehr
passieren, um die ökologischen Kriterien zu
bedienen. Die Landwirtschaft darf nicht das Recht
haben, die Umwelt so zu belasten, dass Grenzwer-
Ich sehe eine selbstbewusste Branche,
die sich über Innovation, Forschung und
Fortschritt definiert und nicht über Verzicht oder Rückbau. Deutschland wird in
70 Jahren einen größeren Anteil zur Welternährung beitragen, weil wir die besseren klimatischen Bedingungen
haben und das richtige Know-how. Die Landwirtschaft
4.0 und flächendeckendes Smart Farming werden Alltag
sein. Das wird auch den Alltag der Landwirte verändert
und erleichtert haben. Die Digitalisierung hat die Landwirtschaft noch leistungsfähiger und gleichzeitig ressourcenschonender gemacht.
Ich sehe eine vielfältige Landwirtschaft mit großen und
kleinen, mit leistungsfähigen und flexiblen Betrieben.
te überschritten werden. Wir dürfen aber auch
nicht länger die externen Kosten der Agrarproduktion, die durch Umweltschäden entstehen,
auf die Allgemeinheit abwälzen. Die EU-Agrarsubventionen sind, so wie sie sind, nicht mehr
gesellschaftlich zu rechtfertigen. Grundsätzlich
brauchen wir eine Ausrichtung der Subventionen
nach dem Motto „öffentliches Geld für öffentliche
Güter” – also auch eine stärkere Umschichtung
von Geldern der ersten in die zweite Säule.”
Maria Krautzberger,
Präsidentin des Umweltbundesamtes (UBA), Dessau
Verschiedene Angebote und Philosophien stehen in
einem fairen Wettbewerb um die Gunst der Verbraucher.
Mit ihrer Wettbewerbsfähigkeit und Exportstärke trägt
die Landwirtschaft auch in 70 Jahren maßgeblich zum
Wohlstand in Deutschland bei.
Ich sehe eine Landwirtschaft in der Mitte der Gesellschaft, der man respektvoll begegnet und deren Leistungen sowie Erträge geachtet und geschätzt werden. Der
Landwirt als Unternehmer im Familienbetrieb lebt seine
Verantwortung für die Mitarbeiter und die Region. Ich
sehe eine Landwirtschaft, der die Menschen vertrauen.”
Christian Schmidt,
Bundeslandwirtschaftsminister (CSU)
Wie sieht die Landwirtschaft
der Zukunft aus?
Foto: BDL/Gräschke
Wir sind überzeugt,
dass der Landhandel bestehen wird.
Denn Landwirte werden auch künftig Alternativen zur
Genossenschaft suchen, besonders zu den genossenschaftlichen
Konzernen und Zentralen. Wir sind
außerdem überzeugt von der Zweistufigkeit. Denn der Service eines
fähigen und flexiblen Landhändlers
mit unternehmerischem Engagement ist durch keine Außenstelle
eines Großhändlers zu ersetzen. Das
alles kann aber nur funktionieren,
wenn Landhandel und Großhandel
die Aufgaben intelligent aufteilen.
Beide Seiten müssen ähnliche Werte und Ziele verfolgen und eine vergleichbare Unternehmenskultur aufweisen. Ideal ist, wenn beide Seiten
sich dynamisch entwickeln und sich
gegenseitig befruchten. Dann kann
etwas Zukunftsfähiges entstehen.”
Deutsche Getreidezeitung/Die Agrarwoche/Agrartrends
71. Jahrgang
Deutscher Fachverlag GmbH
Rainer Schuler,
Geschäftsführer Beiselen GmbH, Ulm
ger Ressourcennutzung einhergeht. Hightech hat
viele Arbeiten schonender, schneller und präziser
gemacht. Doch sie nimmt den Landwirten die Arbeit
nicht weg, sondern erleichtert sie. So haben unsere
Kindeskinder mehr Zeit für Boden und Tier und können mit dem wachsenden Bedarf an Lebensmitteln
Schritt halten.
Die Gesellschaft will natürlich produzierte und regionale Lebensmittel. Der heutige Trend der Tiefpreise
kehrt sich um und faire Preise sichern den Lebensunterhalt der Landwirte. Urban-Farming, ausgelöst
durch den starken Flächenschwund in der Landwirtschaft, ist auf Dächern, mehrstöckigen Häusern
inmitten der Städte zu finden.”
Foto: Beiselen
Es gibt keine Handarbeit mehr –
auf den kleinen landwirtschaftlichen
Betrieben wird wie auf den großen nur
noch am Wochenende, wenn es die
Städter aufs Land zieht, hart gearbeitet. Die Ausflügler wollen Landwirtschaft erleben und eine Patenschaft für Scholle, Huhn oder Kuh. Sie schätzen das
agrarische Know-how und lieben den körperlichen
Ausgleich mit Produktionsmitteln, wie ihre Urgroßeltern sie kannten.
Zugleich bleibt der Run aufs Land ungebremst. Frauen wie Männer wollen mit Landwirtschaft ihren
Lebensunterhalt verdienen, weil die Arbeit naturnah und vergleichsweise frei ist, weil sie sich bei aller
Vielseitigkeit gut mit der Familie vereinbaren lässt,
weil Landwirte wissen, was wie angebaut wird, die
Ergebnisse ihrer Arbeit sehen, und weil das Mehr
an Automatisierung mit effektiver und nachhalti-
Kathrin Muus,
Stellvertretende Bundesvorsitzende,
Bund der Deutschen Landjugend e.V. (BDL)
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Weitblick 3
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Foto: BVA
Konrad Weiterer,
Präsident, Bundesverband der Agrargewerblichen
Wirtschaft e.V. (BVA)
Thomas Böck,
Mitglied der Claas-Konzernleitung
Prof. Dr. Franz-Theo Gottwald,
Vorstand, Schweisfurth Stiftung
agierenden Abnehmern gefordert werden.
Dadurch kann Europa seine höheren Produktionskosten durch die strengen (Umwelt-)Auflagen und scharfen Kontrollen am Weltmarkt
durch höhere Preise kompensieren.
Die Arbeitsplätze in der Landwirtschaft werden
sich mehr an den Bedürfnissen der Mitarbeiter orientieren. Arbeitszeiten, Sicherheit im
Umgang mit Tieren, attraktive Arbeitsplätze
werden wichtiger bei dem Wettbewerb um
die besten Mitarbeiter und Betriebsleiter. Der
Beruf Landwirt wird auch zukünftig durch seine
Vielfalt interessant für junge Menschen sein.”
Peter Seeger,
Schweinehalter in Hessen
Foto: Agco
Foto: privat
standortgerecht ein. Die Koexistenz verschiedener
Anbautechniken – von biologischem Anbau bis vertikalem Indoor-Farming – bringt eine reiche Vielfalt an
Produkten für die unterschiedlichsten Ernährungsstile hervor. Alle werden satt.”
Das weitere Bevölkerungswachstum und die Verstädterung in der Welt werden auch
zukünftig zunehmen. An der
Versorgung der Metropolen in der Welt müssen
sich auch Deutschland und Europa beteiligen.
Die Flüchtlingsbewegung ist nur ein kleiner
Vorgeschmack darauf, wenn wir uns unserer
Verantwortung zukünftig entziehen. Daher
wird sich die Tendenz zur extensiveren Landwirtschaft in der EU in einigen Jahren wieder
abschwächen. Eine intelligente Koexistenz
von intensiver Landwirtschaft und attraktiven
Naturräumen wird sich bilden.
Rückverfolgbarkeit und standardisierte Produktionsprozesse werden von den weltweit
Foto: DBV
Die Zukunft der Landwirtschaft gehört
der „Ökologie der kurzen Wege”. Angesichts der zunehmenden Urbanisierung, der steigenden Weltbevölkerung und des Klimawandels, wird in den nächsten
Jahrzehnten alles getan werden, um die Effizienz
der agrarischen Produktion genauso zu steigern
wie die Produktivität. Kurze Wege sind dabei das
grundlegende Konzept der Effizienz in der Agrar- und
Ernährungswirtschaft.
Nachhaltige pflanzen- und tiergerechte Lebensmittelerzeugung bedeutet auf Nähe zu setzen. Viele Beispiele belegen den Beginn der Renaissance der Regionalwirtschaft. Eine geringe Distanz zwischen dem
Ort, an dem die Tiere und Pflanzen leben und wachsen sowie dem Ort, an dem sie für Menschen verarbeitet und von ihnen konsumiert werden, zahlt sich
aus. Dies spart nicht nur Transportkosten. Es schafft
Nähe zwischen den Fertigungsphasen und damit
Transparenz, erlaubt eine bedarfs- und zeitoptimierte Erzeugung und verringert die Kosten für Kühlung
und Lagerung sowie die Lebensmittelabfälle.
Diese Art des Global Gardening setzt urbane und
peri-urbane Flächen sowie andere landwirtschaftliche Ressourcen in komplexen, gut gemanagten,
vernetzten und hoch integrierten Unternehmen
Im Zusammenwirken von Landwirtschaft, Handel und Verarbeitern leistet
das moderne Agribusiness einen wichtigen Beitrag, die Ernährung der Menschen
in Deutschland, Europa und in der Welt zu sichern. Angesichts zunehmender Weltbevölkerung ist eine Weiterentwicklung der modernen Landwirtschaft unabdingbar. Dazu gehört der Einsatz moderner Betriebsmittel
und innovativer Technik zur Ausbringung von Pflanzenschutz- und Düngemitteln genauso wie moderne
Züchtungsverfahren. Eine Kombination aus umweltschonenden Produktionsverfahren und Smart-FarmingTools wird die Landwirtschaft der Zukunft prägen. Der
Gunststandort in Deutschland und Europa wird auch
künftig eine zentrale Rolle bei der Herstellung sicherer,
gesunder und bezahlbarer Lebensmittel einnehmen.
Regionale, internationale genauso wie Vermarktungsstrategien für Bio-Produkte haben ihre Chance. Die
Wettbewerbsfähigkeit wird weiterhin im Fokus bleiben.
Entscheidend ist, dass es keine nationalen Überregulierungen gibt, durch die die Entwicklung in der Landwirtschaft ausgebremst werden könnte.”
Foto: privat
Foto: Claas
Die
Landwirtschaft
muss künftig unterschiedliche Perspektiven
miteinander
verbinden: Es gilt die weltweite Ernährung zu sichern und dabei möglichst
regional und mit guten ökologischen
Standards zu produzieren. Zukünftige
Technologien müssen dem Landwirt
dabei helfen, mit diesen – teilweise divergierenden Anforderungen –
umzugehen. Die Einsatzeffektivität
der Maschinen durch intelligente
Assistenzsysteme, neue Sensoren und
Vernetzung wird weiter gesteigert
werden.
Durch Big Data wird das Wissen und
die Erfahrung des Landwirtes umfassend ergänzt. Die Dokumentation auf
dem Feld und im Stall erfolgt weitgehend automatisch. Computer können Situationen selbst bewerten und
komplexe Entscheidungen treffen: Die
Maschinen optimieren sich selbst. Mit
der weiteren Digitalisierung ergeben
sich für den Landwirt auch viele neue
Chancen: Er entwickelt sich in der
Wertschöpfungskette immer mehr
zum Geschäftspartner „auf Augenhöhe” – nämlich dann, wenn Angebot
und Nachfrage virtuell gebündelt sind
und Produkte in Sekundenschnelle
gehandelt werden können.”
Auch wenn der Blick in die Glaskugel bekanntlich schwierig ist:
Landwirtschaft wird auch in 70
Jahren die Lebensgrundlagen
unserer Gesellschaft bereitstellen – und sie wird
auch dann von Unternehmern betrieben werden, die sich an Märkten und Verbrauchern, an
neuen Produktionsverfahren und an Effizienz
orientieren und die ihre Betriebe ständig weiterentwickeln.
Landwirtschaft ist eine sich dynamisch entwickelnde Branche mit hohem Produktivitätszuwachs, volatilen Märkten und jährlichen Investitionen von mehr als 10 Milliarden Euro. Wir
wären auch als Unternehmer schlecht beraten,
wenn wir in den globalen Märkten ohne langfristige Grundsätze für eine vielfältige nachhaltige
Landwirtschaft arbeiten würden. Unser Leitbild
bleibt eine von bäuerlichen Unternehmern und
ihren Familien getragene Landwirtschaft, die
dem Eigentum und der generationenübergreifenden Nachhaltigkeit verpflichtet und in der
Region verwurzelt ist. Eigentum, Wertschöpfung
und landwirtschaftliche Erzeugung gehören für
uns in bäuerliche Hand.”
Joachim Rukwied,
Präsident, Deutscher Bauernverband (DBV)
Die moderne Agrarwirtschaft wird für
die Weltbevölkerung an Bedeutung
gewinnen. Die gesunde Ernährung
der Menschheit, ein wachsender Beitrag zur Energie- und Rohstoffversorgung sowie die
Folgen der Klimaveränderung werden die größten
Herausforderungen darstellen. Europa teilt sich in
moderne Agrarmärkte, die auf Innovation und Nachhaltigkeit bauen, und solche, die enormen Nachholbedarf in der gesamten Wertschöpfungskette
haben. Wenn sich die politische Lage in Osteuropa
zum Besseren wendet, können diese Länder in den
nächsten Jahrzehnten ihr Potenzial voll entfalten
und neben China und Afrika eine zentrale Rolle in
der Sicherung der Welternährung spielen.
In Deutschland ist die Vernetzung der Landtechnik der wichtigste Schritt, um die Wirtschaftlichkeit zu steigern. Alle Stadien des
landwirtschaftlichen Lebenszyklus von der
Unternehmensplanung über Aussaat bis zu
Ernte und Getreidelagerung werden vernetzt,
analysiert und optimiert werden. Robotiksysteme werden den Automatisierungsgrad weiter steigern und es wird einen klaren Trend zur
elektrischen Energie und modernen Brennstoffzellen geben, um Emissionen nachhaltig
zu reduzieren.”
Martin Richenhagen,
Vorstandschef Agco Corporation
Medien
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Foto: NH
4
Fachmedien
6,7
Umsatzstruktur 2015, in Prozent
Dienstleistungen
19,6
Digitale Medien
56,0
Fachzeitschriften
17,7
Fachbücher
Der Anteil digitaler Medien wächst stetig.
Quelle: Deutsche Fachpresse
Im Jahr 2015 besitzen rund
65 % der Deutschen ein Smartphone und 30 % ein Tablet.
Quelle: Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW)
„Gerade in Zeiten, in denen wir alle
täglich mit Unmengen an Informationen zugeschüttet werden und der
Stammtisch in den sozialen Netzwerken fröhliche Urstände feiert,
ist professioneller Journalismus
schlicht unverzichtbar.“
Relevanz bleibt der
entscheidende Faktor
Angela Wisken,
Sprecherin der Geschäftsführung, dfv Mediengruppe
Tägliche Nutzungsdauer ausgewählter Medien
Deutschland 2015, in Minuten
Digitale Angebote sind ein Muss – Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Leser und Nutzer
Dr. Angela Werner
Chefredaktion
I
n 70 Jahren hat sich vieles in der
Medienlandschaft verändert. Die
Zeitungen und Zeitschriften sind
bunter geworden, Farbfotografien
und üppige Infografiken Standard.
Auch die zunehmende Digitalisierung hat die Erstellung und Verbreitung
von Publikationen stark verändert: Zeitungen werden zwar noch gedruckt, aber
die Daten elektronisch übermittelt. Aber
auch der Journalismus, die Informationsvermittlung und Wahrnehmung von
Berichterstattung hat sich grundlegend
gewandelt.
Das weltweite Internet hat den Austausch von Informationen deutlich
beschleunigt, ebenso alle Social-Media-
Kanäle. Heute können Nachrichten an
fast jedem Ort abgerufen werden. Längst
spielt die gedruckte Zeitung morgens am
Frühstückstisch nicht mehr die Hauptrolle. Schnelligkeit zählt und treibt auch
die Journalisten. Digitale Produkte laufen den gedruckten Medien den Rang
ab. Viele Publikumszeitungen kämpfen
mit rückläufigen Auflagen und setzen mit
digitalen Angeboten wie Apps, E-Papers,
Newsletter und iPad-Angeboten dagegen. Der Anpassungs- und Innovationsdruck ist hoch. Geschäftsmodelle, Inhalte
und Kanäle werden auf den Prüfstand
gestellt. Gleichzeitig nimmt der Verdrängungswettbewerb um Zeit und Aufmerksamkeit von Lesern und Nutzern zu.
Alle Medienmacher und Verlage müssen
sich mit der Digitalisierung und ihren
Wirkungen auseinandersetzen sowie
branchenspezifische Antworten darauf
finden. Denn dieser Trend wird sich
weiterentwickeln. Die Digitalisierung
hat aber auch ihren Preis: Ungefiltert
und ungeprüft kursieren Nachrichten
im Netz in atemberaubender Geschwindigkeit und mit einem immer seichteren
Inhalt auf der Suche nach dem nächsten
Hype und der höchsten Clickrate. Schnell
entstehen so Meinungsbilder. Ob sie
zutreffen oder nicht, scheint erst einmal
zweitrangig, aber sie können am Image
von Menschen und Wirtschaftszweigen
kratzen. Beteiligte vieler Branchen müssen sich damit auseinandersetzen und
klug umgehen, ob sie wollen oder nicht.
Das gilt ebenso für die Agrarwirtschaft.
Ungeachtet dieser Entwicklung bleibt
die agrarzeitung ihren Grundsätzen treu:
Sie setzt Relevanz gegen seichte Inhalte,
gründliche Recherche gegen den schnellen Hype. Sie versteht sich als unabhängiger und kritischer Begleiter der Branche,
filtert die wichtigen Nachrichten, ordnet
ein und ist dabei trotzdem schnell, aktuell und nah dran, damit Leser und Nutzer
über Entscheidendes informiert sind.
Die wachsende Bedeutung digitaler
Medien hat die dfv Mediengruppe, in
der die agrarzeitung erscheint, früh
erkannt und die Weiterentwicklung
digitaler Geschäftsfelder kontinuierlich
unterstützt. Rund 100 digitale Angebote
sind im Portfolio der dfv Mediengruppe.
Dazu zählt auch das Online-Angebot
der agrarzeitung, das bereits 1996 als
*AgroOnline# an den Start ging. Sukzessive wurde dieser Webauftritt erweitert,
mit zusätzlichen Informationen und
Markteinschätzungen zu den Rohstoffmärkten angereichert sowie die Social-Media-Präsenz erhöht. Auch mobil
sind die Informationen jederzeit für die
Nutzer zugänglich. Dieses Paket ergänzt
die gedruckte Zeitung. Online steht heute für den täglichen, schnellen Nachrichtenüberblick, die gedruckte Ausgabe
daneben für Meinung, Einordnung,
Analysen sowie Hintergründe. Mit der
iPad-Ausgabe haben die Leser elektronisch sogar einen noch schnelleren
Zugriff auf die komplette Zeitung. Auch
äußerlich hat sich die gedruckte Zeitung
in ihren 70 Jahren immer wieder gewandelt. So wurde beispielsweise 2008 das
handlichere Tabloidformat eingeführt
und 2009 der neue Name „agrarzeitung”, um modern und verständlich
auszudrücken, welchem Themenkreis
sich die agrarzeitung widmet.
Trotz all der Veränderung und Schnelllebigkeit unserer Zeit bleibt der Wunsch
nach unabhängiger und vor allem relevanter Information und Transparenz,
klugen Analysen und tief recherchierten Hintergründen bestehen: Qualitätsjournalismus hat Zukunft, denn Content
bleibt King – egal in welcher Form, ob
gedruckt oder digital!
Fernsehen
259
Radio
115
Internet (inhaltlich)
53
Spiele
35
Buch
28
Zeitungen/Zeitschriften
31
Quelle: Statista
Fachzeitschriften und Tageszeitungen
Anzahl in Deutschland
344
Tageszeitungen
3 893
Fachzeitschriften
Quelle: BVDZ (2016), Deutsche Fachpresse (2015)
Medien 5
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Alfred Strothe –
Journalist, Herausgeber
und Verleger
Eine Würdigung von Dr. Rudolf Stöhr, Hamburg
A
m liebsten gut” pflegte
Alfred Strothe zu antworten, wenn man ihn nach
seinem Befinden fragte.
Auch zehn Jahre nach seinem Tod ist diese Replik des großen
Agrarjournalisten, Herausgebers und
Verlegers in „seiner” Agrarbranche noch
wohlbekannt. War sie doch ein Ausdruck
seiner ungeheuren Willenskraft, den
Gesprächspartner – und damit auch sich
selbst – nicht mit Bemerkungen zu seinen
schweren Kriegsverletzungen zu belasten. Dabei wusste jeder, der ihn etwas
näher kannte, wie sehr die Folgen seiner
Oberschenkelamputation mit nahezu
einem Dutzend Hüftoperationen oder
Metallsplitter im Kopf ihm ein Leben
lang zusetzten.
Gerade 21 Jahre war der Leutnant und
Flugzeugführer, als der Krieg im Mai 1945
endlich vorbei war und er noch für viele
Monate im Lazarett lag. Priester sollte er
nach dem Wunsch des gestrengen Vaters
werden. Die Jesuitenschule in Essen, wo
Alfred Strothe 1943 sein Abitur abgelegt
hatte, schien dem Vater dazu eine gute
Vorbereitung. Der Sohn aber dachte
anders, schon damals hartnäckig seinen
eigenen Weg gehend: Journalist wollte
er werden. Die Frage nach den Gründen für diese in den Augen des Vaters
brotlose Kunst konnte er nur halbwegs
überzeugend beantworten. Als wir beide 1966 auf Einladung des US Feedgrains
Council erstmals die USA bereisten, erwiderte Strothe auf meine entsprechende
Frage: „Das waren wohl meine guten
Deutschaufsätze.” Der auch nach seinem
folgenschweren Absturz damals immer
noch flugbegeisterte ehemalige Flugzeugführer verbrachte die meiste Zeit im
Cockpit der Maschine.
20 Jahre zuvor, im Frühjahr 1946, hatte
Strothes berufliche Karriere begonnen,
zunächst als Volontär mit sehr kargem
Lohn beim „Ernährungswirtschaftlichen
Informationsblatt” der britischen Militärverwaltung in Hamburg. Ein knappes
halbes Jahr später folgte Strothes erster
großer Coup: Die britische Militärregierung gab seinem massiven Drängen nach
und erteilte ihm die Lizenz als Verleger
und Herausgeber einer Agrarzeitschrift.
Strothe war noch keine 22 Jahre alt,
ohne finanzielle Mittel und ohne jegliche
berufliche Erfahrung. Auch Jahrzehnte
später erschien ihm der positive Bescheid
der Briten – den zum gleichen Zeitpunkt
auch ein gewisser Rudolf Augstein erhielt
– ebenso unglaublich wie sein wahrhaft
mutiger Schritt in die Selbstständigkeit.
A
m 13. November 1946,
an seinem 22. Geburtstag, brachte Strothe in seinem Ein-Mann-Betrieb als
Redakteur, Herausgeber
und Verleger in Personalunion die erste Ausgabe seines „Ernährungsdienst”
– des ED – heraus. „Learning by Doing”
war sein alternativloses Motto. Etwa
zum gleichen Zeitpunkt wurde in Hamburg der Fachverband der Futtermittelindustrie, zunächst beschränkt auf die
britische Zone, gegründet. Die Monatszeitschrift „Kraftfutter”, untrennbar verbunden mit den Namen der Herausgeber Heinrich Asch, Volkward Koch und
Hubert Grote, erschien erstmals im Juli
1953, natürlich im Alfred Strothe Verlag
in Hannover. Es spricht für Strothes journalistisches Gespür, aber auch für seinen
unternehmerischen Wagemut, dass er
bereits Mitte 1951 das erste Heft der
„Agrarwirtschaft” publizierte, eine eher
wissenschaftlich ausgerichtete „Monatszeitschrift für Betriebswirtschaft und
Marktforschung”. Für die besondere Qualität bürgten damals Agrarökonomen wie
die Professoren Busch, Hanau, Plate, Niehaus und Woermann als Herausgeber.
Die „Agrarwirtschaft” gehörte neben dem
„Ernährungsdienst” (später in „Agrarzeitung” umgetauft) zu den Lieblingsprojekten des Verlegers. Seine starke Affinität
zur Agrarökonomie fand ihren besonderen Niederschlag in den legendären
Strothe-Abenden, die stets am Vorabend
der DLG-Ausstellungen stattfanden. Ein
festlicher Rahmen, inhaltsvolle Vorträge
und vorzügliche Speisen verschmolzen
zu unverwechselbaren und unvergessenen Ereignissen. Alfred Strothe, lebensbejahend, stets neugierig-interessiert,
bestens vernetzt auch über seine Branche hinaus, ein begnadeter Redner und
kluger Moderator, genoss diese Auftritte
vor großem Publikum.
Der Strothe Verlag wuchs und gedieh.
Höhepunkt im Leben des Unternehmers
und Publizisten war zweifellos 1964 der
Umzug seiner Redaktion aus einer angemieteten Villa in das eigene Verlagsgebäude in der Osterstraße in Hannover.
Das war gleichzeitig auch die große Zeit
– wenngleich mit einigen Niederlagen
und Anfeindungen verbunden – seiner
fußballerischen Karriere: Weniger als
aktiver Spieler, obgleich er trotz seiner
Beinprothese das Tor seiner Redaktionsmannschaft hütete, denn als Präsident
von Hannover 96. 1962 wurde Strothe
in das ehrenvolle, aber für ihn auch sehr
kostspielige Amt gewählt. Er blieb bis
1971, anschließend wurde er Ehrenpräsident. Seine Amtszeit bleibt verbunden
mit dem Aufstieg des Vereins in die Bundesliga 1964, eine Euphorie ohnegleichen mit einem – zunächst – stets ausverkauften Stadion. Doch die Querelen
folgten bald: Fünf Trainer verschliss der
Verein. An sogenannte Starspieler wurden völlig überhöhte Gehälter gezahlt,
aktenkundig wurden 120 000 DM per
annum statt der laut Deutschem Fußballbund zulässigen 60 000 DM. Strothe wurde mit Vorwürfen der Bilanzfälschung
konfrontiert. Der Fußballpräsident Strothe schaffte es mehrfach in den „Spiegel”.
Weniger publizitätsträchtig war ein
anderes großes Ehrenamt, das Alfred
Strothe etwa zur gleichen Zeit innehatte:
sehr aktiv in verschiedenen Ehrenämtern
tätig, unter anderem auch als Präsident des
europäischen Getreidehandelsverbandes
Coceral. Bis heute befasst sich Stöhr engagiert mit landwirtschaftlichen Themen. Sein
besonderes Interesse gilt nach wie vor der
Agrarpolitik, der europäischen Integration
und der Entwicklung im östlichen Europa.
Foto: privat
Alfred Strothe (l.) gründete
vor 70 Jahren den Ernährungsdienst (ED), der heute als agrarzeitung (az) im
Deutschen Fachverlag verlegt wird. Ein langjähriger
Wegbegleiter des Verlegers,
Journalisten und Menschen
Alfred Strothe war Dr. Rudolf
Stöhr (r., Jahrgang 1935), der
in der Agrarbranche ebenfalls
große Bekanntheit und Wertschätzung genießt. Stöhr begann nach landwirtschaftlicher Lehre, Agrarstudium und
Promotion 1962 seine berufliche Karriere
in der Volkswirtschaftlichen Abteilung des
Agrarhandelshauses Alfred C. Toepfer, das
heute in der ADM Germany GmbH aufgegangen ist. Stöhr war neben seiner 35-jährigen Tätigkeit für das Haus Toepfer immer
Foto: az
Zwei Größen der Agrarbranche:
Alfred Strothe und Rudolf Stöhr
Zunächst war er Präsident des Niedersächsischen Verbandes der Zeitschriftenverleger und ab 1971 übernahm er
auch die Spitze des Verbandes Deutscher
Zeitschriftenverleger mit Sitz in Bonn.
Gesundheitliche Gründe zwangen Strothe jedoch 1979, dieses sehr arbeitsintensive Amt aufzugeben. In Anerkennung seines enormen Einsatzes wurde
er auch hier Ehrenpräsident. Nach diesen Ausflügen in die eher politische Welt
wandte sich das CDU-Mitglied wieder
mehr seinen Wurzeln, dem Agribusiness
und der Publizistik, zu und entwickelte
den Ernährungsdienst weiter.
W
oher Strothe noch die
Zeit und die Kraft nahm,
erfolgreich unter die
Buchautoren zu gehen,
blieb sein Geheimnis.
Legendär sind seine Titel „Agrarwirtschaft im Umbruch” (1988) mit drei Auflagen, das „Lexikon für die Agrarwirtschaft” (1989) und „Treuhandanstalt
– besser als ihr Ruf?” (1994). Daneben
schrieb der Vollblutjournalist, der neben
seiner Herausgeber- und Verlegerfunktion von Beginn an Mitglied im Verband
Deutscher Agrarjournalisten (VDAJ) war,
kompetent und in geschliffener Sprache
Beiträge und Kommentare für seine Zeitschriften, insbesondere für seinen ED,
die stets besondere Beachtung fanden.
Das lag vielleicht auch daran, dass die
journalistische Grundregel, Kommentar
und Meinung deutlich von der Nachricht
zu trennen, von ihm besonders sorgfältig
beachtet wurde.
20 Jahre nach dem Einzug 1964 in das
neue Hannoveraner Redaktionsgebäude zogen Verlag und Mannschaft nach
Frankfurt um. Ein halbes Jahr zuvor,
im Oktober 1983, hatte Strothe seinen
Verlag an den Deutschen Fachverlag in
Frankfurt verkauft, in dessen Verantwortung auch im siebzigsten Jahr seines
Bestehens der fast schon legendäre ED
– seit geraumer Zeit als AZ – publiziert
wird. Strothe setzte sich nach dem Ver-
kauf aber keinesfalls zur Ruhe. Er blieb
nicht nur als Leitartikler seinem ED treu.
Die Zeilen, die Volkward Koch im November 1994 Alfred Strothe zu dessen 70.
Geburtstag gewidmet hat, sind bis heute
vollauf gültig: „Schwungvoll, hellwach,
überlegt, voller Lebensbejahung – auf
seine Gesprächspartner aufgeschlossen,
beredt und munter zugehend –, so kennt
jeder, der ihm einmal begegnet ist, den
Journalisten und Verleger Alfred Strothe.”
Alfred Strothe hat die Diskussion innerhalb der Agrarbranche in ihrer wohl
schwierigsten und wichtigsten Phase
des Umbruchs in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts wie kaum ein anderer
Zeitgenosse geprägt: durch beispielhaften unternehmerischen Mut und großen Einsatz für die res publica, durch
wegweisende publizistische Beiträge
ebenso wie als fordernder, unbequemer Mahner und Moderator. Einige
haben sich an Alfred Strothe gerieben,
für viele war er Vorbild. Doch alle, die
ihn kannten, zollten dem großen Publizisten Respekt.
6 Medien
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Kompetenz von
der Urproduktion bis
zur Vermarktung
„Ich bin mir ganz sicher,
dass das Papier in den nächsten
zehn oder zwanzig Jahren nicht
verschwinden wird.“
F
ür Unternehmer im Agribusiness sind unabhängige und
zuverlässige Informationen in
Fachmedien essenziell für ihren
Erfolg. Wie der Strothe-Verlag
und der Ernährungsdienst, die heutige
agrarzeitung, Teil der dfv Mediengruppe
wurden, davon erzählt Klaus Kottmeier. Er ist vormaliger Geschäftsführer
und heutiger Aufsichtsratsvorsitzender
der Deutscher Fachverlag GmbH, nach
wie vor zentrale Gesellschaft der dfv
Mediengruppe.
„Ich gratuliere der dfv Mediengruppe
zur agrarzeitung und der agrarzeitung
zu ihrem 70. Geburtstag.” Diese Worte von Klaus Kottmeier sind ehrlich
gemeint. Obwohl die das Unternehmen mehr als 100 Fachmedien für elf
Branchen verlegt, galt sein besonderes
Interesse von Anfang an den Agrartiteln.
Auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten zweifelte er nie am Erfolg des früheren Ernährungsdienst, der heutigen
agrarzeitung (az).
Bereits vor 33 Jahren erkannten die Verantwortlichen der dfv Mediengruppe
in Frankfurt am Main im Ernährungsdienst die ideale Ergänzung zu anderen wichtigen Titeln des Hauses, wie
etwa der Lebensmittel Zeitung (LZ) oder
Zur Person
Klaus Kottmeier, Jahrgang 1933,
ist Aufsichtsratsvorsitzender der dfv
Mediengruppe, die zu den größten
konzernunabhängigen Fachmedienunternehmen in Europa gehört. Kottmeier begann seine Karriere 1969 als
Verlagsleiter der Lebensmittel Zeitung.
1976 wurde der studierte Jurist zum
Geschäftsführer berufen und bekleidete von 1981 bis 2003 die Position als
Sprecher der Geschäftsführung. 2003
übernahm Kottmeier den Vorsitz des
neu gegründeten dfv Aufsichtsrates.
Darüber hinaus gehörte Kottmeier
viele Jahre dem Vorstand des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) an und zeichnete dort
als Vorsitzender des Vorstands der
Fachgruppe Fachzeitschriften verantwortlich. Von 1992 bis 2000 war er
Sprecher der Deutschen Fachpresse.
Für seine Tätigkeit als Verleger und
sein ehrenamtliches Engagement im
Bereich Medien wurde Kottmeier im
Jahr 2009 das Bundesverdienstkreuz
az
am Bande verliehen.
der Allgemeinen Fleischerzeitung (afz).
Alfred Strothe, der als Verleger, Herausgeber und Chefredakteur wirkte, gründete bereits im Alter von 22 Jahren 1946
in Hannover den „Ernährungs-Wirtschaftlichen Informationsdienst” (ED),
der bis 2009 unter dem Titel „Ernährungsdienst” (ED) bekannt war. Kottmeier erinnert sich daran, dass Strothe ihm
einmal schmunzelnd erzählte, er habe
seine Lizenz für Publikationen zur selben Zeit und von demselben britischen
Presseoffizier erhalten wie der spätere
Verleger Rudolf Augstein.
Strothe blieb Ideengeber
ED und Strothe-Verlag gehören seit
1983 zum Deutschen Fachverlag,
bei dem auch die 1953 von Strothe
gegründete Fachpublikation „Agrarwirtschaft” erscheint. Dreimal in der
Woche erschien damals die Zeitung
und war damit hochaktuell. „Ich kannte den angesehenen Verleger Alfred
durch die dfv Mediengruppe 1983 blieb
Strothe dem Titel Ernährungsdienst
noch etliche Jahre als aktiver Herausgeber treu, was Kottmeier sehr begrüßte. Wegen seiner hohen verlegerischen
und journalistischen Kompetenz war er
in dieser Zeit ein wichtiger Ideengeber
und ein kompetenter Gesprächspartner
für Redaktion und Verlag. „Wir haben
im Wesentlichen die gleiche Sprache
gesprochen”, erinnert sich Kottmeier.
Zu keiner Zeit habe man in Frankfurt
bereut, den Ernährungsdienst übernommen zu haben. Im Gegenteil: Mit
dem ED und den anderen Titeln des früheren Strothe-Verlages habe man vielmehr eine Lücke geschlossen, erklärt
Kottmeier mit einem gewissen Stolz.
Schließlich war er es, der als damaliger Geschäftsführer im Deutschen
Fachverlag, gemeinsam mit seinem
Geschäftsführerkollegen und heutigen
Aufsichtsratsmitglied Peter Ruß, die
Strothe-Objekte von Hannover nach
„Schon immer zeichnete sich die
agrarzeitung durch Mut und ihre absolute
Unabhängigkeit von Politik, Verbänden
und Organisationen aus. Das hat mich
stets beeindruckt.“
Strothe nicht nur wegen seiner Nähe
zur Land- und Ernährungswirtschaft,
sondern auch in seiner Eigenschaft als
Präsident des Verbandes Deutscher
Zeitschriftenverleger (VDZ). Dieses Amt
hatte er von 1971 bis 1979 inne. Strothe
hat den Verband mit sicherem Blick
für die Erfordernisse eines veränderten medienpolitischen Umfeldes stetig
weiterentwickelt, so Kottmeier. Unter
seiner Ägide entwickelte sich der VDZ
von einer heterogenen Standesorganisation zu einer gewichtigen Interessenorganisation, die sich zunehmend
in medienpolitische Entscheidungen
einschaltete. Mit einem untrüglichen
Blick für die Realität ausgestattet, führte er auch seinen Verlag. So erkannte
Strothe für sein eigenes Unternehmen
zur rechten Zeit, dass die Anlehnung
an einen etablierten, breitgefächerten
Verlag ein großer Vorteil ist. Nach der
Übernahme des Alfred Strothe Verlages
Frankfurt holte. Die dfv Mediengruppe
kann nun eine Kompetenz gewissermaßen von der landwirtschaftlichen Urproduktion über die Verarbeitung bis hin
zur Vermarktung für sich in Anspruch
nehmen.
Breit aufgestellt
„Damit haben wir ein ungewöhnlich
breites Angebot im ernährungswirtschaftlichen Bereich.” Auf die Frage,
was er besonders am Ernährungsdienst
beziehungsweise heute an der agrarzeitung schätzt, sagt der Aufsichtsratsvorsitzende Kottmeier: „Die az ist zwar
kein sehr großer, aber ein sehr wichtiger Titel, der in der gesamten Branche –
vor allem jedoch bei den Entscheidern
– eine breite Wertschätzung genießt.
Schon immer zeichnete sich die agrarzeitung durch Mut und ihre absolute
Unabhängigkeit von Politik, Verbänden
Foto: dfv Mediengruppe
Unabhängiger Qualitätsjournalismus auf allen Kanälen moderner Fachkommunikation
Klaus Kottmeier prägt die dfv Mediengruppe seit mehreren Jahrzehnten.
und Organisationen aus. „Das hat mich
stets beeindruckt, denn so etwas ist in
der deutschen Agrarpresse kein zweites Mal zu finden. Und das passte von
Anfang an auch gut in unser Haus, denn
die dfv Mediengruppe ist bereits seit
Jahrzehnten ein Garant für unabhängigen Qualitätsjournalismus.” Kottmeier
ist auch in verlegerischer Hinsicht mit
der Weiterentwicklung des Ernährungsdienstes hin zur agrarzeitung zufrieden.
Heute nutzt die Redaktion sämtliche
Kanäle moderner Fachkommunikation
– von der gedruckten Zeitung einmal in
der Woche über digitale Angebote wie
tägliche Newsletter, E-Paper und Apps
bis hin zu hochspezialisierten Veranstaltungen. „Das wird von der Redaktion
sehr professionell gemacht”, freut sich
der Verleger.
Engagiert für den Nachwuchs
Die dfv Mediengruppe kann mit der az
auf die Wochenzeitung in fruchtbarer
Verbindung mit dem Online-Portal setzen. Kottmeier glaubt freilich unbeirrt
an eine gute Zukunft der Printmedien
im Bereich der Fachzeitschriften. „Ich
bin mir ganz sicher, dass das Papier in
den nächsten zehn oder zwanzig Jahren
nicht verschwinden wird.” Die tiefere
Analyse, der ausführliche Rückblick, die
sachlich begründete Vorausschau und
nicht zuletzt der vertiefende Kommentar erfordern wohl noch lange Zeit die
Papierform. Die schnelle Nachricht, die
raschen Meldungen, die kurze Meinung
sind mit einem Internetportal dagegen
oftmals besser bedient. Diese sich ergänzende Kombination von Wochenzeitung
und täglichem Informationsportal im
Internet beherrscht die agrarzeitung
mit anerkanntem Erfolg, lobt der Verleger. Trotz ihres Jubiläums bleibt somit
die agrarzeitung insgesamt ein „junges
Medium”.
Was die weitere Entwicklung der agrarzeitung und der Agrarwirtschaft anbelangt, gibt sich Kottmeier zuversichtlich.
Deutschland werde immer ein wichtiger
Agrarstandort in Europa sein, davon ist
er überzeugt. „Schon heute gehören wir
zu den wichtigsten Exportländern, die
auch auf Drittlandmärkten eine maßgebliche Rolle spielen. Und die Bedeutung dürfte sogar in den kommenden
Jahren noch wachsen.” Daran haben
auch die unternehmerischen Landwirte
mit ihren größeren, leistungs- und wettbewerbsfähigen Betrieben, an die sich
das Blatt vor allem richtet, einen wichtigen Anteil. Sie sind in besonderem Maße
auf neutrale und zuverlässige Marktberichterstattungen angewiesen. Für
unternehmerische Landwirte und ihre
vor- und nachgelagerten Partner in Handel und Industrie, so Kottmeier, sind
gute Informationen zur richtigen Zeit
ein unentbehrliches Handwerkszeug.
Ihre Bedeutung steigt in dem Maße, wie
Darüber hinaus setzt sich die az ganz
besonders auch für den landwirtschaftlichen Nachwuchs ein. Dies zeigt einmal
mehr, dass der Titel zukunftsorientiert
agiert. So unterstützt die Zeitung kluge
Köpfe der Agrarbranche mit dem „Förderpreis der Agrarwirtschaft” und bietet
ihnen ein Sprungbrett für ihre Karriere.
Schon seit mehr als zehn Jahren zeichnet
die agrarzeitung engagierte und erfolgreiche junge Talente im Agribusiness aus
– seien es Wissenschaftler, Landwirte
oder Berufstätige in Agrarunternehmen
aus Industrie, Handel und Verarbeitung.
Gefragt sind dabei in erster Linie Ideen
und Impulse. Das passt zum Engagement
des Fachverlages, bei dem Ausbildung und
die Förderung von Talenten Tradition hat.
die staatlichen Absicherungen reduziert
werden und sich die Politik vom Markt
zurückzieht. Als geradezu unentbehrlich sieht er darüber hinaus eine konstruktiv-kritische Kommentierung: „Nur
mit einer sachkundigen eigenen Meinung wird eine Fachzeitung von ihren
Lesern respektiert und ernst genommen.” Hier habe sich die agrarzeitung
in der Branche ebenfalls einen guten Ruf
erworben. „Wenn also die Verantwortlichen des Blattes keine großen Fehler
machen, sehe ich eine gute Zukunft für
die agrarzeitung”, resümiert Klaus Kottmeier.
HH
Die dfv Mediengruppe
Die dfv Mediengruppe mit Sitz in Frankfurt am Main erreicht jährlich eine verbreitete Auflage von rund 17 Millionen
Exemplaren. Zu ihrem Portfolio zählen
aktuell über 100 Fachzeitschriften
sowie 100 digitale Angebote für elf
wichtige Branchen, darunter Websites,
E-Paper, Newsletter, Apps, Social-Media-Präsenzen sowie branchenspezifische Jobbörsen. Über 140 kommerzielle
Veranstaltungen sowie rund 400 Fachbuchtitel ergänzen das Medienangebot.
Die Lebensmittel Zeitung, TextilWirtschaft und HORIZONT sind im jährlichen Ranking der werbeumsatzstärksten Fachzeitschriften Deutschlands
unter den Top 5 vertreten.
2015 erzielte die dfv Mediengruppe zusammen mit ihren Töchtern
und Beteiligungen einen Umsatz von
147,3 Millionen Euro Damit bleibt die
dfv Mediengruppe, die rund 970 Mitarbeiter beschäftigt, eines der umsatzstärksten Fachmedienunternehmen in
az
Deutschland und Europa.
8 Medien
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Wie die Digitalisierung die Wahrnehmung
von Landwirtschaft verändert
Gastkommentar Prof. Dr. Matthias Kussin, Hochschule Osnabrück
Der Blickwinkel hat sich geändert
Was ist da passiert? Warum gewinnt dieser Konflikt in jüngerer Zeit an Schärfe?
Hat sich die Tonalität der Massenmedien so gravierend verändert? Allein
ein Blick auf die Titelgeschichten des
Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL in
den 1970er bis 1990er Jahren lässt
den Schluss zu: Auch früher haben
Massenmedien nicht mit Alarmismus
gespart, was landwirtschaftliche Themen betrifft. „Vergiften uns die Bauern?”, fragte das Nachrichtenmagazin
auf seiner Titelseite, es schrieb über
die „staatlich geförderte Quälerei an
Nutztieren”, klagte über die „giftgrüne
Agrarlobby” sowie die „Schweinerei mit
Fleisch” und machte mit Titeln wie „Genfraß” und „tödliche Eier” auf.
Öffentlichkeit und Verbraucher blicken
ebenfalls nicht erst seit gestern kritisch
auf Sektoren wie die moderne Landwirtschaft. Spätestens seit dem Erstarken
der Umweltbewegung in den 1970er
Jahren gibt es eine veränderte Betrachtung möglicher Risiken und Nebeneffekte, die für Mensch und Umwelt aus
Produkten und Produktionsprozessen
hervorgehen. Gemäß Untersuchungen
des Agrarwissenschaftlers Reimar von
Alvensleben neigte Mitte der 1990er Jahre ein Drittel der Bevölkerung der Aussage zu, sie würden durch die damaligen
Lebensmittel schleichend vergiftet. Die
Gesundheitsrisiken durch Salmonellen,
BSE und Pflanzenschutzmittelrückstände auf Lebensmitteln wurden als gefährlicher eingeschätzt als das Rauchen. Und
auch die Schweinepest und Hormone
Diskussion bei. Gestärkt werden vielmehr die extremen Pro- und Kontra-Positionen. Eine Forschergruppe um die
italienische Mathematikerin Michela
Del Vicario konnte dies kürzlich zeigen.
Und anders als in den Publikumsmedien, in denen Themen aus der Landwirtschaft schnell wieder von Beiträgen
aus der Automobilindustrie oder den
Finanzmärkten abgelöst werden, laufen
diese Erregungen im Netz weiter.
bei Kälbern landeten bei Umfragen
vor Risiken im Straßenverkehr. Dieser
gesellschaftliche Wandel schlug sich
auch zu dieser Zeit in einer veränderten
Berichterstattung der Massenmedien
nieder. Sie war Folge und nicht Ursache der öffentlichen Meinung, wie von
Alvensleben deutlich machte.
Kommunikation wird digital
Wenn sich also die Wahrnehmung der
Landwirtschaft in Berichterstattung und
Öffentlichkeit jüngst nicht prinzipiell
verändert hat, was dann? Es gibt gute
Gründe, die Ursachen des Konflikts auch
außerhalb von Landwirtschaft und Journalismus zu suchen und den Prozess der
Digitalisierung von Kommunikation in
den Blick zu nehmen. Dieser Prozess ist
mit dafür verantwortlich, dass die Agrarund Lebensmittelbranche ihr öffentliches Bild heute anders wahrnimmt als
noch vor 20 Jahren. Konkret treibt die
Verbreitung des Internets und der Aufstieg von Akteuren wie Google, Facebook, Youtube oder Twitter dies voran –
keines der genannten Unternehmen war
vor 1997 am Markt. Ihre Leistungen und
die Aktivitäten ihrer Nutzer tragen maßgeblich dazu bei, dass sich die Rezeption
der journalistischen Berichterstattung
gewandelt hat – und dies in sachlicher,
sozialer und zeitlicher Hinsicht.
Denn auch die Veränderungen der Zeitstrukturen modifizieren das Bild von
Landwirtschaft in den Medien – und dies
in zweifacher, fast widersprüchlicher
Hinsicht. Zum einen erhöht das Netz
bekanntermaßen die Geschwindigkeit
und verlangt nach immer mehr Informationen in Echtzeit. Auf der anderen Seite
erleben wir eine Entzeitlichung mit Blick
auf die Verfügbarkeit von Beiträgen.
Alles bleibt abrufbar und damit potenziell in unserer Wahrnehmung präsent,
weil es nur eine Suchmaschinenanfrage
entfernt ist.
Polarisierung kostet Vertrauen
Alle diskutieren mit
In sachlicher Hinsicht erweitern digitale Medien die Vielfalt an Kommunikationsformen und die Reichweite klassischer Massenmedien. In Blogs, Posts
und Tweets wird auf Beiträge von Presse, Funk und Fernsehen Bezug genommen – und das im Sprachstil des Netzes:
kurz, knapp und suchmaschinentauglich. Zugleich ermöglicht die Technologie
das Teilen und die mühelose Vervielfältigung von Publikationen – und damit auch
die von einer kritischen bis tendenziösen
Berichterstattung, die früher nur einem
zahlungsbereiten Publikum zugänglich
war. Wo vor 20 Jahren vielleicht allein das
Bauernblatt und die regionale Tageszeitung auf dem Küchentisch lagen, entsteht
heute über Online-Kanäle auf den Höfen
ein anderes Bild von der Berichterstattung über Landwirtschaft.
Die Möglichkeiten der neuen Formate führen in der Sozialdimension zu
Foto: privat
A
uch wenn beim diesjährigen Bauerntag die Vertreter der Medien vom Präsidenten des Deutschen
Bauernverbandes (DBV),
Joachim Rukwied, höflich begrüßt wurden und anders als im vergangenen Jahr
die Medienkritik ausblieb. Das Verhältnis zwischen Journalisten und Landwirten bleibt angespannt. Die Verantwortung sieht jede Seite bei der jeweils
anderen. Journalisten fürchten um ihre
Unabhängigkeit, weil Landwirte auf ihre
Berichte mit juristischen Klagen und
Protest reagieren. Landwirte ihrerseits
fühlen sich als Opfer einer Medienberichterstattung, die dem Ansehen des
Berufsstandes schadet.
„Die sozialen Netzwerke tragen
nicht zur wechselseitigen Aufklärung
bei, sondern verstärken die extremen
Pro- und Kontra-Positionen.“
einer Steigerung der Akteursvielfalt.
Ob Bürger, Landwirte, Aktivisten oder
sogenannte Social Bots, das sind Computerprogramme, die eigenständig
Kommentare verfassen – im Netz gibt
es keine Gatekeeper mehr. Alle können
mitdiskutieren über Zeitungsartikel und
Fernsehbeiträge zu Glyphosat im Bier,
Gentechnik auf dem Feld, Nitrat im
Trinkwasser oder Antibiotika im Stall.
Nicht selten rufen einzelne Beiträge
„kreisende Erregungen” hervor, wie es
der Netzforscher Peter Kruse formuliert
hat, die durch die Netze schwappen.
Die sozialen Netzwerke tragen nicht in
erster Linie zur wechselseitigen Aufklärung und zur verständigungsorientierten
Diese Entwicklung ist keine vorübergehende Zeiterscheinung. Schließlich
stellt auch das Internet kein kurzfristiges Phänomen dar, sondern bedeutet
nicht weniger als die Ablösung der Buchdruckgesellschaft durch die „nächste
Gesellschaft”, wie der Soziologe Dirk
Baecker formuliert. In dieser neuen Konstellation muss vor allem eine konfrontative Medien- und Öffentlichkeitsarbeit
an ihre Grenzen stoßen. Sie bedient
zwar Stimmungen im eigenen Lager und
schließt so die Reihen. Zugleich aber ist
sie willkommener Anlass für inszenierte Empörung auf der Gegenseite und
Nährstoff für weiterlaufende Auseinandersetzungen.
Der Versuch einer Kontrolle über die
Deutungshoheit bei landwirtschaftlichen Themen befeuert gerade die Dynamik in den Netzen. Massenmedien
gewinnen aus diesem Streit immer wieder neuen Stoff für Berichte und Kommentare, die in den digitalen Medien
weitere Resonanz erfahren. Die Polarisierung geht so zulasten des Vertrauens
der kritisch-konstruktiven Mitte der
Gesellschaft. Denn hier steigt die Verunsicherung, wer denn nun das richtige
Bild von der Landwirtschaft zeichnet.
Gelassenheit hilft
Wie aber kann eine Alternative für die
professionelle Öffentlichkeitsarbeit der
Branche aussehen, um die Logik der
Konfrontation zu durchbrechen? Ein
erster Schritt läge darin, zunächst einmal gelassen auch auf als unfair wahrgenommene Beiträge zu reagieren. Getroffene Hunde bellen – so denken viele. Als
stark dagegen gilt, wer sich nicht provozieren lässt und nicht an der Erregungsspirale schraubt. Wer andere Positionen
zulässt, auch wenn sie nicht den eigenen Prämissen entsprechen. Und wer
Frieden mit der Einsicht schließt, dass
Massenmedien ihre Arbeit zunächst
an Nachrichtenwerten, nicht aber an
wissenschaftlichen Wahrheitskriterien
ausrichten. Ein solches Vorgehen sorgt
nicht immer für Beifall in den eigenen
Reihen – aber es macht erstens die Landwirtschaft ein Stück weit weniger attraktiv als Ziel für schlechtmeinende Kritik
und schafft zweitens Grundlagen, um
das Verhältnis zwischen Journalisten
und der Branche wieder produktiver
zu gestalten.
Zur Person
Prof. Dr. Matthias Kussin hat ab
dem Sommersemester 2016 die Professur für Medien- und CSR-Kommunikation (CSR=Corporate Social
Responsibility) an der Fakultät für
Agrarwissenschaften und Landschaftsarchitektur der Hochschule Osnabrück
übernommen. Zuvor arbeitete er über
sieben Jahre in verschiedenen Positionen für den RWE-Konzern, zuletzt im
Bereich Group Corporate Affairs mit
dem Schwerpunkt Corporate Responsibility (CR). Dort verantwortete er das
CR-Reporting und war Ansprechpartner für Stakeholder aus dem Bereich
Nichtregierungsorganisationen (NGO).
Daneben war er als Lehrbeauftragter
an verschiedenen Hochschulen wie
den Universitäten Bielefeld und Luzern
tätig. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten des promovierten Soziologen sowie
Energieökonomen zählen insbesondere
die Themen Unternehmenskommunikation, politische Kommunikation und
Risikoregulierung sowie das Nachhalaz
tigkeitsmanagement.
Agrarpolitik Europa
9
Foto: dpa
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Die Europäische Union muss sich ihren Kritikern gegenüber immer wieder aufs Neue beweisen.
Liberale Positionen
auf dem Rückzug
EU-Haushalt 2015
Ausgaben in Prozent von insgesamt 162 Mrd. Euro
7,2
5,4
Verwaltung, Sicherheit,
Sonstiges
Globales Europa
10,8
39,4
Wettbewerbsfähigkeit
Landwirtschaft
37,2
Nächste Gap-Reform im Jahr 2020 – Direktzahlungen brauchen bessere umweltpolitische Legitimation
Kohäsion
Quelle: EU-Kommission
Z
urzeit drängt es in Brüssel
kaum einen nach weiteren größeren Anpassungsschritten. Das mag verwundern, weil die Geschichte
der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union eine
einzige Abfolge von Agrarreformen war.
Aber jetzt befinden sich die EU-Kommission und die EU-Mitgliedstaaten in einer
Verschnaufpause. Die Neuerungen der
jüngsten Reform müssen immer noch
verdaut werden. Mit größeren Veränderungen in den kommenden beiden
Jahren im Rahmen einer Halbzeitbewertung ist deshalb weniger zu rechnen.
Sollte die EU-Kommission Ende 2017
dennoch etwas vorlegen, allein schon
um Handlungsfähigkeit zu beweisen,
werden dies mehr symbolische Verbesserungen sein.
Kritik am Bürokratiemonster
Umstritten ist und bleibt der Verwaltungsaufwand. Die nationalen Agrarverwaltungen versuchen jetzt schon im
zweiten Jahr der Reform, das Greening
und weitere Neuerungen für die Direktzahlungen administrativ in den Griff zu
bekommen. In Frankreich, dem Vereinigten Königreich und anderen EU-Mitgliedstaaten kommt es wiederholt zu
Verzögerungen bei der Auszahlung der
Direktzahlungen, was besonders in Krisenzeiten bitter für die Landwirte ist.
Natürlich entwickelt sich daraus in den
EU-Mitgliedstaaten und den Agrarverbänden die Forderung nach einer deutlichen Entbürokratisierung der GAP.
Die EU-Kommission bemüht sich red-
Das Greening erfreut sich keiner allgemeinen Anerkennung. Naturschützer bezweifeln den Erfolg der neuen
Umweltauflagen. Zwischenfrüchte oder
kurzfristige Brachen erhöhen kaum die
Artenvielfalt auf der landwirtschaftli-
Versichern gegen Preisverfall
Ähnlich verfahren stellt sich die Diskussion um die EU-Marktordnung dar. Zwischen den Anhängern einer alten Agrar-
Das Greening ist und bleibt das ungeliebte
Kind der jüngsten Agrarreform. Aber eine
Alternative ist auch nicht in Sicht.
chen Nutzfläche. Zwar laufen die Studien
noch, aber deutliche Fortschritte bei der
Artenvielfalt werden sie wahrscheinlich nicht nachweisen können. Auf der
anderen Seite belasten die zusätzlichen
Umweltauflagen besonders an intensiven Ackerstandorten die Landwirte, zumal Produktionsbeschränkungen
kaum zu den Anforderungen einer wachsenden Weltbevölkerung passen. Das
Greening ist und bleibt das ungeliebte
Kind der jüngsten Agrarreform.
Bewährungsprobe für Auflagen
Die Zukunft der GAP ist heute weder
mit noch ohne Greening denkbar. Ohne
umweltpolitische Legitimation drohen
den Direktzahlungen Einschnitte in den
Verhandlungen um das EU-Budget der
Jahre 2020 bis 2027. Die Voraussetzungen für eine Erweiterung des Greenings
über den heutigen Anteil von 30 Prozent
politik mit Mengensteuerung und den
Liberalen geht die Auseinandersetzung
weiter. Die Traditionalisten haben durch
die anhaltend niedrigen Milchpreise
neuen Zündstoff bekommen. Allerdings
haben auch die „Agrarkonservativen”
ihre Forderungen modernisiert. Eine
Rückkehr zur Mengensteuerung alten
Stils wünscht sich kaum noch ein EU-Mitgliedstaat. Die Milchquoten und die
Dauerintervention haben ausgedient.
An ihre Stelle sind Forderungen nach
einer Ad-hoc-Intervention getreten.
Dabei soll die EU in Krisenzeiten ohne
vorherige Ankündigung überschüssige
Mengen aus dem Markt nehmen. Auch
an temporäre Beschränkungen der Produktion denken einzelne Stimmen. Die
alten Markordnungsinstrumente werden inzwischen selbst von den Traditionalisten als zu träge angesehen, weshalb
sie zwar teuer, aber nur mäßig wirksam
sind. Doch auch die ins Spiel gebrachten
moderneren Formen der Mengensteuerung haben die Fronten in der Debatte
über die Zukunft der EU-Agrarmarktordnung noch nicht verschoben. Die Liberalen betonen weiterhin, dass einzig und
allein die Landwirte auf niedrige Preise
mit einer Verminderung des Angebots
reagieren müssen. Sollte sich die EU in
diesen notwenigen Anpassungsprozess
von Angebot und Nachfrage einmischen,
werde die Reaktion der Landwirte nur
gebremst und verzögert, betonen die
Liberalen.
Größere Einigkeit besteht aber darüber,
dass in der kommenden Reform von
2020 die Versicherungsmöglichkeiten
im Rahmen der GAP ausgebaut werden
sollen. Einige wollen den Versicherungsschutz auf freiwillige Angebote in der
2. Säule der GAP beschränken. Andere
möchten einen Teil der Direktzahlungen abzwacken, um mit den freigewordenen Mitteln allen Landwirten einen
Ausgleich in Zeiten schlechter Preise
gewähren zu können.
Brexit verschiebt Gleichgewicht
Das bisherige Gleichgewicht zwischen
den Liberalen und Traditionalisten im
EU-Agrarministerrat verändert sich,
wenn das Vereinigte Königreich in zwei
Jahren aus der EU austreten sollte. Damit
verschieben sich die Vorzeichen für eine
Debatte um die Zukunft der GAP. Frankreich und die mit ihm häufig verbündeten Mittelmeerländer der EU bekommen
stärkeres Gewicht. Dadurch gewinnt die
Forderung nach dem Erhalt der Direktzahlungen an Boden, auch wenn diese
an immer neue Bedingungen und Auflagen für die Landwirte geknüpft werden
sollten. Das dafür notwendige Geld im
EU-Haushalt nach 2020 lässt sich auch
leichter bereitstellen, wenn die Briten
als permanente Kritiker einer gut ausgestatteten GAP entfallen. Die Verschiebung nach dem Fehlen der Briten wird
sich genauso auf EU-Agrarmarktordnungen auswirken. Die Tendenz zur Rückkehr zur Steuerung der Agrarmärkte
–wenn auch auf neuen Wegen –ist ohnehin vorhanden. Und ohne die wichtige
Gegenstimme der Briten wird sich diese
Tendenz noch verstärken.
Milliardenbeträge fließen in die Landwirtschaft der Europäischen Union.
Der Agraranteil am gesamten EU-Haushalt beträgt 2015 fast 40 Prozent.
Viel oder wenig? Für eine Antwort hilft vielleicht die individuelle Perspektive:
Pro Einwohner errechnen sich lediglich Kosten von 10 Euro pro Monat.
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel:
„Stimmt das System noch, wenn an die 40 Prozent des
EU-Haushalts für Agrarpolitik aufgewendet werden,
während für Forschung, Innovation oder Bildung
signifikant weniger Geld zur Verfügung steht?“
EU-Agrarkommissar Phil Hogan:
„Es ist wichtig, so viele überlebensfähige Betriebe
wie möglich zu erhalten. Deshalb gibt es Direktzahlungen und Marktinstrumente. Wird der Transfer
von Innovationen verbessert, schafft dies neue Jobs.“
Foto: EU-Kommission
Brüssel
der Direktzahlungen hinaus sind aber
auch noch nicht gegeben. Dazu müssten auf der einen Seite die Umweltvorteile des Greenings klarer auf der Hand
liegen. Auf der anderen Seite müssen
sich die Auflagen besser in die landwirtschaftliche Praxis einpassen, ohne Produktionsabläufe zu sehr zu stören. Ob
das Greening diese Bewährungsproben
in den kommenden Jahren bestehen
wird, ist ungewiss. Aber eine Alternative zur weiteren Anbindung der Direktzahlungen an Umweltauflagen ist auch
nicht in Sicht.
Foto: BMWI
Axel Mönch
lich, aber entschiedene Schritte zur
Vereinfachung sind nur mit Eingriffen
in die Grundverordnungen der GAP zu
machen. Und da wagt es kaum einer, das
mühsam 2013 verhandelte und immer
noch gebrechliche Paket an Agrarverordnungen auseinanderzunehmen. Die
ganze Vereinfachungsdebatte hat deshalb keinen rechten Boden unter den
Füßen. Der Ärger über die zunehmende
Verwaltung ist auch deshalb so groß,
weil keiner so recht weiß, ob es einen
Sinn ergibt.
Was die EU die Bürger kostet oder ihnen bringt
Größte Haushaltssalden der Mitgliedstaaten in Euro/Einwohner 2014
Nettozahler
Nettoempfänger
-280
Niederlande
Ungarn
575
-240
Schweden
Litauen
524
Griechenland
473
Malta
422
Lettland
400
-192
Deutschland
-149
Dänemark
-148
Finnland
Quelle: bpb
Entwicklung der EU-Agrarsubventionen
in Prozent des Wertes der Agrarproduktion
45
45
40
40
35
35
30
30
25
25
20
20
15
1986
1989
1992
1995
1998
2001
2004
2007
2010
15
2013 2015
Quelle: OECD
10 Agrarpolitik Europa
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
EU-Agrarkommissare
Mit 27 oder 28 EU-Mitgliedstaaten
kann es keine einheitliche Lösung
für alle geben.“
Foto: EU-Kommission
Denken Sie an eine Halbzeitbewertung
der jüngsten GAP-Reform im Laufe des
Jahres 2017?
Hogan: Ich möchte betonen, dass die
Reform von 2013 ständig überprüft und
verbessert wird, seitdem ich das Amt in
Brüssel übernommen habe. Ich habe in
den vergangenen zwei Jahren eine Fülle von Vereinfachungen vorgenommen.
Einige der komplizierten Vorschriften der
Reform, so wie sie der Ministerrat und das
Europaparlament beschlossen haben,
wurden dadurch einfacher. Als jüngster
Schritt in diesem Prozess kommen einige Maßnahmen zur Vereinfachung des
Greening hinzu.
„Landwirte brauchen auch
in 20 Jahren Unterstützung“
Gesellschaftliche Anforderungen nehmen zu – Nationale Spielräume sind größer geworden
Auch wenn EU-Agrarkommissar Phil
Hogan betont, keine Kristallkugel in
den Händen zu haben, gibt er dennoch
einige Hinweise für die Gemeinsame
Agrarpolitik (GAP) nach 2020. Nach
seiner Ansicht bleiben die Direktzahlungen ein wichtiger Bestandteil der
Agrarpolitik. Schließlich ist Hogan
zuversichtlich, dass in den anstehenden Auseinandersetzungen um knappe
EU-Haushaltsmittel die GAP ausreichend ausgestattet wird.
agrarzeitung: Wird es die GAP in 20 Jahren noch geben und welche Teile haben
Bestand?
Hogan: Vor mehr als 50 Jahren wurde
entschieden, die Agrarpolitik auf der
europäischen Ebene zu regeln und nicht
mehr national oder regional. Diese Entscheidung wurde auch im Vertrag der
EU zementiert. Solange es einen EU-Vertrag gibt, solange werden wir auch eine
gemeinsame Agrarpolitik haben. Daran
führt kein Weg vorbei. Es geht aber nicht
nur in eine Richtung. In der Reform von
2013 haben die EU-Mitgliedstaaten einen
noch nie dagewesenen nationalen Spielraum erhalten. Mit 27 oder 28 EU-Mitgliedstaaten kann es nämlich keine ein-
heitliche Lösung mehr für alle geben.
Ich bin überzeugt davon, dass auch in 20
Jahren Landwirte unbedingt eine Unterstützung brauchen. Schließlich sind die
zunehmende Bedeutung der Klimapolitik und die Auflagen für eine nachhaltige
Produktion Anforderungen der Gesellschaft an die Landwirtschaft, die durch
den Markt nicht entlohnt werden. Hinzu
kommen Risiken durch zunehmende
Preisschwankungen. Darum brauchen
Landwirte Hilfen. Solange wir einen
EU-Binnenmarkt haben, macht es Sinn,
auch die Agrarpolitik im Wesentlichen
gemeinsam zu regeln.
wettbewerbsfähigen Agrarunternehmen
und kleinen Betrieben ist falsch.
Ich komme aus einem kleinen Familienbetrieb. Der Familienbetrieb sorgt
für Lebendigkeit und Überlebensfähigkeit des ländlichen Raumes. Ich stehe
zum Familienbetrieb, der Traditionen
bewahrt und Nahrungsmittel von hoher
Qualität erzeugt, die weltweit berühmt
sind. Das ist ein zentraler Bestandteil
dessen, was uns ausmacht. Sicherlich
müssen die Betriebe auch wettbewerbsfähig sein, aber die Erfahrung zeigt uns,
dass Familienbetriebe diese Rolle ebenso
erfüllen können.
Als ihr wichtigstes Ziel nennt die
EU-Kommission
immer
wieder
„Arbeitsplätze und Wachstum”. Brauchen Sie dafür vor allem wettbewerbsfähige Agrarunternehmen oder auch
traditionelle Familienbetriebe?
Hogan: Wir brauchen einen modernen
und dynamischen Agrarsektor, der nachhaltig und wettbewerbsfähig ist. Er ist das
Fundament für den Nahrungsmittelsektor, der die meisten Arbeitsplätze von
allen Wirtschaftssektoren stellt. Ohne
den Primärerzeuger gibt es keine fertigen
Nahrungsmittel. Der Gegensatz zwischen
Wie wird sich die Verteilung der Agrarsubventionen in den kommenden Jahrzehnten verändern? Wird es weniger
für die ohnehin wettbewerbsfähigen
Betriebe geben und dafür mehr für die
Kleinlandwirte?
Hogan: Ich habe keine Kristallkugel, das
müssen zukünftige Generationen entscheiden. Die Entwicklung geht dahin,
durch das Greening und andere Umweltmaßnahmen Landwirte für die Bereitstellung von öffentlichen Gütern zu bezahlen. Außerdem müssen wir uns darum
kümmern, wie wir Landwirte gegen die
zunehmenden Preisschwankungen absichern können.
Die Zielrichtung bleibt: Landwirte müssen mit geringerem Ressourceneinsatz
mehr erzeugen können. Das macht eine
Agrarpolitik notwendig.
Bleiben die Direktzahlungen auch bis
zum Jahr 2030 das wichtigste Instrument der GAP?
Hogan: Die Direktzahlungen sind das notwendige Sicherheitsnetz für die Landwirte in Zeiten von niedrigen Preisen. Deshalb bleiben sie ein zentraler Bestandteil
für den Umgang mit Risiken in einer
marktorientierten GAP. Was die Versicherungen angeht, gibt es schon freiwillige
Angebote in den ländlichen Förderprogrammen, die von Ungarn, Italien und
Spanien genutzt werden. Es muss beobachtet werden, wie sie sich bewähren.
Ich bin zuversichtlich, dass diese Maßnahmen in den zukünftigen Programmen
einen breiteren Raum einnehmen werden. Die Absatzfördermaßnahmen waren
bereits erfolgreich und haben Rekordausfuhren auf Drittlandmärkten ermöglicht.
Das war unsere Antwort auf das Einfuhrverbot von Russland. Die Absatzförderungsmaßnahmen bauen den weltweit
1958 – 1972
Sicco Manshold (Niederlande)
1972 – 1973
Carlo Scarascia-Mugnozza (Italien)
1973 – 1981
Pierre Lardinois (Niederlande)
1981 – 1985
Finn Olav Gundelach (Dänemark)
1985 – 1989
Frans Andriessen (Niederlande)
1989 – 1992
Ray MacSherry (Irland)
1992 – 1995
René Steichen (Luxemburg)
1995 – 2004
Franz Fischler (Österreich)
2004 – 2010
Mariann Fischer Boel (Dänemark)
2010 – 2014
Dacian Ciolos (Rumänien)
seit 2014
Phil Hogan (Irland)
exzellenten Ruf für Qualität, Tradition
und Sicherheit von europäischen Erzeugnissen aus.
Was sind Ihre Lehren aus der Milchkrise? Wird es ein Zurück zur Mengensteuerung geben?
Hogan: Das ist schon eine schwierige
Situation für die Landwirte, geradezu ein
„perfekter Sturm” durch den Wegfall der
Nachfrage in Russland, den Rückgang in
China und einen deutlichen Anstieg der
Milcherzeugung in der EU, den USA und
in Neuseeland. Aber eins habe ich immer
klargestellt: Eine Wiedereinführung der
Quoten, auch vorübergehend, ist keine
politische Option und auch rechtlich
nicht möglich. Natürlich mussten wir
etwas für die Erzeuger machen, die bei
Wind und Wetter jeden Tag um sechs Uhr
aufstehen, um ihre Kühe zu melken und
unter enormem Stress leiden, seitdem die
Kosten über den Erlösen liegen. Die Verminderung des Überangebots steht für
mich im Mittelpunkt. Ich habe hierfür bis
Ende Juni 23 Maßnahmen beschlossen,
inklusive des 500 Millionen Euro Hilfspakets. Im Agrarrat im Juli sind weitere
Maßnahmen gegen das Ungleichgewicht
im Markt hinzugekommen.
Was braucht die GAP, um möglichst
ungeschoren die Verhandlungen um
den EU-Haushalt für die Jahre 2020 bis
2027 zu überstehen?
Hogan: Die GAP trägt zur sicheren und
nachhaltigen Produktion von Lebensmitteln bei. Das ist die Basis für den Nahrungsmittelsektor, den größten Arbeitgeber in der Europäischen Union. Für etwa
0,3 Prozent aller öffentlichen Ausgaben
– lokal, regional, national und EU-weit
– erhalten wir Lebensmittel, die sicher
und hochwertig sind. Ferner trägt die
GAP zu unserer vielfältigen Landschaft
bei mit Weinhängen und Obstgärten, die
Touristen aus der ganzen Welt anziehen.
Unsere Landwirte erhalten und pflegen
diese Landschaft und versorgen uns mit
Nahrungsmitteln. Wenn wir uns dies klarmachen, ist es doch nicht erstaunlich,
dass die Bevölkerung von Umfrage zu
Umfrage immer wieder ihre eindeutige
Unterstützung für die GAP kundtut.
Die Fragen stellte Axel Mönch
Zur Person
Phil Hogan wurde 1960 im südostirischen Kilkenny geboren. Nach dem
Wirtschafts- und Geografiestudium an
der Universität von Cork leitete er von
1981 bis 1983 den landwirtschaftlichen Betrieb der Familie. Zwischenzeitlich betätigte er sich als Versicherungsund Immobilienmakler und engagierte
sich in der Politik für die Fine Gael Partei. Hogan war irischer Umweltminister
von 2011 bis 2014, bevor er in Brüssel
zum EU-Agrarkommissar benannt wurde.
Mö
Agrarpolitik Europa 11
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Ein ständiger
Anpassungsprozess
Marktkräfte wirken lassen
Von der Sicherstellung der Versorgung bis zur Marktorientierung war es ein langer Weg.
D
ie Gemeinsame Agrarpolitik
(GAP) ist so alt wie die EU.
Gleich in der Gründungsphase wurden in den Römischen Verträgen von 1957
die Ziele festgelegt. Im Mittelpunkt standen die Steigerung der Produktivität
der Landwirtschaft, die angemessenen
Einkommen der Landwirte und die
Sicherstellung der Versorgung. Vor allem
das Gründungsmitglied Frankreich hatte
damals darauf bestanden, neben Kohle und Stahl auch die Landwirtschaft
gemeinschaftlich zu regeln. Die Ziele der
GAP sind geblieben.
Pragmatismus überwiegt
Artikel 39 aus den Römischen Verträgen wurde in den aktuellen EU-Vertrag
von Lissabon übernommen. Sicherlich
hätten viele Beteiligte in den jüngsten
Vertragsverhandlungen in den Jahren
nach 2000 der GAP weitere Ziele hinzugefügt, wie etwa die Schonung von
Ressourcen oder den Tierschutz. Einige EU-Mitgliedstaaten hielten in den
Verhandlungen um den EU-Vertrag von
Lissabon die Einkommenspolitik für
kein zeitgemäßes Ziel mehr. Aber weil
die Debatte um neue Ziele für die GAP
wegen der kontroversen Vorstellungen
sicherlich ausgeufert wäre, begnügte
man sich in Brüssel in pragmatischer
Weise damit, den alten Artikel 39 aus
der Gründungsphase einfach im Lissaboner Vertrag fortzuführen. Trotz
des veralteten Zielkatalogs wurde die
konkrete Ausgestaltung der GAP immer
wieder reformiert.
Seit den frühen 1990er Jahren ist die GAP
eine Geschichte von ständig angepassten EU-Marktordnungen. Eine Reform
löste die andere ab und die GAP ist noch
keinesfalls in einem Zustand von dauerhafter Stabilität angelangt. Im Laufe der
1960er Jahre wurden Marktordnungen
für die meisten Erzeugnisse geschaffen,
immer nach dem vergleichbaren Muster: Importzölle sollten das Preisniveau
in der EU über jenes auf dem Weltmarkt
heben. Um Überschüsse dennoch exportieren zu können, mussten Ausfuhrerstattungen die gerade geschaffenen
Hindernisse im Außenhandel wieder
aufheben. Einzelne Stimmen warnten
schon damals, dass die Preissubventionen dem Verbraucher schaden, den
EU-Agrarhaushalt belasten und zu Überschüssen führen könnten. Doch die Kritik, die vor allem von Wissenschaftlern
und Universitäten geäußert wurde, verhallte ungehört.
Ordnungssystem mit Nebeneffekten
Die unerwünschten Folgen der Marktordnungen entwickelten sich erst langsam.
Noch freute man sich in Europa über die
gemeinsame Agrarpolitik und darauf,
das gemeinsame Projekt vorantreiben zu
können. Erst in den 1980er Jahren zeigten
„Milchseen”, „Butterberge” und „Getreideberge” die Schwächen der damaligen
GAP sehr deutlich auf. Über 90 Prozent des
EU-Haushalts wurden für die Intervention
und für Exporterstattungen aufgewendet.
Als Notbremse wurde 1984 beispielsweise
mit Quoten die Menge der Milcherzeuger
beschränkt. Inzwischen sprechen Agrar-
Foto: Bundesarchiv
Zeitleiste
Bundeskanzler Konrad Adenauer, Staatssekretär Walter Hallstein und der italienische
Ministerpräsident Antonio Segni (v.l.n.r.) bei Unterzeichnung der Römischen Verträge.
1957 Sechs Staaten gründen
die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)
und unterzeichnen die
Römischen Verträge.
Zu den Gründerstaaten
gehören die Bundesrepublik
Deutschland, Frankreich, Italien,
Belgien, die Niederlande und Luxemburg.
Die Agrarpolitik wird vergemeinschaftet.
1962 Die ersten Agrarmarkt­
ordnungen werden auf den Weg
gebracht.
1973 Die Europäische Union wird
um das Vereinigte Königreich, Irland und
Dänemark erweitert zur EU­9.
1979 Die erste Direktwahl des
Europaparlaments findet statt.
1981
Griechenland wird in die Europäische Union aufgenommen zur EU­10.
1986
Die Europäische Union wird um
Spanien und Portugal erweitert zur EU­12.
1992 Abbau der Preisstützung in der
MacSherry­Reform
1995 Erweiterung der Europäischen
Union um Österreich, Schweden und Finnland zur EU­15
1995 Freier Personenverkehr durch
das Abkommen von Schengen
2000 Agenda 2000 und Einrichtung der 2. Säule der GAP
2002
Einführung des Euro
2003
Fischler­Reform mit der
Entkoppelung der Subventionen von
der Erzeugung
2004
Erweiterung der Europäischen
Union um zehn mittel- und osteuropäische Länder zur EU­25. Im Rahmen der
sogenannten Osterweiterung gehören
nun Estland, Lettland, Litauen, Polen,
Tschechien, Ungarn, Slowenien, die Slowakei, Zypern und Malta zur EU.
2007
Die Europäische Union wird
um Rumänien und Bulgarien erweitert zur
EU­27.
2009
Der Vertrag von Lissabon
tritt in Kraft, das Europäische Parlament
darf bei der GAP mitentscheiden
2013
Die Europäische Union wird um
Kroatien erweitert zur EU­28.
2013 Die GAP­Reform mit dem
Greening der Direktzahlungen tritt in
Kraft.
2016
Die Briten
stimmen in einem
Referendum gegen
die EU-Mitgliedschaft.
historiker auch schon von den „Krisenjahren der GAP”.
Reformdruck kam auch von internationaler Seite. Die EU stand wegen ihrer
Preissubventionen in der Uruguay-Run-
de des GATT unter Druck. Ein Abschluss
der damaligen Verhandlungen zur Liberalisierung des Welthandels war nur
möglich, wenn die EU ihren Außenschutz abbaut.
Die Wende in der GAP leitete der irische
Agrarkommissar Ray MacSherry ein. Er
schlug vor, die Interventionspreise für
Getreide zu senken und den Landwirten
dafür zum Ausgleich eine feste Flächenprämie zu zahlen. Mit der Agenda 2000
folgte 1999 die zweite größere Reform
mit einem vergleichbaren Konzept. Die
Garantiepreise wurden weiter zurückgenommen. Die Landwirte bekommen
dafür Direktzahlungen. Zudem wurde mit
der Agenda 2000 die 2. Säule der GAP mit
ihren gezielten Förderprogrammen eingerichtet. Die Direktzahlungen wurden
in der Reform von 2003 von der aktuellen
Produktion abgekoppelt und damit völlig unabhängig von Ernte und Erträgen
gewährt. Damit war der entscheidende
Schritt zur Marktorientierung getan. Land-
wirte können erstmals ihre Entscheidungen unabhängig von der Subventionspolitik treffen. Die Intervention spielt nur noch
eine untergeordnete Rolle.
In der jüngsten Reform aus dem Jahr 2013
geht es darum, einen Teil der Direktzahlungen an zusätzliche Umweltauflagen
zu knüpfen. Dazu zählen unter anderem
bestimmte Fruchtfolgen, Ökobrache odre
der Erhalt von Dauergrünland. Mit dem
sogenannten Greening soll die GAP vor
Kritik in der Debatte um die Verteilung
des EU-Haushalts geschützt werden. Auch
wenn aus dem EU-Haushalt nur noch etwa
40 Prozent des Budgets für die Landwirtschaft ausgegeben werden, bleibt der
Anteil für den grünen Sektor umstritten.
Vor den Verhandlungen über die Verteilung der EU-Mittel für die Jahre 2020 bis
2027 dürfte es deshalb zu einer weiteren
Agrarreform kommen.
Mö
12 Agrarpolitik Europa
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
„Ich betrachte die
Entwicklung mit Sorge“
Die EU-Kommission sollte in der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) wieder deutlicher Akzente setzen. Überzeugende
Reformvorschläge mit Ecken und Kanten
für ihre Widersacher wünscht sich der
ehemalige EU-Agrarkommissar Franz
Fischler. Er sieht eine gerechtere Verteilung der Direktzahlungen als eine Aufgabe für eine kommende Reform. Zudem
warnt er vor einer Rückkehr zur alten
Mengensteuerung.
agrarzeitung: Wünschen Sie sich auf den
Posten in Brüssel zurück oder beobachten Sie die Entwicklungen in der
EU-Agrarpolitik lieber gelassen aus
der Ferne?
Fischler: Weder das eine noch das andere trifft zu. Zum einen habe ich schon am
Ende meiner Funktionsperiode gesagt,
dass eine Blutauffrischung jedem demokratischen System, wie auch die EU eines
ist, guttut. Zum anderen betrachte ich
die Entwicklungen gerade der letzten
Zeit nicht mit Gelassenheit, sondern
mit Sorge. Wir haben in Europa immer
Zur Person
Franz Fischler hinterließ tiefe Spuren
in der europäischen Agrarpolitik. In sei­
ner ersten Amtszeit als EU­Agrarkom­
missar von 1995 bis 1999 baute er die
gestützten Preise ab. In seiner zweiten
Runde in Brüssel von 1999 bis 2004
verstärkte er die Marktorientierung der
Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und
entkoppelte die Subventionen von der
aktuellen Erzeugung. Zuvor hatte Fisch­
ler als Bundeslandwirtschaftsminister
von Österreich den Beitritt seines Lan­
des zur EU vorbereitet. Heute stellt der
1946 in Tirol geborene Politiker seine
Erfahrungen der Wirtschaft und Regie­
rungen im Rahmen eines Beratungsun­
ternehmen, der Franz Fischler Consult,
Mö
zur Verfügung.
noch nicht gut genug gelernt, auf offenen Märkten zu agieren und jedes Mal,
wenn eine Schwierigkeit auftaucht, tendieren wir dazu, die Marktmechanismen
auszuschalten, statt das Marktversagen
abzustellen.
Sie haben damals mit der Entkoppelung der Direktzahlungen eine grundlegende Reform der GAP durchgesetzt.
Was waren die größten Schwierigkeiten
dabei und warum konnte es schließlich
gelingen?
Fischler: Die Entkoppelung der Direktzahlungen war ein enorm wichtiger
Schritt, weil damit das EU–Fördersystem im Wesentlichen WTO–kompatibel
gemacht und die Einkommenswirksamkeit der Direktzahlungen verdoppelt
wurde. Außerdem ist viel Produktionsdruck aus dem System herausgenommen
worden. Gelungen ist die Systemumstellung durch die besseren Argumente
der Kommission gegenüber den EU-Mitgliedstaaten und der Bauernschaft sowie
durch die Unterstützung der breiten
Masse der Bürger und Bürgerinnen. Was
nicht gelang, war ein besseres soziales
Gleichgewicht.
Deutschland hat damals gleich einheitliche Flächenprämien beschlossen.
Wurden Sie damals von dieser Entwicklung überrannt?
Fischler: Nein, ich wusste, was Frau
Künast vorhatte. Abgesehen davon,
wurde die deutsche Vereinheitlichung
der Flächenprämien mit zahlreichen
Übergangsregelungen abgefedert. Der
zentrale Punkt war jedoch, dass viele
Mitgliedstaaten nur für eine auf historischen Förderdaten beruhende Lösung
zu haben waren. Ohne die Wahlmöglichkeit zwischen den zwei Modellen
wäre es zu keiner Reform gekommen.
Für alle, die sich im System auskannten,
war jedoch schon damals klar, dass der
Zug in Richtung deutscher Lösung weiterfahren würde.
Der Kommissar muss heute seine Konzepte nicht mehr nur im Agrarrat durchsetzen. Auch das Europaparlament sitzt
mit am Verhandlungstisch. Wie kann
die EU-Kommission dennoch weiterhin die GAP steuern und vielen Partialinteressen ein geschlossenes Konzept
entgegensetzen?
Fischler: Das ist eine fundamentale
Änderung der Entscheidungsmechanismen. Dadurch sind die Entscheidungen
schwieriger, aber auch demokratischer
geworden. Notwendiger denn je sind
heute wissenschaftliche Untermauerungen der jeweiligen Vorschläge, Analysen zu den Auswirkungen und breit
angelegte Diskussionen sowohl mit den
Agrariern als auch mit der Industrie und
der Zivilgesellschaft. Neue Vorschläge
lassen sich nur durchsetzen, wenn auch
die Kommission für ihre Vorschläge Lobbyismus betreibt. Wichtig ist auch, dass
die Kommission Vorschläge mit Ecken
und Kanten macht, weil nur so am Ende
ein vernünftiger Kompromiss herauskommen kann. Die Barroso-Kommission
hat den Fehler gemacht, bereits mit weichen Kompromissen in die Verhandlungen zu gehen und hat sich dann gewundert, dass am Ende nur wenig erreicht
worden ist.
Was waren die Höhepunkte und was
waren Tiefpunkte in Ihrer Zeit als
EU-Agrarkommissar?
Fischler: Die Höhepunkte waren sicherlich die Reformerfolge: Die Agenda 2000,
die Reform des Jahres 2003 und die
Fischereireform. Die größten Schwierigkeiten bereiteten Krankheiten wie
BSE, Maul-und Klauenseuche sowie die
Schweinepest. Schade ist auch, dass
im Jahr 2004, obwohl wir einer Lösung
schon sehr nahe waren, der Abschluss
der Doha–Runde nicht gelungen ist.
Wird man als EU-Agrarkommissar
innerhalb des Kommissionskollegiums ernst genommen oder belächelt?
Foto: Fischler Consult
Reformvorschläge müssen heute wissenschaftlich untermauert sein –
Chancengleichheit für verschiedene Betriebsformen wichtig
Wenn man einer Renationalisierung
das Wort redet, öffnet man die Schleusen
für Wettbewerbsverzerrungen.“
Fischler: Das hängt im Wesentlichen von
der Persönlichkeit des Kommissars ab.
Was ist wichtig, um politisch als Agrarkommissar zum Ziel zu kommen: Das
Parteibuch, die richtigen Verbündeten,
das gute Konzept oder anderes?
Fischler: Das Parteibuch spielt praktisch
keine Rolle. Verbündete sind wichtig
und ein gutes Konzept ist entscheidend.
Hinzu kommt auch das Vermögen, ein
guter Kommunikator zu sein und mit den
modernen Medien umgehen zu können.
In der EU sind grundlegende Debatten für die zukünftige Ausrichtung der
Landwirtschaft immer noch nicht zu
Ende geführt, etwa Großbetriebe, die
sich dem Markt stellen, contra Familienbetriebe mit dauerhaft staatlicher
Unterstützung. Oder eine industrienahe Landwirtschaft versus einer naturnahen, Letztere mit dem Verzicht auf
den größtmöglichen Output. Wohin
soll sich die Landwirtschaft der EU ausrichten?
Fischler: Diese Art von Debatten wird es
immer geben. Ich plädiere dafür, die
verschiedenen Betriebsformen nicht
gegeneinander auszuspielen, sondern
mehr die richtigen Nischen zu identifizieren, in denen sich die verschiedenen
Betriebsformen entfalten können. Auch
das Fördersystem muss weiterhin so
gestaltet sein, dass eine ausreichende
Chancengleichheit für die verschiedenen
Betriebsformen gewährleistet ist.
Sie haben damals die zwei verschiedenen Säulen der GAP entwickelt. Die 2.
Säule ist klein geblieben, die 1. Säule
wurde mit komplizierten Umweltauflagen verbunden. Was wünschen Sie
sich für Ihre Säulen der GAP in den kommenden zehn Jahren?
Fischler: Beide Säulen sind auch künftig
notwendig. Wünschenswert wäre ein
weiterer Ausbau der 2. Säule, verbunden mit mehr Qualitätskriterien als Voraussetzung für die Förderung. Das wird
jedoch nur möglich sein, wenn man endlich bereit ist, in der 1. Säule eine Degres-
sivität zu akzeptieren. Auch hier hat
Deutschland mit der Art und Weise, wie
es die letzte Reform implementiert hat,
gegenüber den meisten anderen EU–
Ländern wieder einmal die Nase vorn.
Die EU wird von rechten Populisten
mehr und mehr in Frage gestellt. Ist
die GAP für den Zusammenhalt der
EU zuträglich oder sollte Agrarpolitik
wegen der drohenden Konflikte mehr
in die einzelnen EU-Mitgliedstaaten
verlagert werden?
Fischler: Wenn man einer Renationalisierung das Wort redet, öffnet man die Schleusen für Wettbewerbsverzerrungen. Hingegen ist in der Förderprogrammierung
und -verwaltung der ländlichen Entwicklungsprogramme mehr regionale – nicht
nationale – Eigenverantwortung denkbar.
War die Zeit als EU-Agrarkommissar
bisher die schönste und wichtigste in
Ihrem Berufsleben?
Fischler: Ja!
Das Gespräch führte Axel Mönch
Vom Schwarzwald nach Brüssel
Dr. Joachim Heine berichtet von seinen 39 Jahren in der Generaldirektion Landwirtschaft in Brüssel
D
ie Geschichte der EU-Agrarpolitik ist seine eigene
geworden. Dr. Joachim Heine
stieg mit den ersten Marktordnungen in die Generaldirektion Landwirtschaft ein. Den langen
Weg von Reform zu Reform ist er über
sein langes Arbeitsleben hinweg bis zu
seiner Pensionierung mitgegangen.
Durchhaltevermögen war gefragt
Zunächst staunend saß Heine vor der
gerade beschlossenen Marktordnung
für Milch. Der junge Jurist sollte als seine
erste Aufgabe in der Generaldirektion zur
Grundverordnung für den gemeinsamen
Milchmarkt eine Durchführungsverordnung entwickeln und betrat damit für
ihn persönliches, und für die Europä-
Foto: Mö
Eine Mischung aus Zufall und Europabegeisterung brachte Heine aus dem
Südschwarzwald nach Brüssel. Eigentlich sollte der gerade ausgebildete Jurist
1965 nur mal kurz in der EU-Kommission
schnuppern. Etwas „Auslandserfahrung”
der Beamten war vom Innenministerium
in Stuttgart gewünscht. Aus dem geplanten Jahr in Brüssel wurden dann 39 Jahre, aus dem Assessor im Landratsamt
Freudenberg wurde ein stellvertretender Generaldirektor der EU-Kommission. „Es war damals eine Atmosphäre
des Aufbruchs”, berichtet Heine aus
seiner Anfangszeit in Brüssel. Zumeist
junge und engagierte Männer aus den
sechs Mitgliedstaaten der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wollten
etwas Gemeinsames aufbauen und auf
Wunsch von Frankreich hin sollte der
Agrarsektor unbedingt dazugehören.
Joachim Heine wünscht sich
mehr Mut und Gestaltungs­
willen von der heutigen
Generaldirektion Landwirt­
schaft.
ische Wirtschaftsgemeinschaft politisches Neuland.
Mühsam waren die Anfangsjahre. Die
Agrarministerräte machten gleich von
Beginn an durch ihre langen Nachtsitzungen von sich reden. Gleich über mehrere
Tage verhandelten die Minister in den
jährlichen Preisrunden. Heine musste als
Kommissionsbeamter ausharren und seinem Kommissar zuarbeiten. „Zunächst
war es bitter zu sehen, wie viele Abstriche
wir von unseren vernünftigen Vorschlägen machen mussten”, berichtet Heine
von der mühsamen Kompromisssuche,
obwohl zunächst nur sechs Mitgliedstaaten am Tisch saßen. Später nahm
der Jurist seine hohen Ansprüche etwas
zurück. Immerhin sei es besser, in kleinen Schritten langsam vorwärts zu kommen, als auf der Stelle zu treten, betont
er. Nach Ansicht von Heine wurden aus
schlechten Kompromissen mit der Zeit
immer bessere. Was sich nicht bewährte,
wurde stetig nachgebessert.
Vom Sinn der Preisstützungen in den
Anfangsjahren der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) war der Jurist damals überzeugt. „Wir wollten die Ernährung aus
der eigenen Produktion sicherstellen
und nicht, wie England, auf Importe
angewiesen sein”, berichtet Heine. Da
ergab es sich von selbst, dass gestützte
Preise den Landwirten Anreize zur Ausdehnung der Produktion und ausreichende Einkommen geben sollten. Auch
der hohe Außenschutz gehörte in die
Logik dieses Systems, von dem damals
die Mehrheit im Agrarsektor überzeugt
war. Spätestens in den 1980iger Jahren
wuchs dann bei den Kommissionmitarbeitern das Entsetzen über nicht mehr
zu bewältigende Berge an Butter, Getreide und Rindfleisch in der Intervention.
Neuausrichtung der Agrarpolitik
Nach Ansicht von Heine nicht nur ein
strukturelles Problem, sondern auch
Fehlentscheidungen im EU-Agrarrat,
in dem die Minister die institutionellen
Preise regelmäßig zu hoch ansetzten.
Der Anstoß zu einer Kehrtwende in der
GAP kam von außen. So hatte der damalige
Kommissar Frans Andriessen erheblichen
Einfluss auf die Wende in der Agrarpolitik,
erinnert sich Heine. Andriessen war Mitte
der 1980iger Jahre für die Außenpolitik
zuständig und bekam in der Uruguay-Runde des Gatt deutlich zu spüren, dass die
EU ihre Abschottung vom Weltagrarmarkt
nicht mehr aufrechthalten konnte. Der
damalige EU-Agrarkommissar Ray MacSherry zögerte dagegen zunächst mit den
notwendigen Preisabsenkungen. „Es hieß,
die beiden hätten sich fürchterlich gezankt
und erst der Druck von Andriessen habe
zur Wende in der Agrarpolitik geführt”,
berichtet Heinen.
Die Eingriffe in das Marktgeschehen
zum Beispiel durch Exporterstattungen
haben dem Kommissionsbeamten nicht
sonderlich behagt. Als er übergangsweise mal für ein paar Wochen an der Spitze der Generaldirektion stand, musste
er die Höhe der Exporterstattungen für
Getreide festsetzen. „Das war mir sehr
unangenehm, in die Marktentwicklung
hineinzuregieren”, erinnert sich Heine.
Sicherlich habe er sich auf die Erfahrungen seiner kompetenten Mitarbeiter verlassen, aber ein ungutes Gefühl bei den
wirtschaftlich relevanten Entscheidungen blieb dennoch zurück. Wohlgefühlt
hat sich der Jurist in der Qualitätspolitik
und im Veterinärwesen. Er entwickelte das System von geografischen Herkunftsbezeichnungen, das heute noch
zentraler Bestandteil der GAP ist, um die
Qualität herauszustreichen.
Als Höhepunkt seiner Karriere erlebte
Heinen die Bewältigung der BSE-Krise. Er war für das Veterinärwesen in
der EU-Kommission zuständig, als die
Rinderseuche grassierte und in der
Öffentlichkeit zu heftigen Reaktionen
führte. Die kompetente und schnelle
Bekämpfung von BSE hält Heine heute
für den größten Erfolg seines Berufslebens. Nach dem Tiefpunkt gefragt,
geht Heinen in seine Anfangszeit in
Brüssel zurück. Die „Politik des leeren
Stuhls” vom französischen Präsidenten
Charles de Gaulle 1965 und 1966 habe
ihn schockiert. Im Nachhinein habe
sich der Boykott in den Verhandlungen
als halb so schlimm erwiesen, aber in
der Situation habe er Europa am Rande
des Abgrunds gesehen. Als besonders
guten Agrarkommissar hebt Heine
Franz Fischler hervor, der ihn im Jahr
2003 auch in die Pension verabschiedet hat. Fischler verstand nach seiner
Meinung nicht nur viel von der Landwirtschaft, sondern habe auch den Mut
gehabt, Neuerungen in der Agrarpolitik
durchzusetzen.
Krisenfester Steuermann
Mit Ratschlägen für die Generationen
nach ihm hält er sich zurück. Nur nach
längerem Zögern bedauert er dann doch,
dass aus der Generaldirektion Landwirtschaft heute weniger Initiativen für die
Zukunft der GAP angestoßen werden.
„Die EU-Kommission hört zu sehr auf
das, was die EU-Mitgliedstaaten und
das Europaparlament vorschlagen und
gestaltet die GAP weniger als früher”,
bedauert Heinen in seinem Schlusswort.
Mö
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Agrarpolitik Deutschland
13
Flächennutzung in Deutschland
Stand 31.12.2014, in Prozent
30,6
Waldfläche
2,4
Wasserfläche
13,7
Fläche
Deutschlands:
357 376 km2
Siedlungsund Verkehrsfläche
1,7
51,7
Sonstige Flächen
einschl. Abbauland
Fotos: Jürgen Struck; M. Großmann/pixelio.de; Montage az
Landwirtschaftsfläche
In die Rahmenbedingungen für die Nutzung landwirtschaftlicher Flächen greifen verschiedene Bundesministerien ein.
Die gesamte Fläche Deutschlands umfasst rund 360 000 Quadratkilometer. Rund 50 Prozent davon werden landwirtschaftlich genutzt. Zusammen
mit Wald- und Wasserflächen fallen somit gut 85 Prozent in den Verantwortungsbereich des Bundeslandwirtschaftsministeriums (BMEL).
Quelle: Statistisches Bundesamt
Etat des Bundesagrarministeriums 2017
Hauptausgabearten – Angaben in Mio. Euro (Gesamt: 5 900 Mio. Euro)
74
700
Internationale Maßnahmen
Weitere Ausgaben**
268
Im Spannungsfeld
vieler Ressorts
Forschung, Innovation
765
3 917
Gemeinschaftsausgabe GAK*
Landwirtschaftliche
Sozialpolitik
162
Gesundheitlicher
Verbraucherschutz
*Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung Agrarstruktur und Küstenschutz
**Marktordnung, Versorgungsausgaben Ministerium, Forschungsinstitute
Quelle: BMEL, Juli 2016
Gesellschaftliche Anforderungen verlangen Sachwissen und Interessenausgleich
deslandwirtschaftsministers. Kaum ein
Monat vergeht, ohne dass Schmidt oder
Angehörige seines Stabes sich an irgendeinem fernen Ort der Welt aufhalten.
Dr. Jürgen Struck
Korrespondent Berlin
S
eit Februar 2014 leitet Christian Schmidt als Bundesminister Ernährung und Landwirtschaft das Agrarministerium
(BMEL) in Berlin. Für den
Juristen und langjährigen
Staatssekretär im Bundesministerium
für Verteidigung ein völlig neues Aufgabengebiet. Erste Berührungen mit der
Agrarwirtschaft – zumindest im internationalen Umfeld – konnte Schmidt nach
der Bundestagswahl im September 2013
bis zu seiner Ernennung zum Minister
als Staatsekretär im Bundesministerium
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (BMZ) sammeln.
Auffallend in der bisherigen Amtsführung
ist die intensive Reisetätigkeit des Bun-
Grund dafür ist sicher zum einen die
immer deutlicher erkennbare Einbindung der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft in die globalen Wirtschaftsbeziehungen, jedoch auch die
Beteiligung Deutschlands in internationale Organisationen wie die G-20
oder G-7 Gruppen. Agrar- und Ernährungswirtschaft entwickelt sich – jenseits rein wirtschaftlicher Aspekte – zu
einem Arbeitsgebiet mit strategischer
Bedeutung für gesellschaftliche Prozesse in der Welt.
Breite Zuständigkeit
Die Herausforderung der aktuellen
Migrationsbewegungen ist dafür das
jüngste Beispiel. Die Erarbeitung tragfähiger und zielorientierter Konzepte für
die Hilfe „vor Ort” fällt zu einem großen
Teil und mit wachsender Bedeutung
in den Kompetenzbereich des BMEL.
Sinnvolle Synergien ergeben sich aus
engen Beziehungen zum BMZ – eine
vertiefte und engere Kooperation zeichnet sich ab.
Erste Aufgabe für den Bundesagrarminister bleibt jedoch die Entwicklung des
Sektors in Deutschland und Europa. In
der Öffentlichkeit und auch im politischen Umfeld wird dabei die Vielfalt der
Zuständigkeiten des BMEL unterschätzt.
lichen Erzeuger immer stärker unter
Druck und sehen sich in vielen Fällen
auf die Anklagebank gesetzt – aus ihrer
Sicht zu Unrecht.
Sie umfassen weit mehr als die Schaffung
notwendiger Rahmenbedingungen für
den produzierenden Sektor und Unterstützung in Krisensituationen. So besitzt
es in gesetzgeberischer Hinsicht einerseits breite Zuständigkeiten und Verantwortung, gleichzeitig ist seine Kompetenz
zur Umsetzung jedoch eingeschränkt.
Daraus resultieren Unsicherheit und
vielfach auch Zweifel an der zukünftigen
Ausrichtung der Agrarpolitik. Welchen
Stellenwert besitzen die landwirtschaftlichen Betriebe überhaupt noch, fragen
sich die Erzeuger? Agrarpolitik ist auch
Umweltpolitik, seit einigen Jahren auch
Energiepolitik. Dementsprechend nehmen verschiedene Ressorts Einfluss auf
die Gesetzgebung. In vielen Fällen, beispielsweise dem Tierschutz oder der
Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ist
das Agrarministerium zwar federführend
bei der Erarbeitung von Gesetzen, doch
die alleinige Entscheidungshoheit besitzt
es nicht. Verzögerungen bis hin zu Blockaden wichtiger Prozesse sind die Folge.
Nationale Agrarpolitik ist in hohem
Maße eingebunden in das bestehende
Regelwerk der EU – der Gemeinsamen
Agrarpolitik (GAP). Und die föderale
Struktur Deutschlands gibt den Bundesländern ein starkes Mitspracherecht.
Dabei kommt es häufig zu großen Meinungsverschiedenheiten zwischen den
Landesvertretern und dem Bund, besonders über die grundsätzliche Ausrichtung der Agrarpolitik.
Landwirtschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend zu einem
gesellschaftspolitischen Konfliktfeld
entwickelt. Dabei geraten die eigent-
Kompetenzgerangel
An verschiedenen Stellen hat der Bundesminister seiner Sorge um den ländlichen Raum Ausdruck gegeben. Daher
strebe er weitere Befugnisse, so auch
für die Infrastruktur, an. Für ihn gehöre
der Agrarsektor wieder „in die Mitte der
Gesellschaft”.
Nach wie vor arbeitet das Bundeslandwirtschaftsministerium
an zwei
Dienstorten. Die Leitungsabteilungen des
Ministeriums befinden sich in Berlin. Die weit überwiegende
Mehrheit der 882
Beschäftigten arbeitet am
Dienstsitz Bonn.
Agrarimporte und -exporte
Entwicklung im Zeitraum 2000 bis 2015; Angaben in Mrd. Euro
Agrarimporte nach Deutschland
Agrarexporte aus Deutschland
41,5 28,0
2000
*vorläufig
51,6 40,6
2006
75,4 63,4
2014
74,5 65,4
2015*
Quelle: BMEL
14 Agrarpolitik Deutschland
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Expertise aus Deutschland ist gefragt
Agrarministerium baut weltweite Kooperationen aus – Zielsetzung verändert sich – Neuer Schwerpunkt ist Afrika
Neue Zielländer
Bereits in der Vergangenheit stand das
BMEL mit vielen Ländern der Welt in
enger Verbindung. Doch in der jüngeren
Zeit sind viele neue hinzugekommen.
Sambia zum Kreis der Fokusländer für die
deutsche Entwicklungspolitik, bestätigt
Bleser. Doch die Bemühungen besonders in Afrika müssen weiter intensiviert
werden, „sonst haben wir in Europa ein
großes Problem”, sagt er.
Programmregionen und Partnerländer des Deutschen Agrarministeriums
Notwendig sei eine zunehmend enger
werdende Kooperation mit dem Entwicklungsministerium. Dieser Weg sei bereits
eingeschlagen und werde zügig weiterverfolgt. Festzustellen sei aber auch, dass
die Expertise des BMEL sehr stark nachgefragt werde. Das Ministerium stoße
sowohl in personeller als auch finanzieller Hinsicht immer stärker an Grenzen. Es
gehe bei der Aufbauarbeit zunehmend
um Arbeit an konkreten Projekten in den
Zielländern, diese könne das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) trotz intensiver Bemühungen
allein gar nicht leisten.
jst
Zur Person
Quelle: BMEL
des Freihandelsabkommens zum Beginn
des Jahres 2016 befinde sich die Ukraine
in einem umfassenden und grundlegenden Reformprozess, betont Bleser. Diesen
begleite das BMEL sehr intensiv. Die Ukraine spiele eine sehr bedeutende Rolle als
Getreideexporteur auf dem Weltmarkt.
Aber auch für Exportgüter in die Länder
der EU ergäben sich neue Möglichkeiten.
Umgekehrt bestehe in der Ukraine ein
großer Bedarf an landtechnischer Ausrüstung sowie Betriebsmitteln. Hier biete sich
gutes Absatzpotenzial für deutsche Exporteure. Nach wie vor seien die wirtschaftlichen Beziehungen durch die andauernde
politische und wirtschaftliche Krise in der
Ukraine getrübt, sagt Bleser. Dennoch stehe sie als Hoffnungskandidat weit oben
auf der Liste der aus Deutschland zu unterstützenden Länder.
Mehr als nur Absatzmarkt
Die internationale Zusammenarbeit bietet aus deutscher Sicht jedoch mehr als
nur reine Handelsfragen und die Erschließung neuer Absatzmärkte, betont Bleser. Es ist für uns sehr wertvoll, dass die
Verantwortlichen in den Kooperationsländern den Eindruck haben, dass wir
nicht nur „verkaufen” wollen. Es besteht
ein reales Interesse an positiven Entwick-
Seit Dezember 2013
ist Peter Bleser
(CDU) Parlamentarischer Staatssekretär
im Bundeslandwirtschaftsministerium
(BMEL) in Berlin. Der
gelernte Landwirt ist seit 1990 Mitglied
des Deutschen Bundestages, seit 2002
als direkt gewählter Abgeordneter des
Wahlkreises Mosel/Rhein-Hunsrück.
Den eigenen von den Eltern übernommenen landwirtschaftlichen Betrieb hat
er in der Zwischenzeit an seinen Sohn
übergeben.
Im Berliner Politikbetrieb gilt Bleser als
„Mitglied im Verein für klare Sprache“. jst
lungen – und das nehmen sie uns ab, sagt
Bleser.
Als neuen Schwerpunkt mit höchster
politischer Bedeutung nennt Bleser die
Aufbauarbeit in Ländern Afrikas. Der Frieden in diesen Ländern habe auch viel mit
Landwirtschaft zu tun. Die Dynamik der
Bevölkerungsentwicklung in Afrika sei
unglaublich hoch und die Perspektiven
für die vor Ort lebenden überwiegend
sehr jungen Menschen seien stark eingetrübt. Es gebe bereits positive Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit
Äthiopien, aufgrund günstiger Voraussetzungen gehöre seit einigen Jahren auch
Foto: jst
Auch die Ukraine hat Bleser im Frühjahr
2016 besucht. Mit diesem Land besteht
traditionell eine zunehmend enge Zusammenarbeit. Allein aus politischen Gründen
sei Deutschland an einer positiven Entwicklung des Landes mit seinen 45 Millionen Einwohnern in naher Nachbarschaft
interessiert. Seit dem Jahr 2006 leistet der
„Deutsch-Ukrainische Agrarpolitische
Dialog” mit Beratungspapieren, Fachinformationsfahrten, Kommentierung von
Gesetzentwürfen und Veranstaltungen
Beiträge zu den jeweils aktuellen agrarpolitischen Schwerpunktthemen. Nach
dem Abschluss des Assoziierungsabkommens und der schrittweisen Umsetzung
Internationale Projektarbeit
Die Basis bestimmt die Politik
Deutscher Bauernverband betont seine Klammerfunktion
D
er gesamte Agrarsektor
erhält eine immer größere Aufmerksamkeit, dies
müssen wir nutzen”, sagt
Bernhard Krüsken. Der
Generalsekretär des Deutschen Bauernverbandes (DBV) zeigt sich zuversichtlich. Seit 2013 ist er verantwortlich
für die operative Arbeit der größten landwirtschaftlichen Berufsorganisation am
Sitz in Berlin. Etwa 90 Prozent der etwa
300 000 landwirtschaftlichen Betriebe
sind über 18 Landesverbände im DBV
organisiert. Darunter finden sich alle
Arten der Erzeugung, von Milch über
Fleisch und Getreide bis hin zu Obst- und
Gemüseanbauern.
Der DBV ist und bleibt die Klammer für
alle Erzeuger, betont Krüsken. Dies
sei angesichts der Vielfalt der Interessen nicht immer eine leichte Aufgabe.
Dennoch sei es bisher immer gelungen, für die übergeordneten Interessen
gemeinsame Linien und Positionen zu
finden und nach außen zu
vertreten.
Jedoch verfügen diese nach
seiner Aussage über erheblich größere Ressourcen.
Allein die Umweltorganisationen Bund für Umwelt und
Naturschutz Deutschland
(BUND), der deutsche Naturschutzbund (Nabu) sowie
Greenpeace Deutschland
seien mit mehr als 500 Mitarbeitern und einem Budget
von mehr als 100 Millionen
Euro dem DBV in Bezug auf
„Manpower” und finanzielle
Mittel weit überlegen.
Dem immer wieder geäußerten Argument einer zu
starken und durch den DBV
verfolgten Exportorientierung der deutschen Agrarwirtschaft tritt Krüsken entgegen. Nach wie vor würden
drei Viertel der erzeugten
300 000 MitgliedsGüter auf dem heimischen
betriebe prägen den
Markt abgesetzt, etwa 20
DBV, sagt Bernhard
Prozent gelangen in die
Krüsken.
Länder der EU und nur etwa
5 Prozent werden tatsächlich in Drittländer exportiert. Dies sei
Großen Wert legt Krüsken auf die Betomit Blick auf die Wertschöpfung für die
nung des basisdemokratischen Prinzips
Erzeuger auch absolut sinnvoll.
des DBV. Alle Positionen würden in den
Landesverbänden erarbeitet. Hier nutze
Angesichts der gesellschaftlichen Disder DBV auch die große Kompetenz in
speziellen Fragen, etwa in steuerlichen
kussionen über die Landwirtschaft sieht
Angelegenheiten. Der DBV verfüge über
Krüsken den DBV als „größte Nichtregierungsorganisation” (NGO) im ländlichen
ein exzellentes Netzwerk – er sei viel mehr
Raum im Wettbewerb mit anderen NGO.
als die Geschäftsstelle in Berlin.
jst
Foto: DBV
Peter Bleser kommt rasch zum Punkt:
für ihn ist die Einbindung der deutschen
Agrarwirtschaft in den internationalen
Markt nicht verhandelbar. „Seit mehr
als zehn Jahren sehen wir eine rasch
zunehmende und positive Entwicklung des Agrarhandels in Deutschland”,
sagt er. Sowohl die Export- als auch die
Import- aktivitäten hätten sich kontinuierlich erhöht. In allen seinen Tätigkeiten
innerhalb der seit 2005 an der Regierung
beteiligten CDU habe er auf die Chancen
der deutschen Agrarwirtschaft hingewiesen und diese in Zusammenarbeit
mit anderen verantwortlichen Stellen
innerhalb des Bundeslandwirtschaftsministeriums (BMEL) sowie Partnereinrichtungen versucht umzusetzen.
Dies zeige nun zunehmend positive
Ergebnisse, der Wert der Exporte steige
kontinuierlich, gleichzeitig jedoch auch
jener der Importe. Unter dem Strich ist
Deutschland Nettoimporteur für Agrargüter, gleich welcher Art.
Zum Beispiel der Iran. Nach Aufhebung
jahrzehntelanger Sanktionen gegen das
Land zu Beginn dieses Jahres kehre der
Iran zurück auf die Bühne internationaler wirtschaftlicher Verflechtungen. Das
Land mit seinen rund 80 Millionen Einwohnern biete für die verschiedensten
Bereiche hervorragende Entwicklungsperspektiven, zeigt sich Bleser überzeugt.
Erst vor wenigen Wochen war Bleser mit
einer Delegation deutscher Fachleute und
Unternehmen aus dem Agrarsektor zu
Besuch im Iran. Sein Eindruck sei, dass
das Interesse im Iran zur Kooperation mit
Deutschland „überragend groß ist”. Unter
allen möglichen Partnerländern habe der
Iran nach seiner Überzeugung Deutschland an die erste Stelle für eine künftige
Zusammenarbeit gesetzt. Die etwa 20
Unternehmensvertreter der verschiedenen Branchen aus der Pflanzenproduktion, der Tierhaltung sowie der Landtechnik hätten ihm gegenüber geäußert, dass
sie noch in keinem anderen Land so offen
empfangen worden wären. Es sei in den
Gesprächen bereits sehr konkret verhandelt worden, hätten sie berichtet.
Sachdiskussionen unverzichtbar
Raiffeisenverband plädiert für klare Entscheidungsstrukturen
I
m Agribusiness sind wir
einer der wichtigsten Spitzenverbände, das sagen
wir ganz unbescheiden”
sagt Dr. Henning Ehlers,
Hauptgeschäftsführer des
Deutschen Raiffeisenverbandes (DRV) in Berlin.
Foto: jst
D
er Agrarmarkt zeigt sich
zunehmend international.
Das Bundesministerium für
Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) spielt eine
wichtige Rolle für die Erschließung von
Märkten für die deutsche Agrar- und
Ernährungswirtschaft. Als neue und
zunehmend wichtige Aufgabe entwickelt sich die fachliche und technische
Unterstützung der Aufbauarbeit in Entwicklungs- und Schwellenländern.
se Zahl mit heute etwa
2 500 mehr als halbiert.
Gleichzeitig sei der Umsatz
der Unternehmen in diesem Zeitraum um fast 100
Prozent auf mehr als 60
Milliarden Euro gestiegen.
Die genossenschaftlichen
Unternehmen beschäftigen fast 90 000 Mitarbeiter
vorwiegend im ländlichen
Raum.
Der DRV werde gehört, in der
Politik, bei Medien und FachLandwirtschaft darf
behörden, betont er. Gleichnicht zum Spielball der
wohl stehe der Verband
Politik werden, fordert
angesichts des sich schnell
Verändert haben sich auch
Henning Ehlers.
wandelnden Umfelds ständas wirtschaftliche, politidig vor neuen Herausfordesche und mediale Umfeld,
rungen, auf die er immer wieder neu
führt Ehlers aus. Seit vor gut zehn Jahreagieren müsse.
ren die Liberalisierung der Agrarpolitik der EU durch den Abbau von Zöllen
Im Wandel befindet sich auch die Basis
und Marktordnungen begann, sind die
des DRV. Waren in ihm vor 25 Jahren
Agrarmärkte in Deutschland und Europa
noch rund 6 000 genossenschaftliche
zunehmend den Einflüssen des WeltUnternehmen organisiert, hat sich diemarktes ausgesetzt. Dies bedeute große
Chancen, berge jedoch auch Risiken.
Es sei eindeutig, dass die gegenwärtige
Preiskrise im Agrarsektor, besonders im
Milchmarkt, global induziert sei.
Neu sei ebenfalls, dass die sachliche
Information heute weniger gefragt ist
als der Effekt, bemerkt Ehlers. Daher
müsse auch der DRV heute pointierter
und zugespitzter formulieren, um seine
Positionen zu vertreten. Denn die Interessenvertretung finde heute in einem
anderen Umfeld statt als noch vor 15 Jahren zu Bonner Zeiten.
Erschwert werde die Arbeit auch durch
die Zuständigkeit verschiedener Ministerien für Fragen der Agrar- und Umweltpolitik. Wichtige Entscheidungen würden dadurch verzögert oder gänzlich
entfallen. Wünschenswert sei, wenn
die Zuständigkeiten wieder konzentriert würden.
jst
Agrarpolitik Deutschland 15
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
1.
2.
3.
Wie beurteilen Sie die Agrarpolitik
der vergangenen Jahrzehnte?
Wird oder muss sich die Agrarpolitik
ändern?
Worauf sollten sich Erzeuger
(Pflanze-Tiere) für die nächsten
15 Jahre einstellen?
4.
Welche Bedeutung besitzt der
Agrarsektor als Wählerpotenzial für
die Politik überhaupt noch?
Die Fragen stellte Dr. Jürgen Struck
„Ignoranzgegenüber
gesellschaftlichen
Entwicklungenwirdder
Landwirtschaftnicht
helfen.“
Dr.KirstenTackmann
Bundestagsfraktion
Die Linke
Franz-JosefHolzenkamp
Bundestagsfraktion der
CDU/CSU
„DieAgrarpolitik
brauchteinen
Perspektivwechsel.“
„DieLandwirtschaftist
Rückgratderländlichen
Räume.“
1.  Die Agrarpolitik hat in den letzten Jahrzehnten
eine wichtige Richtungskorrektur vollzogen, weg von
einer rein ökonomischen Betrachtung hin zu größerer Beachtung der Auswirkungen dieses Sektors auf
Gesellschaft und Umwelt. Die verschiedenen Reformen der Gemeinsamen (europäischen) Agrarpolitik
(GAP) stehen Pate hierfür. Wurden früher bestimmte Agrarprodukte gefördert, stehen heute vor allem
Leistungen für Klima, Umwelt oder ländliche Räume im Mittelpunkt der GAP.
1.  Die gemeinsame Agrarpolitik hat sich von der Bereitstellung günstiger Nahrungsmittel in den 1960er
Jahren über Protektionismus und Exportförderung
der 1970/80er Jahre bis hin zur Weltmarktorientierung in den 1990er Jahren immer wieder verändert.
Weltmarktorientierung und Industrialisierung haben die Landwirtschaft aber in gefährliche Abhängigkeiten getrieben und zum Verlust zahlreicher
bäuerlicher Betriebe geführt, mit weitreichenden
Folgen für Umwelt, Tiere und den ländlichen Raum.
1.  Die herrschende Agrarpolitik hat die Landwirtschaft in eine Sackgasse geführt. Die vorgeblichen
Ziele der Förderpolitik der EU wie Existenzsicherung
der Erzeugerbetriebe oder bezahlbare Lebensmittelpreise sind nicht oder nur zu einem hohen Preis
für die Gesellschaft und die Landwirtschaft selbst erreicht. Massiver Strukturwandel, Erzeugerpreiskrisen, explodierende Bodenpreise und wachsender
Einfluss durch landwirtschaftsfremdes Kapital sind
das Ergebnis. Das ist ein riskanter Irrweg.
2.  Unsere Hauptaufgabe wird sein, zwei wesentliche Strömungen innerhalb der Agrarpolitik miteinander in Einklang zu bekommen. Es geht um die
Vereinbarkeit von wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaftsbetriebe und einer nachhaltigen Agrarpolitik im Kontext der Ernährungssicherung – und das weltweit. Wir müssen als Politik
hier den richtigen Rahmen setzen. Gerade im Agrarbereich gilt es, naturgegeben längere Zyklen zu beachten als bis zur nächsten Bundestagswahl.
2.  Die Landwirtschaft und die gemeinsame Agrarpolitik wird sich den gesellschaftlichen Erwartungen anpassen müssen. Die finanzielle Ausstattung
der Gemeinsamen Agrarpolitik ist von 70 Prozent
des EU-Budgets in den 1980ern auf heute unter 40
Prozent gefallen, mit sinkender Tendenz. Die Verwendung begrenzter Mittel ist nur zu rechtfertigen, wenn konkrete gesellschaftliche Ziele damit
erreicht werden.
2.  Die Agrarpolitik braucht einen Perspektivwechsel: Landwirtschaft sollte die Versorgung der Gesellschaft mit existenziellen Gütern wie Lebensmitteln
und erneuerbarer Energie sichern. Wenn die Agrarpolitik die Systemfehler bearbeitet, würden der Gesellschaft auch keine teuren Rettungspakete als Sterbehilfen zugemutet.
3.  Zuallererst sollten wir ehrlich zueinander sein:
Unter den jetzigen Bedingungen wird sich der strukturelle Wandel innerhalb des Agrarsektors weiter
fortsetzen. Das heißt hin zu größeren Betriebsstrukturen und kleine Betriebe fast nur noch im Nebenerwerb. Außerdem sollte sich der Agrarsektor darauf
einstellen, dass spätestens ab 2020 die EU-Förderung deutlich geringer ausfallen wird als derzeit.
4.  Vom Agrarsektor hängt keine Wahlentscheidung
ab. Zudem werden mit dem weiteren Strukturwandel der Bezug zur Landwirtschaft und damit auch
der Einfluss auf das Wählerpotenzial weiter sinken.
Dies muss auch der Bauernverband begreifen. Nur in
Verbindung mit Verbraucherpolitik ist der Agrarsektor für eine immer größere Wählerschicht wichtig.
3.  Die Orientierung an veränderten gesellschaftlichen Zielen und globalen Herausforderungen ist
heute dringender denn je. Tier-, Umwelt- und Klimaschutz und attraktive ländliche Räume sind politische Ziele und werden von der Gesellschaft eingefordert. Dazu kommen Volatilitäten auf dem Weltmarkt
und ein immer stärkerer Strukturwandel. Die richtige politische Gestaltung wird immer wichtiger.
4.  Der Agrarsektor im engeren Sinn hat wenig Bedeutung als Wählerpotenzial. Der ländliche Raum
als Ganzer gewinnt jedoch immer mehr an Bedeutung. Die Landwirtschaft ist davon ein Teil. Sie ist eine
Gruppe mit hoher Lobbykraft. Ein Rückzug in die Wagenburg und Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen
Ansprüchen wird der Landwirtschaft nicht helfen,
sondern sie in die Isolation treiben.
3.  Wir brauchen einen neuen gesellschaftlichen
Konsens darüber, wo, wie, von wem und zu welchen
Kosten Lebensmittel produziert werden. Sozial und
ökologisch vernünftiges Handeln darf kein betriebswirtschaftliches Risiko sein. Skrupellosigkeit gegen
Mensch und Natur darf sich nicht lohnen. Transparente, regional verankerte Strukturen und vertrauenswürdige Kennzeichnung sind die Grundlage.
4.  Das Thema Ernährung hat wachsende Bedeutung. Ökologische und soziale, aber auch gesundheitliche Risiken der aktuellen Agrarpolitik werden ebenso diskutiert wie TTIP, Glyphosat oder
Dumpingpreise. Diese kritische Debatte für einen
Dialog zwischen Landwirtschaft, dörflicher Bevölkerung und Verbraucherinnen und Verbrauchern
aufzugreifen, kann beispielgebend für einen neuen Stil der gemeinsamen Entwicklung demokratischer Entscheidungen sein.
Foto: Fraktion CDU/CSU
„Spätestensab2020wird
dieEU-Förderungdeutlich
geringerausfallenals
derzeit.“
FriedrichOstendorff
Bundestagsfraktion
Bündnis90/Die Grünen
Foto: DIE LINKE.Brandenburg
Dr.WilhelmPriesmeier
Bundestagsfraktion der
SPD
Foto: Fraktion SPD
Der Agrarsektor und mit
ihm die ländlichen Räume
in Deutschland stehen
vor großen Heraus­
forderungen. Was wird
oder muss sich ändern?
Die Agrarpolitischen
Sprecher der im Bundestag
vertretenen Parteien
äußern ihre Meinungen
und Erwartungen.
Foto: Fraktion Bündnis90/Die Grünen
Die Ansprüche an die Landwirtschaft steigen
1.  Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte hat die
europäische Agrarpolitik einen erfolgreichen Wandel vollzogen: Weg von produktions- und mengenabhängigen Zahlungen hin zu Marktorientierung, Wettbewerb und Nachhaltigkeit mit Ausgleichszahlungen
für erhöhte Erzeugungsstandards. Gleichzeitig muss
man kritisch feststellen, dass in den letzten Jahren
ein Trend zur überbordenden Bürokratie einsetzte.
2.  Die Politik kann den Markt nicht außer Kraft setzen. Auch der fortschreitende Strukturwandel wird
sich nicht durch staatliche Eingriffe aufhalten lassen.
Wir wollen auch zukünftig eine wettbewerbsstarke
Landwirtschaft in Deutschland. Dafür müssen Dialog, Sachorientierung und Entscheidungsfreiheit
den Ton angeben – statt Konfrontation, Ideologie
und Bevormundung.
3.  Wir benötigen eine Landwirtschaft, die wirtschaftlich arbeitet, die Umwelt schont, Tier- und Naturschutz
beachtet und sich weiterentwickeln kann. Da jede Auflage den Strukturwandel beschleunigt, muss die Agrarpolitik die verschiedenen Ansprüche austarieren.
Mit einer Verdrängung ins Ausland mit deutlich niedrigeren Standards ist niemandem geholfen. Da die
gesellschaftlichen Anforderungen an die Landwirtschaft nicht über den Markt bezahlt werden, ist eine
gemeinsame EU-Agrarpolitik weiterhin erforderlich.
4.  Wir stehen für das Leitbild einer bäuerlichen,
familiengeführten und wettbewerbsfähigen Landwirtschaft mit einer erfolgreichen und nachhaltigen
Entwicklung der ländlichen Räume. Die Landwirtschaft ist Rückgrat der ländlichen Räume. Rund 4,6
Millionen Beschäftigte in der Erzeugungskette versorgen tagtäglich über 80 Millionen Menschen in
Deutschland. Damit trägt sie maßgeblich zum Wohlstand aller bei.
16 Agrarpolitik Deutschland
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
„Regionale Produkte finden Verbraucher hip“
Verbraucherschützerin Renate Künast über Bio und regional erzeugte Lebensmittel und die Weiterentwicklung der Agrarwende
agrarzeitung: Frau Künast, Sie sind heute noch vielen Landwirten als Ex-Ministerin bekannt. Wie kommt das?
Künast: Es liegt vielleicht daran, dass
ich mich ernsthaft um die Zukunft der
Landwirtschaft gekümmert habe, um
die Familienbetriebe, den Ökolandbau
und die Chancen für gentechnikfreies
Wirtschaften. Beispiel: Vor ein paar Jahren kamen Landwirte aus Hessen auf
mich zu und sagten, sie müssten sich
bei mir entschuldigen und bedanken.
Weil ich bei der Gentechnik und dem
Standortregister für gentechnisch veränderte Pflanzen so stur geblieben bin.
Sie hatten früher dem Vorwurf des Deutschen Bauernverbandes DBV geglaubt,
ich vermassle mit meinen Vorschriften
den landwirtschaftlichen Fortschritt.
Heute sehen immer mehr Menschen,
es ist unsere Chance, um gute Böden,
Artenvielfalt und bäuerliche Familienbetriebe zu erhalten. Sonst wird es nur
noch Investoren geben, die Land kaufen und auf große Renditen aus sind.
Wir waren beileibe nicht immer einer
Meinung, aber in meiner Zeit als Bundesministerin war das Haus eine berechenbare Größe.
15 Jahre später demonstrieren Landwirte gegen eine grüne Agrarministerin in Magdeburg ...
Künast: Von uns bekommt Claudia
Dalbert große Unterstützung. Sie wird
besonnen, fachlich gut und transparent
Politik machen. Der Bauernverband ist
mit dieser Aktion zielgerichtet ins Fett
getreten. Die Funktionäre müssen von
ihrer Palme runter. Die Zukunft der
Landwirtschaft führt nur über Kooperation.
seiten. Die Markthalle NEUN in Berlin
steht als Flagschiff für das Neue. Sie ist
an drei Tagen in der Woche wieder zu
einem regionalen Marktplatz geworden.
Hier dürfen nur Erzeuger aus der Region
ihre Waren anbieten. Jeden Donnerstagabend gibt es den Streetfood Thursday
Was ist aus Ihrer Agrarwende geworden?
Künast: Sie ist nach meiner Amtszeit ins
Stocken geraten. Der alte Lobbyismus
sitzt immer noch an entscheidenden
Stellen. Wir haben falsche Strukturen.
Die Discounter und die Molkereien, die
meist in genossenschaftlicher Hand
sind, machen eine falsche Politik. Ich
habe damals schon den Bauern gesagt:
„Ihr müsst euch nicht mit mir streiten,
ich bin auf eurer Seite.” Es kann nicht
sein, dass ein Mixgetränk aus Wasser,
Zusatzstoffen, Zucker und Konzentrat
mehr kostet als ein Liter Milch. Wenn
dann Leute klagen, es ist alles so teuer,
sage ich: „Vergleiche mal, wie viel so ein
300-Gramm-Zuckergetränk kostet, das
enorm beworben wird.” Kein Vergleich
zu einem Liter Milch.
Kommt eine neue Ernährungswelle auf uns zu?
Künast: Ich glaube, dass die
Bewegung noch nie so groß
war wie heute. Als ich Ministerin war und über „Besser
essen, mehr bewegen” und
Genuss gesprochen habe, da
schauten mich manche mileidig an. Süßigkeiten und Fast
Food kommen im Alltag doch
wie eine Tsunamiwelle auf uns
zu. Damals belächelt und heute?
Alle großen Zeitungen und Magazine haben Ernährungs- und Koch-
mit internationalem Slow Food. Jetzt
planen einige einen Souk Berlin. Jede
Bewegung hat mit Flaggschiffen angefangen. Die gibt es überall im Land. Verbraucher werden mit Millionenetats
zum Kauf hochverarbeiteter Lebensmittel umworben. Trotzdem entwickelt sich
Ich habe das
Bio-Siegel
eingeführt.“
Foto: dpa
Die erste grüne Bundesagrarministerin
Renate Künast hat schon vor 15 Jahren
eine kleine Agrarwende gewagt. Zur Bundestagswahl 2017 könnte die Saat mit
einer Regierungsbeteiligung von Bündnis90/Die Grünen im Bund erblühen. Die
Verbraucherschützerin Künast setzt auf
den Dialog mit allen Beteiligten.
parallel dazu ein anderer Zweig, denn
wir wollen wissen, was drin ist. Wer es
angebaut hat. Saisonal, regional und Bio
sind der Trend.
Wohin geht die Reise?
Künast: Klar weg von der Agrarindustrie. Zur Ernährungsbewegung gehören
nicht nur die Grünen, sondern Greenpeace und andere Umwelt-NGOs, mittelständische Unternehmen sowie der
Sachverständigenrat für Umweltfragen
und viele andere. Du kannst dieses Food
Movement in Kombination mit den sozialen Netzwerken nicht mehr aufhalten.
Heute im digitalen Zeitalter wird ein Fehler in der Produktion sofort bei mehr als
100 000 Menschen bekannt, verstecken
geht nicht. Verbraucher haben ein Recht
auf Auskunft und wollen wissen, was in
den Lebensmitteln drin ist.
Wie verhält sich der moderne Verbraucher?
Künast: Die Menschen haben wieder
das Interesse am Ursprünglichen. Viele
genießen die Vielfalt, auch der vegetarischen Küche. Ein Teil der Bewegung
zu sein heißt auch, nach Alternativen
zu schauen. Transportkilometer und
Kohlendioxid einsparen, bedeutet auf
heimische Eiweißpflanzen wie Linsen
und Leinsamen, die den Menschen guttun, zu setzen.
Natürlich macht die Bewegung nicht
immer alles richtig. Aber Sie sehen, dass
die Leute Lust auf saisonal und regional haben. Das ist total hip. In Neukölln
musste die Polizei zur Eröffnung des Restaurants „Restlos Glücklich” anrücken,
weil zu viele Leute auf einmal hineinwollten. Das muss schlimmer gewesen
sein als beim Karneval.
Gemeinsam etwas Neues anzupacken
und zu diskutieren, führt zu einer Veränderung. Wir wissen doch, die Welt wird
sich nicht von industrieller Landwirtschaft ernähren können, weil sie daran
kollabiert.
In Ihrer Amtszeit gründeten Sie das
Bundesinstitut für Risikoforschung,
kurz BfR. Stört Sie dessen Bewertung
zu Glyphosat?
Künast: Auf die Gründung des BfR bin
ich stolz. Es war meine Initiative in der
BSE-Krise im Jahr 2001. Ich wollte Risikoforschung und Management nicht
in einer Behörde haben und habe die
Bereiche getrennt. Dass ich das BfR
gegründet habe, heißt aber nicht, dass
ich mit jeder Entscheidung, die das Amt
trifft, zufrieden bin. Ich persönlich habe
den Eindruck, dass die Bewertung des
BfR zu Glyphosat zu schnell und nicht
sorgfältig genug gemacht wurde. Eigentlich hat sich das Institut an dieser Stelle
selbst ad absurdum geführt.
Die Leitung hat nicht gemerkt, dass es
eine besonders sorgfältige Prüfung ablegen muss. Dabei darf es nicht passieren,
dass die Leute sich wundern, wie konnten die so schnell sein und Gutachten
nicht richtig bewertet oder nicht einbezogen haben. Schon gar nicht, wenn die
Krebsforscher der Weltgesundheitsorganisation Glyphosat als wahrscheinlich
krebserzeugend einstufen. Wir wollen
alle nicht an Krebs sterben.
Das Krebsinstitut der Weltgesundheitsbehörde arbeitet nur mit Wissenschaftlern, die jahrelange Erfahrung haben.
Das gesamte Datenmaterial wird herangezogen. Hier darf keiner Untersuchungen aus dem eigenen Fachbereich
beurteilen. Damit stellen sie Unabhängigkeit her. Wenn das BfR ein solch
hohes Niveau nicht von sich behaupten
kann, dann ahnt man, wo der Fehler
liegt, den sie sich selbst gebaut haben.
Gibt es nach der Bundestagswahl 2017
noch ein eigenständiges Bundeslandwirtschaftsministerium?
Künast: Aktuell übt der amtierende Bundesagrarminister sein Amt sehr verhalten aus. Ein neues Institut für Ernährung
wird ins Auge gefasst. Beratungsstellen
sind immer gut, aber wir haben mit der
AID und DGE schon genug. Wi brauchen
ist Bildung und ein aussagekräftiges Tierwohl-Label. Für die Tierhaltung muss es
eine 0123-Kennzeichnung geben wie auf
dem Frischei. Auch bei verarbeiteten
Produkten muss die Haltungsform etwa
der Hühner einfach erkennbar sein. Das
aktuelle Tierwohl-Label stimmt vorne
und hinten nicht. Es muss ein Label sein,
hinter dem gute Kriterien stecken und es
für die Kunden Sinn macht, einen Euro
mehr für die Ware zu bezahlen.
Meine Sorge ist, dass im Bundesagrarministerium zum großen Teil Kommunikationsportale und Beratungsbehörden gegründet werden. Man hat aber
nicht den Mut oder Willen, auf ein neues, faires Rahmenwerk zu setzen. Dabei
ist klar, dass uns allein die Klimaziele
zwingen werden, unsere Lebensmittel in
Zukunft endlich nachhaltig zu produzieren. Die Exportorientierung wird dabei
zwangsläufig auslaufen müssen. Gut für
die Regionen, die heute zu Futteranbaugebieten degradiert sind, aber auch gut
für unsere Böden und das Wasser.
Ihr Bio-Siegel wird am 15. September
15 Jahre alt.
Künast: Ich habe als Ministerin das
Bio-Siegel eingeführt, es war Teil eines
umfassenden Bundesprogramms für
den Ökolandbau. Hersteller und Lebensmittelhandel waren vorbereitet. Wir
hatten geklärt, wie lange sie brauchen,
bis eine größere Zahl an gekennzeichneten Produkten im Regal stehen wird.
Wir haben das notwendige Infomaterial et cetera zur Verfügung gestellt und
dann zeitlich passend mit Infokampagnen zum Bio-Siegel in Zeitschriften
und Magazinen begonnen. Morgens
lasen die Verbraucher die Anzeigen zum
neuen Bio-Siegel in den Zeitungen und
beim Einkauf erkannten sie es sofort auf
den Produkten. Ein guter Wiedererkennungswert ist das A und O von Infokampagnen.
Mit dem Tierwohllabel hat das aber vorne und hinten nicht funktioniert. Weder
bei den Kriterien noch bei der Kampagne. Bauern mussten nur wieder unzählige Formulare ausfüllen.
Ist die Aufteilung des Verbraucherschutzes zwischen Agrar- und Justizministerium sinnvoll?
Künast: Das macht den Verbraucherschutz definitiv nicht schlagkräftiger.
Die Große Koalition hat sich sowieso vorgenommen, möglichst nichts zu regeln.
Sie behaupten, jede Regelung ist eine
Belastung für die Landwirtschaft oder
Industrie. Aber anders wird doch ein
Schuh draus. Die größte Belastung für
die Produzenten in der EU ist doch der
Druck, der durch TTIP gemacht wird und
durch den Mangel an Transparenz über
Herstellung und Herkunft. Wir können
die Landwirte nicht alleine im Stall stehen lassen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass gute Produkte für die Kunden
erkennbar sind.
Ist die Umstellung auf Öko-Landbau
die Lösung?
Künast: Ich wollte den Anteil von Ökolandbau an der gesamten landwirtschaftlichen Fläche von 20 Prozent bis
zum Jahr 2020 ausbauen. Die folgenden
Regierungen auch auf Landesebene
haben das aber lange nicht unterstützt.
Minister Schmidt redet heute über 20
Prozent, aber das ist von ihm nicht mit
Maßnahmen unterlegt. Auskömmliche
Milchpreise können nicht funktionieren, solange das System im Übermaß
produziert und auf starken Export aus
ist. Die Zielstellung der Molkereien ist
ihr Gewinn, aber selten der der Bauern. Die Bauernfamilien lassen sich viel
gefallen.
Wie wär‘s denn, wenn noch mehr Bauernfamilien sich an der Food-Bewegung
beteiligen? Auf den Betrieben lastet ein
massiver Druck, angefangen bei den
enormen Bodenpreisen und aufgehört
bei zu niedrigen Erzeugerpreisen. Wir
müssen gemeinsam verbessern. Denn
irgendwann ist der Strukturwandel
nicht mehr umkehrbar. Landwirte brauchen neue Kooperationspartner, wie
Studentenwerke und Kantinen. Zum
Beispiel für die Mensa in Oldenburg, wo
die Studierenden bereit waren, mehr
Geld für das Essen zu bezahlen, wenn es
aus ökologischem Anbau und der Region kommt. Direkte Verträge mit Produzenten in der Region sind gut für beide
Seiten. Stadt, Land und Essen gehören
eben zusammen!
Erwarten Sie den großen Wurf zur
Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik 2020?
Künast: Ich hoffe es sehr, das wird aber
von unseren Aktivitäten abhängen. Lassen wir in der EU es uns gefallen, dass
sich kaum was ändert? Zwei Modelle
sind denkbar: Das erste ist eine schärfere
Umverteilung zwischen den existierenden zwei Zöpfen. Die zweite ist der neue
Grundsatz: Öffentliches Geld nur noch
für öffentliche Güter und Interessen.
Wenn Sie 10 Hektar haben und davon
einen Anteil ökologisch bewirtschaften,
bekommen Sie Geld für diesen Teil oder
nur für bestimmte Maßnahmen wie den
Schutz von Wasser, Boden und Artenvielfalt. Voraussetzung für eine finanzielle
Zuwendung wäre es also, einen klar definierten hohen Standard umzusetzen.
Die reine Bewirtschaftung würde keine
Förderung auslösen. Diese Diskussion
muss für die Reform 2020 bereits jetzt
starten. Bis dahin müssen wir Bündnisse eingehen, Mehrheiten suchen und
Rechnungsmodelle erstellen. Denken
Sie an die Einhaltung der Klimaziele, die
wir in Paris beschlossen haben. Hierfür
muss die Landwirtschaft einiges tun.
Da fällt mir meine erste Regierungserklärung zur BSE-Krise ein: Jetzt stehen wir
vor dem Scherbenhaufen einer verfehlten europäischen Agrarpolitik.” Es ist
eine Gesamtstruktur, die gewachsen ist,
niemand trifft ein individueller Vorwurf.
Denn da spielen noch andere mit wie die
großen Saatgut- und Chemiekonzerne,
die uns die Grüne Revolution versprochen haben. Es sollte die ganze Welt
ernährt werden. Umgekehrt wird ein
Schuh draus. Die nächste EU-Agrarreform steht 2020 bevor. Deutschland wird
der Treiber sein müssen.
Das Gespräch führte Daphne Huber-Wagner
Chronologie 2001 bis 2005
2001 Renate Künast (Bündnis 90/
Die Grünen) übernimmt das
neue Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft (BMVEL), vorher
Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
(BMELF). Zuvor war Hans-Peter
Funke als Landwirtschaftsminister in der rot-grünen Koalition
unter Gerhard Schröder wegen der
BSE-Krise zurückgetreten.
2002 Nitrofen-Skandal
2003 Öko-Landbaugesetz
2004 Reduktionsprogramm chemischer
Pflanzenschutz, Dioxinfunde in
Milch und Fleisch, Gentechnikgesetz zu Koexistenz von GVO und
Nicht-GVO
2005 Vogelgrippe; Oktober 2005:
Renate Künast wird Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag
und gibt ihr Amt als Ministerin kurz
vor der Bundestagswahl ab.
Handel & Industrie
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
17
Die Raiffeisen-Genossenschaften sind hierzulande wichtige Marktpartner
von Landwirtschaft, Ernährungsindustrie und Lebensmittelhandel. Ihre Zahl
ist über die vergangenen Jahrzehnte hinweg deutlich rückläufig gewesen.
Auch im privaten Agrarhandel war der Strukturwandel beachtlich. Die
Raiffeisen-Genossenschaften erzielten 2015 einen Umsatz von knapp
61 Milliarden Euro. Umsatzstärkste Sparten sind die Warenwirtschaft,
die Milchwirtschaft sowie die Vieh- und Fleischwirtschaft.
Raiffeisen-Genossenschaften in Deutschland
Entwicklung von Anzahl und Umsatz in Milliarden Euro
68,7*
59,5
66,5*
60,8*
39,0
17,5
3,5
1950
23753
1970
13764
1990
2012
5199
2013
2452
2014
2385
2015
2316
2250
*einschließlich Tochterunternehmen und Beteiligungen
Quelle: DRV
Foto: Landpixel
Privater Landhandel
Anzahl der Betriebe in Deutschland*
Ob und wie der Brexit den Handel mit Agrargütern beeinflusst, ist noch offen.
Erzeugernöte schwappen
auf den Handel über
Auch für die Getreide- und Futtermittelbranche wird es künftig schwieriger. Doch mit neuen Nischen und klugen
Ideen stehen die Chancen für Investitionen gut – bei historisch niedrigen Zinsen.
Sarah Speicher-Utsch
Die Bilanzen der großen Genossenschaften zeigen aber bereits die Richtung an, in die es umsatzmäßig in der
ganzen Branche geht: nach unten. Der
Erfassungshandel hat seine Bestände
zu teuer eingekauft, sodass der Preisverfall im vergangenen Jahr zu erheblichen
Verlusten geführt hat. Auch derzeit sieht
es immer noch nicht rosig aus.
Ressort Handel & Industrie
Z
uerst die gute Nachricht:
In der verarbeitenden
Industrie läuft es derzeit
noch ganz gut – zumindest
wenn man die Situation der
Unternehmen und Genossenschaften mit der der Erzeuger vergleicht. Schweinehalter können zwar
aufgrund der niedrigen Futtermittelund Energiepreise gerade wieder einigermaßen attraktive Deckungsbeiträge
erwirtschaften, und Milchviehbetriebe
darben immer noch. Aber bei den Futtermittelherstellern und Händlern sind
die Finanzsorgen noch nicht in dem
Maße angekommen.
Viele Unternehmen suchen sich also
Nischen, um dort – zum Beispiel in
der Bio-Futtervermarktung – bessere Margen zu erzielen. Andere halten
nach größeren Partnern Ausschau, um
den Marktwidrigkeiten schlagkräftiger
begegnen zu können. Andere wiederum bleiben allein und wollen sich aus
eigener Kraft mit neuen Produkten, der
Expansion ins Ausland und besserer
Technik behaupten.
Günstiger Zeitpunkt
Der Zeitpunkt für Investitionen ist derzeit immerhin so günstig wie noch nie:
Die Zinsen liegen auf einem historisch
niedrigen Niveau. Wer es sich also zurzeit
betriebswirtschaftlich leisten kann und
gute Businesspläne hat, kann die Gunst
2015
1950
der Stunde nutzen und günstig Kredite
aufnehmen.
Doch die gesamte Agrarhandels- und
Futtermittelbranche steht vor einem
schwierigen Dilemma. Vor allem Mäster
und Landwirte aus dem Schweinesektor
wollen wegen der deutlich reduzierten
Auszahlungspreise die 2015 in einem
größeren Umfang vereinbarten Jahresabnahmekontrakte nachverhandeln.
Auch die Mischer stehen vor der Frage,
ob sie den Forderungen der Landwirte
nachgeben und damit wertmäßige Einbußen hinnehmen. Oder bleiben sie hart
und nehmen in Kauf, dass die Absätze
zurückgehen? Falls die Mischer aufgrund
der angespannten Finanzlage ihrer Kunden auf Kontrakten sitzenbleiben, dürfte
das auch künftig der Handel spüren.
Sorgen macht der ganzen Branche derzeit auch der Brexit – wenngleich eher
auf lange Sicht. Gerade erst hat sich das
britische Volk knapp für einen Austritt
aus der EU ausgesprochen. Die deutsche Land- und Ernährungswirtschaft
exportiert jährlich Güter im Wert von
rund 4,2 Milliarden Euro in das Vereinigte Königreich. Im Gegenzug betragen
die britischen Ausfuhren 1,4 Milliarden
Euro, sodass die deutsche Außenhandelsbilanz mit knapp 3 Milliarden Euro
im Plus liegt.
Exportrekord in die EU
Betrachtet man die Ausfuhren in die
gesamte EU, steht Deutschland beim
Getreide immer noch auf Platz 2 nach
Frankreich und vor Polen. Der gesamte Agraraußenhandel entwickelte sich
2015 in beide Richtungen positiv. Die
Ausfuhren mit Agrar- und Ernährungsgütern stiegen um 3,1 Prozent auf 65,4 Milliarden Euro, während die Einfuhren
um 6,1 Prozent auf 74,5 Milliarden
Euro zunahmen. Unter Berücksichtigung
von Nachmeldungen wird für 2015 mit
einem Jahresergebnis bei den Ausfuhren in die EU von etwa 68,5 Milliarden
Euro gerechnet. Damit dürfte der deutsche Agrarexport nach Berechnungen
des Bundesagrarministeriums (BMEL)
eine neue Höchstmarke erreichen. Der
Saldo des Agrarhandels ist aber nach wie
vor negativ, es wird also mehr importiert
als exportiert. Das Defizit hat sich 2015 im
Vergleich zum Vorjahr auf minus 9,1 Milliarden Euro erhöht.
550
10900
*BVA-Schätzung
Mühlenstruktur in Deutschland
Anzahl der Betriebe in Tausend
15
Westdeutschland
Vermahlungsanteile
•Weizen •Roggen
10
15
10
Westdeutschland
1990/91
Ostdeutschland
1990/91
Deutschland
2014/15
5
5
Ostdeutschland
Deutschland
0
1950/51
1960/61
1970/71
1980/81
1990/91
2000/01
2010/11
0
2014/15*
*Vermahlung ab 2012/13 mehr als 1 000 t pro Jahr; diese Grenze ist in den Jahrzehnten ständig angepasst worden.
2014/15 gab es noch 214 meldepflichtige Mühlen.
Quelle: BLE
Historische Zinsentwicklung
Kurzfristige Zinsen in Prozent
20
Auch wenn die Agrarbranche derzeit darbt:
Über zu teure Kredite kann sie sich nicht beschweren.
Die Zinsen sind so niedrig wie in den vergangenen
5 000 Jahren nicht, hat Andrew Haldane, Chefökonom
der Bank von England, berechnet.
18
16
14
12
10
8
6
4
2
0
3000 v. Chr.
1734
1788
1842
1896
1950
2004
Quelle: Homer und Sylla (2005), Weiller&Mirowski (1990), Bank of England
18 Handel & Industrie
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
„Die Neuausrichtung
der Milchwirtschaft ist für
mich eine der ganz großen
Herausforderungen der
nächsten Jahre. “
Porträt: Manfred Nüssel
Netzwerker für die
Genossenschaften
Foto: DRV
Als langjähriger DRV-Präsident hat er die Agrarbranche entscheidend
mitgeprägt. Sein Ziel: Wettbewerbsfähige Genossenschaften und eine
zukunftsfähige, unternehmerische Agrarwirtschaft.
Z
ufälle kann man nicht planen, sagt Manfred Nüssel, und
davon gab es in seiner Laufbahn einige, wie zum Beispiel
sein Mandat im Bayerischen
Senat. Schon immer hat er sich für gesellschaftspolitische Themen interessiert
und eingesetzt. Sei es als Vorsitzender der Bayerischen Jungbauernschaft
gemeinsam mit Gerd Sonnleitner, dem
langjährigen Präsidenten des Deutschen
Bauernverbandes, oder als Vizepräsident des Genossenschaftsverbandes
Bayern – die Liste seiner Engagements
ist lang. Darunter sind ebenfalls einige
Aufsichtsratsposten zu finden, was mitunter auch Kritiker auf den Plan gerufen
hat: Man könne genossenschaftliche
Interessen und die von Unternehmen
nicht unter einen Hut bringen.
Für Manfred Nüssel, der ursprünglich
eigentlich „nur” Landwirt werden wollte, ist vieles miteinander vereinbar. Ihn
hat vor allem die Frage angetrieben: Wie
kann ich Einfluss nehmen, um Mehrwert
für eine zukunftsfähige, unternehmerische Agrarwirtschaft zu schaffen? Netzwerke aufzubauen, ist nach Ansicht von
Nüssel dafür unabdingbar. Eine wichtige
Voraussetzung: finanziell unabhängig zu
sein. Dies hat ihm der elterliche Betrieb
im Rücken ermöglicht, den Nüssel nach
wie vor betreibt. Einen richtigen Arbeitsvertrag hat er nie unterschrieben, erklärt
er, nicht ganz ohne Stolz. Politisch
geprägt habe ihn Franz-Josef Strauß, der
vor allem die unternehmerische Jugend
stark gefördert hat.
Seit 1999 setzt er sich als Präsident des
Deutschen Raiffeisenverbandes (DRV)
für die Interessen der Genossenschaften ein, sowohl auf nationalem, europäischem als auch internationalem Parkett.
Die Neuorganisation der Genossenschaften wie zum Beispiel die Bündelung der
Vieh- und Fleischvermarktung stand zu
seinem Amtsantritt an. Dabei verstand
Nüssel die Genossenschaften stets als
Bindeglied zwischen der Landwirtschaft
und den Märkten. Angesichts einer
zunehmenden Liberalisierung und Globalisierung der Agrarmärkte, der Agenda 2000 und der Ost-Erweiterung der EU
mussten Weichen für die Wettbewerbsfähigkeit der Genossenschaften gestellt
und Strukturen angepasst werden. Auch
Krisen waren zu bewältigen wie BSE,
Dioxin, EHEC & Co. So hat der DRV als
Folge der BSE-Krise die QS Qualität und
Sicherheit GmbH mitbegründet. „Das
QS-Siegel ist heute das Markenzeichen
für Qualitätssicherung”, sagt Nüssel.
räsident des Deutschen Raiffeisenverbandes zu werden,
war für mich der Traumjob
schlechthin”, resümiert Nüssel. Interessante Menschen auf
seinen vielen Reisen kennenzulernen
und zu Lösungsansätzen herausgefordert zu sein, hat ihn in seiner Laufbahn
stets begeistert. Besonders beeindruckt
habe ihn die Begegnung mit dem früheren EU-Agrarkommissar Franz Fischler,
der zahlreiche Brücken zwischen verschiedenen Interessen gebaut und viel
bewegt habe. Heute erzielen die Genossenschaften in der Warenwirtschaft
einen Jahresumsatz von 36,1 Milliarden
Euro, mehr als die Hälfte des Gesamtumsatzes von über 61 milliarden Euro,
die Milchwirtschaft einen Umsatz von
12,4 Milliarden Euro und die Vieh- und
Fleischwirtschaft 6,2 Milliarden Euro.
müssen eine Bündelung der Kräfte zügig
umsetzen”, so Nüssel. Zusammenschlüsse von Molkereien seien ein wichtiger
Baustein. Bereits 2005 gab es in einem
vom DRV in Auftrag gegebenen Gutachten den Vorschlag, zwei „Leuchttürme”
entstehen zu lassen, was damals jedoch
nicht umgesetzt wurde. Eine Mengenreduzierung kann seiner Ansicht nach nur
auf europäischer Ebene gelingen. Darüber hinaus müsse mehr Wertschöpfungstiefe in der Verarbeitung geschaffen und
neue Produkte entwickelt werden wie
beispielsweise Coatings aus Milchpulver
für die Pharmaindustrie. Für die Erschließung neuer Drittlandmärkte wünscht
sich Nüssel eine schnellere Vergabe von
Exportzertifikaten und Warenterminmärkte zur Preisabsicherung sollten in
der Milchwirtschaft genauso intensiv
genutzt werden wie in der Getreide- und
Rapsvermarktung. Auch die Digitalisierung fordere den Agrarhandel zunehmend heraus, denn die Landwirte werden immer anspruchsvoller und wollen
noch mehr Service.
Die Neuausrichtung der Milchwirtschaft
ist für ihn eine der ganz großen Herausforderungen der nächsten Jahre. „Wir
Die Initiative Tierwohl, die 2015 die
Arbeit aufgenommen hat, ist für Nüssel
ein guter Weg als Antwort auf Verbrau-
P
cherwünsche. Denn das Image der Landwirtschaft liegt ihm am Herzen. „Darum
muss sich die Landwirtschaft aber selber
kümmern. Denn die Verunsicherung der
Verbraucher ist das Teuerste, was wir
uns leisten”, betont Nüssel. Die Landwirte müssen darüber nachdenken und
mehr Rücksicht auch auf die Wünsche
der Verbraucher nehmen. Von der Agrarpolitik werden – so Nüssel – künftig noch
mehr Regeln und Anforderungen im Hinblick auf Umwelt, Wasser und Düngung
ausgehen. Vor allem aber wünscht er
sich eine positive Einstellung der Gesellschaft zur Landwirtschaft und ein Mehr
an Europa.
I
nzwischen geht er so manches gelassener an. Mitte 2017 gibt er sein Amt
als DRV-Präsident auf. Auch für die
Zeit danach hat er schon Pläne. Er will
sich mehr seiner Familie und seinen
Hobbys widmen sowie sich verstärkt
ehrenamtlich vor Ort engagieren. Eine
feste Funktion will er aber nicht mehr
ausüben. Auch das Reisen ist für ihn nicht
mehr so wichtig. „Ich habe die ganze Welt
gesehen. Das brauche ich nicht mehr.
Aber einmal die Hurtigrute fahren, das
wäre schön”, sagt Nüssel.
AW
Zur Person
Manfred Nüssel, Jahrgang 1948,
hat nach seinem Studium für Landbau an der Fachhochschule Weihenstephan 1970 den elterlichen Betrieb
übernommen und die Neuorganisation mit Schwerpunkt Schweinemast
und Ackerbau vorangetrieben. Ein
Jahr zuvor begann seine politische
und genossenschaftliche Laufbahn als
Bezirksvorsitzender der Bayerischen
Jungbauernschaft e.V. Danach folgten
weitere Funktionen wie beispielsweise
im Genossenschaftsverband Bayern, bei
Raiffeisenbanken und im Bayerischen
Senat als Repräsentant der Genossenschafts-Organisation. 1999 wurde
Nüssel zum Präsidenten des Deutschen
Raiffeisenverbandes (DRV) gewählt.
Darüber hinaus ist der Dipl.-Agraringenieur Mitglied in verschiedenen
Aufsichtsräten, unter anderem bei der
Baywa AG und der Agco/Fendt GmbH.
Ferner engagierte sich Nüssel in der
Internationalen Raiffeisen-Union sowie
als Vizepräsident im Verband der landwirtschaftlichen Genossenschaften der
Europäischen Union (Cogeca).
AW
„Wir wollen aus eigener Kraft wachsen“
Mit immer neuen Geschäftsideen hat es die ZG Raiffeisen Karlsruhe geschafft, sich als Spieler am Markt zu etablieren. Mittlerweile gehört auch eine Bioschiene dazu.
agrarzeitung: Die ZG Raiffeisen hat sich
über die Jahre erfolgreich gegen Über­
nahmen und Fusionen gewehrt. Wie
ist Ihnen das bei Ihrer Unternehmens­
größe gelungen?
Glaser: Unser Grundgedanke war immer,
uns zu einer echten Primärgenossenschaft zu entwickeln und das Direktgeschäft mit unseren Mitgliedern zu verstärken. Das ist uns gelungen.
Und wie sieht es in der Zukunft aus?
Glaser: Unser Ziel ist, dass die Landwirte
aufgrund der Zusammenarbeit mit uns
einen Mehrwert erzielen. Gleichzeitig
wollen wir die wirtschaftliche Beziehung
zu unseren Mitgliedern stärken. Wir sind
immer auf der Suche nach Märkten, die
wir bedienen können. Das ist uns auch
für den Agrarbereich in unserem Einzugsbereich gelungen. Nebenbei haben
wir ein Netzwerk von Kooperationen mit
genossenschaftlichen Nachbarn und privaten Unternehmen auf- und ausgebaut.
Davon profitieren alle Seiten.
Zur Person
Dr. Ewald Glaser (58) ist seit 1984 für
die ZG Raiffeisen tätig. Seit 1997 ist der
Hohenheimer Agrarwissenschaftler mit
Schwerpunkt in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Vorstandsvorsitzender
der badischen Genossenschaft. In diesem Jahr wurde er in das Präsidium des
Deutschen Raiffeisenverbands (DRV)
dg
gewählt.
mit der CAC (Coopérative Agricole des
Céréales) in Colmar auf dem Gebiet der
Raiffeisenmärkte. Dank der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit konnten
wir auf eigene Investitionen verzichten
und auf leistungsfähige Anlagen der
CAC zurückgreifen. Hilfreich war allerdings die Einführung des Binnenmarktes vor mehr als 20 Jahren. Später folgten
dann auch Beteiligungen an Baustoffhandelsunternehmen.
Wieso gibt es in Ihrem Einzugsgebiet
regionale Absatzmärkte?
Glaser: Die Ansammlung von Industrie entlang des Rheingrabens und in
den anliegenden Gebieten beschert uns
eine gute Kaufkraft der Verbraucher. Die
bedienen wir unter anderem mit landwirtschaftlichen Produkten.
Sie haben auch den Absatz von land­
wirtschaftlichen Produkten ohne Gen­
technik erfolgreich forciert. War das ein
Selbstläufer?
Glaser: Keineswegs. Wir hatten mit
Widerständen zu kämpfen, als wir vor
etwa 15 Jahren damit begannen. Vor
allem die Umstellung in unserem Raiffeisen Kraftfutterwerk in Kehl hat in den
ersten Jahren Geld gekostet. Letztendlich
haben wir aber eine politische Grundstimmung in unserem Land aufgegriffen,
die sich bekanntlich auch in Wahlergebnissen niedergeschlagen hat. Allerdings
muss man auch die Relationen sehen.
Wir stellen etwa 120 000 Tonnen Futtermittel ohne Gentechnik her. Das ist im
Vergleich zu der gesamten Produktion
in Deutschland nur ein Bruchteil. Aber
sie finden hier ihren Absatz.
Besteht für Ihre Bioschiene im Futter­
mittelbereich genug Nachfrage?
Glaser: Ja, sonst hätten wir uns nicht
dafür entschieden. Wir sind – wie gesagt
– immer auf der Suche nach neuen Märkten und einem Alleinstellungsmerkmal,
das wir besetzen können. So haben wir
uns auch hier engagiert und produzieren in Kehl Futtermittel mit Biosiegel
und ohne Gentechnik. Damit schließt
sich der Kreis. Die Landwirte kaufen ihre
Betriebsmittel bei uns und die Erzeugnisse aus dieser landwirtschaftlichen Produktion wie beispielsweise Eier, Milch
oder Nudeln und Getreideprodukte verkaufen wir in unseren Raiffeisenmärk-
Foto: ZG Raiffeisen Karlsruhe
Die ZG Raiffeisen Karlsruhe zählt zu den
kleineren Hauptgenossenschaften in
Deutschland. Dr. Ewald Glaser erklärt
gegenüber der agrarzeitung (az), wie sie
in der heutigen Zeit ihre Eigenständigkeit bewahren will.
Wir sind immer auf der Suche
nach neuen Märkten
und einem Alleinstellungsmerkmal.“
ten. Die agrarisch strukturschwache
Region im Schwarzwald kann von dieser
Entwicklung profitieren.
Auf der einen Seite regional, Bio und
ohne Gentechnik. Auf der anderen Seite
ist Ihr Unternehmen Vorreiter in tech­
nischen Fragen. Passt das zusammen?
Glaser: Das ist absolut kein Widerspruch.
Wir bieten die Multikopter- oder Drohnentechnik zur biologischen Schädlingsbekämpfung im Mais an. Sechs eigene
Drohnen sowie weitere gemietete Geräte
stellen wir für diese Dienstleistung zur
Verfügung. Zudem sind wir Marktführer
für den Vertrieb von Melkrobotern in
Baden-Württemberg.
Sie haben schon immer mit Ihren
französischen Nachbarn kooperiert.
War allein die geografische Nähe der
Grund?
Glaser: Die Zusammenarbeit mit elsässischen Kollegen war ganz klar eine
strategische Entscheidung. Begonnen
hat sie aufgrund der Zusammenarbeit
Sie arbeiten mit mehreren deutschen
Hauptgenossenschaften zusammen.
Wird das bei den sich verändernden
Strukturen Bestand haben?
Glaser: Ja – wenn die Zusammenarbeit
sinnvoll ist, wird sie fortgeführt. Dazu
gehören im Moment der IT-Bereich, die
Mischfutterproduktion sowie der Einkauf und das Marketing bei den Raiffeisenmärkten.
Wie sieht Ihrer Meinung nach das Genos­
senschaftswesen in zehn Jahren aus?
Glaser: Es wird immer Unternehmen
geben, die stark für den Weltmarkt produzieren und internationale Geschäftsmodelle verfolgen. Andere Häuser finden ihre Absatzgebiete im regionalen
Umfeld. Einige bedienen beide Richtungen. Dabei wird der Begriff Region
durchaus unterschiedlich interpretiert.
Jedes Unternehmen muss seine Ausrichtung finden.
Werden Genossenschaften verschwin­
den?
Glaser: Die Zahl der Genossenschaften wird zukünftig kleiner werden.
Geschäftsmodelle müssen den Entwicklungen der Märkte angepasst werden,
denn wir leben nicht in einer statischen,
sondern sehr dynamischen Zeit.
Wie richten Sie Ihr Unternehmen für die
Zukunft aus?
Glaser: Wir haben eine klare Vision: Für
die Zukunft verfolgen wir für alle unsere Geschäftsbereiche das Ziel, dass uns
jeder kennt, jeder zu uns kommt und
jeder bei uns kauft. Wir wollen die erste
Adresse für unsere Mitglieder in unserem
Einzugsgebiet sein.
Was müssen Sie dafür noch tun?
Glaser: Dazu müssen wir noch mehr an
unserer Effizienz arbeiten und unsere
Leistungsfähigkeit steigern. Hier gibt es
noch große Reserven. Dabei setzen wir
ganz klar auf Qualität. Wir wollen aus
eigener Kraft wachsen, langfristig denken und weiter eigenständig bleiben.
Sie wurden kürzlich ins Präsidium
des Deutschen Raiffeisenverbandes
(DRV) gewählt? Können Sie sich hier
ein stärkeres Engagement Ihrerseits
vorstellen?
Glaser: Der DRV ist der wichtigste Verband der Agrarwirtschaft in Deutschland. Sein Wort gilt etwas, nicht nur in
der Landwirtschaft, sondern auch in der
Politik und der Gesellschaft. Ich werde
mich selbstverständlich aktiv im Rahmen meiner zeitlichen Möglichkeiten
einbringen, weil ich sehe, dass der DRV
vor großen Herausforderungen steht und
sich auch die Ansprüche der Genossenschaften stark verändern.
Das Gespräch führte Dagmar Hofnagel
ZG Raiffeisen
Die ZG Raiffeisen erzielte 2015 einen
Umsatz von 1,1 Milliarden Euro. Das
Agrargeschäft bestreitet knapp 50 Prozent des Umsatzes. Ende 2016 strebt
die Genossenschaft die Marke von
4 000 Mitgliedern an, 2020 sollen es
5 000 sein. Begonnen haben sie vor
dg
20 Jahren mit 500.
Handel & Industrie 19
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Agravis hat noch viel vor
Längst ist der Konzern dem ausschließlich nationalen Dunstkreis entwachsen. Doch die Nummer 1 im klassischen Agrargeschäft in Deutschland gibt weiter Gas.
S
eit der Fusion der Genossenschaftszentralen Münster und
Hannover zur Agravis Raiffeisen AG im Jahr 2004 (Grafik,
Chronik der Agravis) bewegt
sich der Konzern auf strammem Wachstumskurs und hat den Umsatz seitdem
auf 7 Milliarden Euro verdoppelt. Nur
zu Beginn standen die Zeichen auf
Sanierung. Schlankere und kürzere
Arbeitsprozesse, Kosteneinsparungen
und erhebliche Synergie-Effekte ermöglichten sehr bald Investitionen deutlich oberhalb der Abschreibungen. Im
klassischen Portfolio überstiegen sie
allein in den vergangenen fünf Jahren
die Abschreibungen um mehr als 100
Millionen Euro.
Im laufenden Jahr werden rund 60 Millionen Euro in die Modernisierung der Futterwerke, Getreidebewirtschaftungen,
Technik-Standorte und in schlagkräftigere Strukturen fließen. Parallel dazu verdreifachte sich die Eigenkapitalbasis seit
der Gründung auf 515 Millionen Euro.
Eine Eigenkapitalquote von 27 Prozent
ist für ein Handelshaus schon jetzt ein
außergewöhnlich hoher Wert, doch erst
bei einer Quote von 30 Prozent soll bei
Agravis Schluss sein.
Wie alle Unternehmen der Branche hat
auch der Agravis-Konzern mit unbefriedigenden Margen beim Agrargeschäft zu
kämpfen. „Eine Netto-Marge von gerade
einmal 0,6 oder 0,7 Prozent ist auf Dauer
Verwurzelt in 100-jähriger Tradition
„Auf Abenteuer, riskante Investitionen
und völlig branchenfremde Aktivitäten
lassen wir uns aber keinesfalls ein. Wir
wissen, wo wir herkommen, wissen, was
wir können und was wir wollen. Wir gehen
mit dem klassischen Portfolio, inklusive Energie und Raiffeisen-Märkten, den
vielleicht etwas konservativen Weg – aber
einen erfolgreichen, auf dem wir auch die
Mitarbeiter und Aktionäre mitnehmen”,
so der langjährige Agravis-Chef, der den
Vorsitz Anfang 2017 altersbedingt an
Andreas Rickmers abgeben wird.
Ceravis als Big Bang
Foto: Agravis
Die Wurzeln der Agravis reichen auf
mehr als 100 Jahre und zu den Anfängen genossenschaftlicher Aktivitäten
in Deutschland zurück. Damals waren
Rettung und Erhaltung der bäuerlichen
Existenzen sowie die Förderung optimaler Bezugs- und Absatzmöglichkeiten
die primären Ziele. Mit diesen Vorgaben
wurden im Jahr 1890 die Zegeno Osnabrück eG und die LZG Oldenburg sowie
1899 die Westfälische Central-Genossenschaft (WCG) eG in Münster gegründet.
Ein knappes Jahrhundert später ging aus
diesen drei Unternehmen 1990 die Raiffeisen Central-Genossenschaft Nordwest
eG (RCG) mit Sitz in Münster hervor. Der
zweite Stamm der Agravis wurzelt in der
Raiffeisen Hauptgenossenschaft eGmbH,
Hannover (RHG) im Jahr 1899. Sie wurde
1993 in die RHG Nord AG umgewandelt.
Das Arbeitsgebiet der Agravis deckt
zu wenig, um die zunehmenden Risiken abzufedern. Wir sind aber optimistisch, mittelfristig eine Umsatzrendite
von einem Prozent mit unserem bestehenden Portfolio zu erwirtschaften”,
unterstreicht Dr. Clemens Große Frie,
Vorstandsvorsitzender des Konzerns.
Höhere Margen lassen sich nach seiner
Einschätzung vor allem durch Investitionen in die Schlagkraft und die Standortqualität, aber auch durch Fusionen und
Übernahmen in renditestärkere Segmente erreichen.
seit 2004 fast den gesamten norddeutschen sowie Teile des westdeutschen
Raums ab und reicht unter anderem über
Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen
bis nach Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und
az
Schleswig-Holstein.
Große Frie ist stolz darauf, dass die 6 300
Mitarbeiter die Entwicklung aktiv mittragen. Ein großer Teil der Belegschaft
hält zudem Aktien am Konzern und fühle sich eher als Mitunternehmer denn
als Arbeitnehmer. Eine äußerst niedrige
Personalfluktuation von rund 5 Prozent
unterstreiche die Identifikation mit dem
Unternehmen. Schließlich sei die Agravis
nicht umsonst mehrfach als einer der
besten Arbeitgeber Deutschlands ausgezeichnet worden. Auch die Aktionäre in
Ost und West tragen die Unternehmenspolitik mit.
Ein Meilenstein in der Geschichte des
Genossenschaftskonzerns war die Übernahme der Agrarhandelsaktivitäten der
Getreide AG zusammen mit den dänischen Partnern und die Gründung der
Ceravis AG Mitte 2015. Dadurch verschob
sich der Aktionsradius in Deutschland
weiter nach Norden und Osten, denn die
Ceravis agiert auf rund 65 Standorten in
Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen.
Schon für das erste volle Geschäftsjahr
2016 rechnet man mit einem Umsatz
des akquirierten Unternehmens von
1,3 Milliarden Euro und vielleicht sogar
mit einem ausgeglichenen operativen
Ergebnis. An der Ceravis AG hält die
Agravis zwar nur eine Beteiligung von
25 Prozent, doch die Akquisition steht
auch als Paradebeispiel für qualitatives
Wachstum, das Minderheitsbeteiligungen einschließt. „Wir versuchen, auch
durch unternehmerische Allianzen neue
Potenziale zu erschließen. Wir müssen
nicht in allen Bereichen zu 100 Prozent
das Sagen haben und begnügen uns von
Fall zu Fall auch mit Minderheitsanteilen. Denn 25 Prozent von x sind besser
als 100 Prozent von nix”, beschreibt der
Agravis-Chef die Strategie.
Vielzahl an Beteiligungen
Getreu der Devise „Wer stehenbleibt,
wird überholt” will der Konzern auch
künftig wachsen. Für die nächsten Jahre hat er sich als Zielvorgabe ‚8/80’,
einen Umsatz von 8 Milliarden Euro bei
einem Ergebnis von 80 Millionen Euro
vor Steuern auf die Fahnen geschrieben.
Das schwierigere Wachstum auf den
klassischen Märkten wurde in den vergangenen Jahren durch umfangreiche
M&A-Aktivitäten (Mergers and Acquisitions) und einem akquirierten Umsatzzuwachs von 1,7 Milliarden Euro ergänzt.
Jüngstes Beispiel ist die Übernahme
der Menke Agrar GmbH in Soest – ein
internationaler Großhändler für Agrartechnik-Ersatzteile. Vorbehaltlich der
Zustimmung des Kartellamts will die
Agravis auch ihre Anteile an der Technik
Center Alpen GmbH von 45 auf 76 Prozent
aufstocken.
„25 Prozent von x
sind besser als
100 Prozent von nix“
Dr. Clemens Große Frie
Im Getreidebereich beschreitet die Agravis, die im Vorjahr 8,4 Millionen Tonnen
Getreide und Ölsaaten handelte, ebenfalls neue Wege. Künftig wird das Portfolio um ein Nischengeschäft mit 750 000
Tonnen Braugerste und einer Umsatzerwartung von etwa 150 Millionen Euro
erweitert. Im internationalen Getreidegeschäft machte die Agravis vor kurzem
mit der 33-prozentigen Beteiligung an
der H. Bögel GmbH & Co. KG, Hamburg,
mit einem Umsatz von rund 200 Millionen Euro von sich reden. Zusammen
mit dem weiteren Anteilseigner, der Wilmar International Ltd, Singapur, einem
führenden Agrarkonzern Asiens, verschaffte sich die Agravis damit Zugang
zu Futtermittelkomponenten wie Palm,
Palmöl und Palmexpeller vor Ort. Für
2016 ist noch mehr zu erwarten, denn die
erklärte strategische Allianz mit der RWZ
Rhein-Main eG in Köln macht neugierig.
Aber die Agravis kann auch abgeben: Der
Konzern, der als einer der Big Player im
europäischen Mischfuttergeschäft mit
über 30 eigenen Tochtergesellschaften
sowie Beteiligungsgesellschaften jährlich mehr als 4 Millionen Tonnen Futter
herstellt, beteiligt seit kurzem örtliche
Genossenschaften ohne eigene Mischfutterproduktion an zwei Werken. Damit
reagieren die Verantwortlichen auf die
knappen Margen in diesem Segment, vor
allem aber auf die Tatsache, dass eigene
Aktionäre in den vergangenen Jahren
ihre Mischfutterproduktion aufgestockt
und den Wettbewerb verschärft haben.
So übertrug der Konzern 50 Prozent der
Anteile an der Agravis Kraftfutterwerke
Münsterland GmbH, die in Münster und
Dorsten mehr als 700 000 Tonnen Mischfutter jährlich herstellen, an 13 regionale
Genossenschaften.
Erklärtes Ziel der Agravis ist es, die
„Agrarhändler-Tabelle” mit vergleichbarem Portfolio anzuführen. Bezogen
auf das klassische Agrargeschäft ist das
Unternehmen schon jetzt die Nummer
eins in Deutschland. Mit der Vielzahl von
Tochter- und Beteiligungsgesellschaften
in mehr als 20 Ländern und Exportaktivitäten in mehr als 100 Ländern ist das
Unternehmen längst in internationale
Dimensionen hineingewachsen.
Partner in Dänemark
Der internationale Auftritt erfolgt im
Wesentlichen über fünf Joint Ventures mit
den dänischen Partnern Danish Agro und
Vestjyllands Andel. Eine Beteiligung mit
großem Ertragspotenzial und hohen Renditen ist die dänische Vilomix Holding, an
der die Agravis 25 Prozent hält.
St
20 Handel & Industrie
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
„Hinfahren
und kämpfen!“
Nur mit viel persönlichem Engagement kann die kleine Ölmühle Kleeschulte mit den
großen Produzenten mithalten und schafft es so in die Regale der Discounter.
agrarzeitung: Die großen Agrarkonzerne
haben den Ölsaatenmarkt weitgehend
unter sich aufgeteilt. Bleibt noch genügend übrig für die kleinen dezentralen
Ölmühlen?
Zur Person
Bernd Kleeschulte, 46, leitet die
Geschicke des Familienunternehmens
Kleeschulte GmbH & Co. KG, Büren
als Geschäftsführender Gesellschafter.
Neben dem Ölsaatengroßhandel sowie
dem Umschlag und Vertrieb von Holzpellets verarbeitet das Unternehmen
in zwei getrennten Anlagen jeweils
10 000 Tonnen konventionellen Raps
und Raps beziehungsweise Sonnenblumen aus kontrolliert biologischem
Anbau. Von den gut ausgelasteten
Anlagen werden jährlich etwa fünf Millionen Speiseölflaschen abgefüllt. Das
Rapskernöl wird jährlich DLG prämiert
und ist mit der Rapsöl-Medaille der DGF
(Deutsche Gesellschaft für FettwissenSt
schaft e.V.) ausgezeichnet.
Bernd Kleeschulte: Das Produktportfolio
der großen Ölmühlen ist für die dezentralen Ölmühlen kein Maßstab. Wenn wir
als kleine Ölmühlen das gleiche wie die
Großen machen wollten, würde das nicht
funktionieren. Auch mit Biodieselkomponenten lässt sich nur etwas verdienen,
wenn entsprechend große Produktionsanlagen und logistische Anbindungen
vorhanden sind. Die Anlagen der kleinen
Ölmühlen sind hierfür nicht ausgelegt.
Für Nischenprodukte und kaltgepresstes
Öl gibt es dagegen einen eigenen Markt.
Dieser wird zurzeit von etwa zehn namhaften kleineren Ölmühlen bedient, die
damit ihre Anlagen gut auslasten können.
Ist es schwierig, neue Marktsegmente
zu erschließen?
Kleeschulte: Dies ist sicherlich schwierig, denn es sind umfangreiche Zertifizierungen für den Vertrieb von Speiseöl notwendig. Wir sind nach dem sehr
anspruchsvollen Verfahren International
Food Standard (IFS) zertifiziert und haben
unsere beiden Anlagen schon beim Bau
im Jahr 2005 auf lebensmittelrechtliche
Standards ausgerichtet. Gleichzeitig müssen wir günstig produzieren, denn sonst
haben wir keine Chance, im Regal des
LEH zu landen. Da unsere Anlagen nicht
auf der grünen Wiese entstanden sind,
sondern in die vorhandenen Gebäude
integriert werden konnten, ist unsere Anlagebelastung niedrig. Außerdem
befindet sich vom Wareneinkauf über
das Risk-Management, Lagerung und
Analytik, Pressung und Abfüllung, Verpackung und Logistik alles in einer Hand.
Zu viele Glieder in dieser Kette sind nach
meiner Meinung kaum Erfolg versprechend. Unser klares Ziel heißt Preisführerschaft.
Wie schafft eine kleine Ölmühle den
Sprung in die Regale des übermächtigen LEH?
Kleeschulte: Hinfahren und kämpfen!
Unsere Öl-Eigenmarke Moritz wird
inzwischen bundesweit abgesetzt
und außerdem von einem führenden
Discounter unter seiner Eigenmarke
deutschlandweit vertrieben. Das ging
aber nicht über den Preis alleine, sondern nur mit viel persönlichem Engagement. In dem Preissegment kaltgepresstes Öl haben wir eine so schlanke
Kostenstruktur, dass wir wettbewerbsfähig sind. Das müssen wir auch, denn
beim Discounter kostet der halbe Liter
kaltgepresstes Rapsöl 1,59 Euro.
Wächst der Markt für kaltgepresste Öle
oder bleibt er ein Nischensegment?
Kleeschulte: Generell wächst der Markt
für alle Rapsöle. Auch unser spezieller
Marktbereich und unsere eigene Marke ist jedes Jahr gewachsen und hat die
höchsten Wachstumsraten von allen
deutschen Ölmühlen, die in diesem
Foto: Kleeschulte
Die Firma Kleeschulte GmbH & Co. KG
im westfälischen Büren produziert seit
mehr als zehn Jahren kaltgepresste Speiseöle. Die agrarzeitung (az) sprach mit
Bernd Kleeschulte, Geschäftsführer des
Unternehmens, über Erfolgsrezepte und
Marktchancen.
Unser klares Ziel
heißt Preisführerschaft.“
Segment arbeiten. Durch die niedrigen
Margen für technische Öle gibt es inzwischen aber einige Verarbeiter aus diesem
Bereich, die nun versuchen, in der Speiseölproduktion Fuß zu fassen. Wettbewerbsfähig wird aber nur der sein, der
alle Schritte im gesamten Prozess nach
Möglichkeit in einer Hand hält.
Der Ölabsatz ist eine Sache, wie gestaltet
sich die Vermarktung von Rapsexpeller?
Kleeschulte: Mittlerweile gibt es eine große Marktakzeptanz für Rapskuchen und
keinerlei Absatzprobleme, auch wenn
die Preise hierfür im Schnitt 20 bis 25
Euro über Rapsextraktionsschrot liegen.
Bei einem Fettanteil von 10 Prozent im
Rapskuchen können wir mit diesem Aufgeld die etwas niedrigere Ölausbeute ausgleichen. In Büren ist ein Kraftfutterwerk
ansässig, das uns allein die Hälfte der
anfallenden Produktion abnimmt. Den
Rest vermarkten wir ins Rheinland, nach
Westfalen und sogar bis nach Holland.
Das Gespräch führte Hermann Steffen
uns der Öffentlichkeit stellen und der
Branche dienen. Wenn es der Branche
schlecht geht, geht es auch unserem
Betrieb schlecht”, so sein Credo.
im Vorfeld zu dem einen oder anderen
Thema. Eine seiner Spezialaufgaben ist
es auch, Fachzeitschriften auszuwerten.
Markiert mit den wichtigen Themen
wandern sie zurück zu den Mitarbeitern
ins Büro. „Ich habe ja die Zeit.” Entscheidungen im Tagesgeschäft liegen indes
ausschließlich bei seinem Sohn. Auch
wenn sie dem Vater nicht gefallen.
tet er. Die immer größere Volatilität der
Märkte und damit das größere Risiko
sorgen dafür. „Wir haften mit unserem
persönlichen Unternehmen. Die angestellten Yuppies in den großen Unternehmen müssen das nicht. Das birgt weitere
Risiken.”
D
er Politikberater hinter den
Kulissen und Kämpfer für
die Sache ist nicht immer
bequem, aber konsequent,
authentisch und akzeptiert.
Und in seiner Hochzeit wurden keine
politischen Entscheidungen getroffen,
die nicht vorher über seinen Tisch gegangen sind. Er hat ein breites Kreuz oder
auch dickes Fell. Auch heute mischt er
noch gern bei aktuellen Themen mit.
„Minister Meyer freut sich immer, wenn
er mich sieht”, sagt er mit einem Augenzwinkern.
Erwin Fromme ist das Urgestein des Getreidehandels.
Das Familienunternehmen führt zwar längst der Sohn.
Aber der Mann der klaren Worte mischt noch lautstark mit.
Die Jugend liegt ihm außerdem am Herzen. Das wird nicht zuletzt in der ErwinFromme-Stiftung deutlich. Sie kümmert
sich um die Förderung des Nachwuchses.
Allerdings wünscht er sich von der heutigen Jugend etwas mehr Engagement.
„Wenn es brennt, muss eben auch mal
etwas länger gearbeitet werden. Das ist
heute nicht mehr selbstverständlich”,
bedauert er. Und Pünktlichkeit ist ihm
ungeheuer wichtig.
Foto: dg
Porträt: Erwin Fromme
Heute kommt seine Fähigkeit des Zuhörens den rund 50 Mitarbeitern des Betriebes zugute. Der ehemalige Firmenchef
fungiert gern als Kummerkasten, um zu
hören, wo der Schuh drückt. Auch steht
er für Reklamationen aus der Kundschaft
zur Verfügung. Und er ist gern in den
Außenstellen unterwegs. Der „Flurfunk”
im Hause Fromme funktioniert dabei gut.
Ist der Senior auf seiner Rundreise zu den
Außenlägern unterwegs, „warnen” die
Mitarbeiter des ersten Standortes ihre
Kollegen auf den anderen Betriebsstätten vor. Aber Präsenz ist ihm mindestens so wichtig wie Sauberkeit an den
Standorten.
Senior mit Passion
Z
eit zum Älterwerden hat er
nicht. Das tägliche Geschäft fordert den 86-Jährigen. Banken,
Bilanzen und Controlling der
Außenläger des Familienbetriebes halten das Urgestein des Getreidehandels fit: Erwin Fromme steckt
immer noch mitten in den Agrarthemen.
Wenn es um Banken und Bilanzen geht,
führt kein Weg an Erwin Fromme vorbei.
Der Aufsichtsratsvorsitzende der Wilhelm
Fromme Landhandel GmbH und Co. KG
führt die Gespräche mit den Vorständen
der Banken. Dabei kann er sich manchmal nicht verkneifen, auf den natürlich
vorhandenen Altersunterschied hinzuweisen. „Ich bin länger im Betrieb, als ihr
alt seid”, weist er sein Gegenüber schmunzelnd auf die Tatsachen hin. Und sie akzeptieren ihn – und vor allem auch seinen Ton.
Wer Erwin Fromme erlebt, weiß, dass er
laut und bestimmt werden kann, wenn
ihm eine Sache wichtig ist. Die Faust auf
dem Tisch kommt dabei ebenfalls schon
einmal vor. Er kann aber auch gut zuhören. Das war vor allem in seiner aktiven
Zeit wichtig. Kaum ein Ausschuss, ein
Treffen der Branche mit Schwerpunkt in
den 1970er Jahren, die sich mit Getreide
im weitesten Sinne in Deutschland bis
nach Brüssel beschäftigt haben, ist ohne
Erwin Fromme denkbar. Auch in den
Jahren davor und danach ist er aus der
Szene nicht wegzudenken. „Wir wollen
Der Senior – wie ihn sein Sohn nennt –
kann sich aber auch zurücknehmen. Die
Geschäfte des Familienunternehmens
führt seit 1992 Sohn Kurt. Seit 2004 ist er
alleiniger Inhaber des Unternehmens.
„Damals hat mein Vater einen klaren
Schnitt gemacht”, so Kurt. Das schließt
aber nicht aus, dass sich der Junior den
einen oder anderen Rat des erfahrenen
Vollblutlandhändlers holt.
Auch bei strategischen Fragen geht der
Senior voll mit. „Stehen Entscheidungen an, sprechen wir die Möglichkeiten
durch.” Gern recherchiert Erwin Fromme
„Ich habe in
meinem Leben
keinen Sport
getrieben. Ich
habe gearbeitet
und mich dabei
genug bewegt.“
Ein Leben neben dem Agrarhandel? Für
Erwin Fromme hat es das kaum gegeben.
Ein bisschen Jagd, Mitglied im Gemeinderat, und kürzlich wurde er für 70 Jahre
Mitgliedschaft im Sportverband geehrt.
Ist das ein Geheimnis? „Ich habe in meinem Leben keinen Sport getrieben”,
gesteht er. „Ich habe gearbeitet und mich
dabei genug bewegt.” Sein Beruf ist sein
Hobby. Die erste Priorität war immer
das Unternehmen, der Ausgleich seine
Familie.
Das Familienleben der Frommes hat
im Großen und Ganzen deshalb nahe
am Betriebsgeschehen stattgefunden.
Seine drei Kinder sind quasi neben der
Getreideerfassung groß geworden. Das
blieb nicht ohne Auswirkungen. Neben
Kurt als Betriebsnachfolger ist seine
Schwester Regine Fromme heute Prokuristin in einem internationalen Handelshaus für Getreide.
Sorgen macht sich Erwin Fromme um
das schlechte Rating des Agrarbusiness.
„Die Warenkreditversicherer werden in
naher Zukunft sicher das eine oder andere Unternehmen herabstufen”, befürch-
Als eine große Herausforderung empfindet Kurt Fromme die Unberechenbarkeit
der Politik. „Aussagen von Politikern
sind häufig ergebnisoffen. Schon morgen können sie keine Wertigkeit mehr
haben. Das macht das Handeln für uns
Unternehmer schwierig”, sind sich Vater
und Sohn einig.
E
ine rasante technische Entwicklung hat den langjährigen Unternehmer während seines bisherigen Lebens begleitet. Den
Mähdreschereinsatz Mitte der
1950er Jahre hat Erwin Fromme als eine
der größten Herausforderungen seines
aktiven Berufslebens in Erinnerung.
„Da wurde plötzlich Getreide mitten
in der Ernte lose auf unserem Betrieb
angeliefert. Darauf waren wir gar nicht
eingestellt”, erinnert er sich. Bis dahin
wurde das Getreide in Säcken angeliefert
und direkt in den Elevator geschüttet.
Schnell richteten die Frommes eine Gosse für das Abladen des Getreides von den
Anhängern ein. Bald kam der Einbau von
Trocknungen für das feucht angelieferte
Getreide hinzu. Bisher hatte es den Weg
zum Landhandel über die Garben auf
dem Feld, das Dreschen und Trocknen in
der Scheune und schließlich abgesackt in
Säcken gefunden.
Die Entwicklung zu immer größeren
Einheiten war bald eingeleitet. Die Festlegung der Qualitätsmerkmale war ein
weiterer großer Schritt für den Landhandel. „Es gab kein Labor in den Betrieben.
Wir haben die Feuchtigkeit in einem Trockenschrank ermittelt. 50 Gramm Getreide geschrotet, vorher gewogen, getrocknet, hinterher gewogen. Pro Partie hat
der Vorgang mehr als eine Stunde gedauert”, weiß der ausgebildete Kaufmann
noch. Und Geräte zum Feststellen des
Proteingehalts gab es auch nicht. Heute
ist das volle Programm der Qualitätsfeststellung in den Betrieben ein Muss.
Am liebsten würde Erwin Fromme, der
schon neun Wettbewerber übernommen
hat, weitere Unternehmen kaufen, um
den eigenen Betrieb voranzubringen.
„Aber es gibt fast keine mehr”, bedauert
Fromme. Zumindest da stößt auch der
Senior an seine Grenzen. dg
Handel & Industrie 21
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Direkt und praxisnah
A
uch wenn der Schwerpunkt
der Bröring Unternehmensgruppe im Südoldenburger
Raum liegt, ist das Unternehmen längst über das
angestammte Gebiet hinausgewachsen.
Der Start der Mischfutterproduktion in
Dinklage datiert aus den frühen ‚Fünfzigern‘ des vorigen Jahrhunderts, als sich
in den Kreisen Vechta und Cloppenburg
viele kleine landwirtschaftliche Betriebe
mit wenig Grund und Boden ein Zubrot
mit der Schweinemast verdienten.
Mit der Errichtung eines zweiten Mischfutterwerkes in Löningen begann 1973
die Expansion. Mitte der 1990er Jahre folgte die Beteiligung an und 2005
die Übernahme des Landhandel-Ver-
Die Unternehmensgruppe:
H. Bröring GmbH & Co. KG, Dinklage:
Mischfutterproduktion in Dinklage,
weitere Werke in Löningen und Spelle
Haneberg & Leusing GmbH & Co. KG:
Mischfutterwerke in Schöppingen und
Ostbevern
BEST 3 Geflügelernährung GmbH:
Mischfutterwerke in Twistringen,
Algermissen (gepachtet) und Karstädt
(Lohnproduktion)
Mitarbeiter: 600
Mischfutterproduktion: 1,67 Mio. t
Hafenumschlag am C-Port, Friesoythe
und Spelle
Bahnanschlüsse:
Löningen, Twistringen, Spelle
bunds Emsland-Grafschaft, Spelle. Mit
dem Erwerb des Mischfutterwerkes in
Twistringen wurde 2003 die Position
im nahen Umfeld weiter ausgebaut.
Seinen Aktionsradius nach Süden und
nach Nordrhein-Westfalen hatte Bröring bereits 1994 mit der Beteiligung und
späteren Übernahme der Haneberg &
Leusing GmbH & Co. KG in Schöppingen
vergrößert. Die Zusammenführung der
einzelnen Unternehmen zur Bröring
Unternehmensgruppe mit einem einheitlichen Marktauftritt im Jahr 2003
wurde von Dr. Walter Helms als Vorsitzendem der Geschäftsführung initiiert.
Ein weiterer Meilenstein der Firmengeschichte war die Gründung der ‚BEST 3
Geflügelernährung GmbH‘, einem führenden Hersteller für Geflügelfutter,
gemeinsam mit der Erzeugergemeinschaft deutsches Qualitätsgeflügel Visbek
im Jahr 2003. Zurzeit entsteht in Löningen
ein neues Mischfutterwerk, das im Herbst
dieses Jahres an den Start gehen soll.
Kernkompetenz Mischfutter
Das Herz der Unternehmensgruppe ist
die Mischfutterherstellung von mehr
als 1,6 Millionen Tonnen jährlich in
acht verschiedenen Werken. Mit einem
Anteil von 45 Prozent Geflügel- und von
40 Prozent Schweinefutter gibt es klare Schwerpunkte, der Rest entfällt auf
Rinderfutter. Einzelne Werke sind auf
spezielle Bereiche spezialisiert. Künftig
könnten die zunehmenden Forderungen
des Lebensmitteleinzelhandels (LEH)
und der Molkereien nach gentechnik-
freien Futtermitteln gewisse interne
Produktionsverschiebungen notwendig
machen. „Wir sind ein wichtiges Glied in
der Lebensmittelkette, in der die Qualitätsstandards vom LEH vorgegeben
werden. Als Tiernahrungshersteller ist
es aber unsere Aufgabe, die Landwirte
mit hochwertigem Fertigfutter zu beliefern. Wir sind für neue Anforderungen
gerüstet und können in unseren Werken bei Bedarf spezielle Technologien
einsetzen, um der Landwirtschaft einen
Mehrwert zu bieten”, so Bernd Bröring,
der zusammen mit seinem Bruder Heiner
Bröring, seinem Onkel Jan Bröring, Rainer Dullweber und Michael Erdhaus die
Geschicke des Familienunternehmens in
der vierten Generation leitet.
Schlüsselposition am Kanal
Der Mischfuttertransport an die etwa
5 000 landwirtschaftlichen Kunden
erfolgt einstufig im Direktvertrieb mit
dem gut ausgelasteten eigenen Fuhrpark. Damit lassen sich zudem Risiken,
wie mögliche Belastungen durch Fremdstoffe vermeiden und die Rückverfolgbarkeit sicherstellen. Die logistischen
Anforderungen beim Rohwarenbezug
haben sich in den vergangenen Jahren
signifikant verändert. Die Umschlagsanlagen an den Kanalplätzen Spelle
und im C-Port Friesoythe nehmen beim
Bezug von Sojaschrot und anderer Einzelkomponenten über die Seehäfen
eine Schlüsselposition ein, doch bei
den Beschaffungswegen aus dem Osten
hat der Bahntransport einen erheblich höheren Stellenwert bekommen.
Foto: Bröring
Die Bröring Unternehmensgruppe, Dinklage, blickt im September dieses Jahres auf ihr
125-jähriges Bestehen zurück. Schwerpunkt des nordwestdeutschen Familienunternehmens ist die Mischfutterproduktion. Weiteres Wachstum steht auf der Agenda.
Das Werk in Dinklage ist modern aufgestellt: An die kleinen Anfänge als Gemischtwarenhandel 1891 erinnert nur noch die Firmenchronik.
Heute rangiert er gleichberechtigt
neben der Schiffslogistik, denn viele
Futterrohstoffe, Getreide oder Mais aus
Ostdeutschland oder osteuropäischen
Ländern werden inzwischen via Schiene bezogen.
Anforderungen steigen
Die politischen Rahmenbedingungen
für die Veredelungswirtschaft sind zwar
schwieriger geworden, doch Bröring
setzt auch künftig auf Wachstum und
rechnet sich vor allem wegen der steigenden Qualitätsanforderungen an die
Futtermittelwirtschaft Chancen aus. „Die
starken Familienbetriebe in der Region werden auch künftig die Fahne der
Veredelungswirtschaft hochhalten und
bieten uns die Chance, mit Innovationen
gemeinsam weiter zu wachsen. Über den
Direktvertrieb sind wir sehr nah an der
Landwirtschaft dran und können Problemlösungen praxisnah umsetzen”, ist
sich Rainer Dullweber, Geschäftsführer
für Vertrieb & Marketing, sicher.
Bindeglied zur Landwirtschaft sind die
Außendienstmitarbeiter. Als Fachberater
vor Ort verfügen sie über Spezialwissen
für Tierernährung, Produktionstechnik
und Vertrieb, bringen aber auch Anregungen aus der Kundschaft in das Innovations-Management des Unternehmens
ein. Innovationen werden bei Bröring
vom ganzen Team – von der Geschäftsführung bis zum Außendienst – getragen
und gemeinsam entwickelt. Der Ansatz
ist in der Regel ganzheitlich und soll nach
Möglichkeit Fütterungsansätze, Stallmanagement und Hygiene gleichermaßen
berücksichtigen. Ein Beispiel hierfür ist
die Saugferkel-Beifütterung ‘CulinaCupLine‘.
Neben Mischfutter betreibt die Bröring Unternehmensgruppe auch das
klassische Landhandelsgeschäft mit
Getreideerfassung, dem Vertrieb von
Düngemitteln, Saatgut und Pflanzenschutz sowie dem Handel von Einzelfuttermitteln an 13 verschiedenen Standorten. Dieser Bereich trägt etwa 15 Prozent
zum Gesamtumsatz der Gruppe bei. Die
meisten Standorte liegen im Südoldenburger Raum oder im Emsland, doch
das gesamte Einzugsgebiet reicht von
der holländischen Grenze bis an die
Ostsee und deckt auch Teile von Nordrhein-Westfalen und von Nordhessen
ab. Das erfasste Getreide wird nahezu
ausschließlich für den Eigenbedarf der
Futtermittelproduktion verwendet. Um
den landwirtschaftlichen Kunden einen
kompetenten und leistungsfähigen Service zu bieten, wird kontinuierlich in die
Getreideerfassung investiert.
St
22 Handel & Industrie
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Auf effiziente Warenketten und
einen langen Atem kommt es an
D
ie globalen Agrarmärkte
sprechen momentan eine
deutliche Sprache: Das
Rekordangebot, die großen
Bestände weltweit und die
hohen Erwartungen an die kommende
Ernte ließen die Preise für Getreide und
Ölsaaten deutlich zurückgehen, zwischenzeitlich sogar auf ein Sechsjahrestief. In
Deutschland und in der EU haben zudem
die Abschaffung der Milchquote und die
damit einhergehende Erhöhung der Produktion ebenso wie das hohe Angebot
an Schweinefleisch zusätzlich Druck auf
die Preise ausgeübt. Die Konsequenz: Die
Einkommen der deutschen Landwirte
haben sich 2015 um durchschnittlich fast
40 Prozent reduziert. Das Markttief schlägt
sich eins zu eins in einem Stimmungstief
nieder. Das Konjunkturbarometer der
Agrarbranche liegt auch auf einem Mehr-
Zur Person
Prof. Klaus Josef Lutz ist seit Juli
2008 Vorstandsvorsitzender der Baywa,
deren Geschäftstätigkeiten sich auf die
Segmente Agrar, Bau und Energie mit
speziellem Fokus auf erneuerbare Energien erstrecken. Der gebürtige Münchener studierte Rechtswissenschaften an
der Ludwig-Maximilians-Universität in
der bayerischen Hauptstadt und begann
seine Karriere als Anwalt.
az
jahrestief – nämlich ebenso auf dem niedrigsten Stand seit sechs Jahren.
Standort Europa wird gebraucht
In einer angespannten Marktsituation
sind große Teile der Branche nun gefordert. Durch eine Haltung jedoch, die
abseits von der Marktrealität nur noch
auf lokale und regionale Märkte setzen
würde, wäre die Wettbewerbsfähigkeit
des Agrarstandorts Deutschland und
Europa deutlich gefährdet. Der Strukturwandel würde sich dadurch nicht
bremsen lassen. Die Folge wäre lediglich, dass Deutschland Marktanteile an
andere Wettbewerber abgeben muss.
Davon wären nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch der Handel und die
Verarbeitungswirtschaft betroffen. Dies
würde bedeuten, dass sich Deutschland
verstärkt durch den Import von Lebensmitteln aus dem internationalen Markt
versorgen müsste. Damit würde auf einen
großen Teil der Leistungsfähigkeit der
Agrarbranche in Deutschland verzichtet.
Ein solcher Verzicht auf landwirtschaftliche Kapazitäten wäre weder volkswirtschaftlich sinnvoll noch nachhaltig.
Die Antwort muss deshalb sein, die
Agrarwirtschaft auf dem Gunststandort
Deutschland nachhaltig zu intensivieren, um damit die Versorgung des heimischen Marktes mit qualitativ hochwertigen Lebensmitteln zu garantieren und
gleichzeitig einen Teil der wachsenden
internationalen Nachfrage abzudecken.
Die Aufgabe des Agrarhandels ist dabei,
wie immer für den Ausgleich zwischen
Angebot und Nachfrage zu sorgen, also
die Erzeuger lokal und die Abnehmer
regional und global zu erreichen und so
die Beschaffungs- und Absatzmärkte miteinander zu verbinden. Die Erzeugnisse
müssen in die Märkte fließen, in denen
der Bedarf besteht – zum Nutzen von
Landwirtschaft und Verbraucher.
Die Agrarwirtschaft der EU hat in den
letzten Jahrzehnten immer wieder sehr
schnell und dynamisch auf Veränderungen in den Märkten reagiert. Strukturwandel und notwendige Anpassungsprozesse sind also nicht neu. Aktuell kommt
es zu weiteren Konsolidierungen auf
allen Marktstufen und in allen Marktsegmenten, von Technik über Betriebsmittel bis hin zur Verarbeitung. Deswegen
muss auch der Agrarhandel wachsen
und zugleich den unmittelbaren Kontakt zu den Landwirten und den Abnehmern erhalten, um deren langfristigen
Erfolg unterstützen zu können. Neben
den überregionalen und internationalen
Agrarhändlern wird es auch in Zukunft
Händler geben, die bestimmte Marktnischen und spezialisierte Märkte besetzen, zum Beispiel bei Obst und Gemüse.
Im Agrarbereich ist es nicht anders als in
anderen Geschäftsfeldern: Mit Spezialprodukten lassen sich deutlich bessere
Margen erzielen als mit „Commodities”.
Wenngleich die Hauptprodukte weiterhin den Takt vorgeben, ist es strategisch
naheliegend, spezialisierte Märkte überregional und international zu verknüpfen, wenn man die Kompetenz und das
Netzwerk dazu hat.
Die Zukunftsmärkte für die Agrarwirtschaft liegen in Asien, Lateinamerika
und Afrika. Diese Märkte unterscheiden
sich aber sehr stark: Ein wichtiger Wachstumsmarkt im Agrar- wie im Technikbereich ist Afrika. Rund 60 Prozent des
weltweit kultivierbaren, aber derzeit
noch ungenutzten Ackerlandes befinden
sich auf diesem Kontinent. Die größten
Absatzchancen für Erzeugnisse liegen in
den aufstrebenden asiatischen Märkten.
Diese Absatzkanäle müssen dringend
durch Marktzugänge erschlossen werden. Die aktuelle Situation im Milchmarkt
unterstreicht diese Notwendigkeit besonders. Handelsabkommen und vor allem
die Bereitstellung der notwendigen Phyto- und Veterinärzertifikate sind hierbei
wichtige Türöffner.
Aber klar ist auch: Wenn Zukunftsmärkte
erreicht werden sollen, wird das viel Geld
kosten und auch Risiken bedeuten. Die
Markteintrittsbarrieren sind insbesondere in Asien zum Teil sehr hoch. Wer diese
Märkte bearbeiten will, braucht einen
langen Atem oder entsprechende Partner, die helfen, diesen Zugang schneller
Foto: Baywa
Gastkommentar Prof. Klaus Josef Lutz, Vorstandsvorsitzender der Baywa AG
zu erreichen. Um Markteintrittsbarrieren
zu überwinden, ist vor allem auch ein effizientes Agrarhandels- und Logistiknetzwerk entscheidend.
Internationale und digitale Zukunft
Mittel- und langfristig geben unverändert
die Mega-Trends auf den Agrarmärkten
die Richtung vor: Um alle Menschen ausreichend ernähren zu können, ist deshalb
bis 2050 eine Steigerung der Erzeugung
von Nahrungsmitteln um mindestens 70
Prozent notwendig, so die Expertenmeinung. Dies kann nur im Rahmen einer
innovativen und moderne Technologien
und Produktivitätssteigerungen nutzenden Agrar- und Ernährungswirtschaft
erreicht werden. Und diese Notwendigkeit bedarf der politischen und gesellschaftlichen Akzeptanz.
In diesem Kontext werden sich zwei Entwicklungsstränge verstärken. Zum einen
werden die im Agrarhandel tätigen Unter-
Familienbetrieb mit
Faible für den Osten
Das größere Angebot an Getreide, Ölsaaten und Futtermitteln für diese Geschäfte
kommt deshalb aufgrund der bestehenden Strukturen aus den neuen deutschen
Bundesländern und aus Osteuropa. „Wir
pflegen die Beziehungen zu landwirtschaftlichen Betrieben mit einer Größe
zwischen 500 und mehr als 5000 Hektar”, bestätigt Minnegard Mosel. „Wir
brauchen sowohl die Bezugs- als auch
die Absatzseite, um unsere Kunden
zufriedenzustellen und die Logistik
sichern zu können.” Almos sieht sich als
Dienstleister. Besonders spezielle Bedürfnisse ihrer Kunden sind für sie Herausforderungen, die sie gern annehmen.
Schwierige Bedingungen
„Auch wenn einige wenige schwierige
Jahre dabei waren, sind wir mit der Entwicklung unseres Unternehmens zufrieden”, zieht Alfons Mosel Bilanz. Der
gebürtige Niedersachse verfügt beim Start
seines eigenen Unternehmens über gute
Kontakte in die damals noch sozialistischen Staaten. So kann er dort problemlos seine Geschäftskontakte fortsetzen
Almos hat sein Netzwerk peu à peu erweitert und ist mittlerweile im Osten Rumäniens mit
einem eigenen Produktionsbetrieb aktiv.
und findet erste Absatzmöglichkeiten in
den Bereichen Futtermittel und Getreide mit bekannten Mischfutterherstellern und Händlern. 1991 folgt bereits
die Gründung einer eigenen Firma in
Tschechien. 1993 wird ein Büro in Ungarn
eröffnet. „Herausforderung war damals
besonders die Abwicklung von Geschäften mit Marktordnungswaren aus Osteuropa”, erinnert sich der gelernte Landhandelskaufmann. Der Zahlungsverkehr
mit den verschiedenen Währungen und
schwankenden Devisenkursen bedarf
zusätzlicher Beachtung. Jedes Exportund Importgeschäft ist mit Bürokratie
rund um die Verzollungen verbunden.
Jeder Lkw muss verzollt werden. Nach
dem Eintritt der Länder nach und nach
in die EU fallen diese Formalitäten weg.
„Als neues Problem traten die unterschiedlichen Mehrwertsteuersätze in
den einzelnen Ländern auf”, erinnert
sich Minnegard Mosel. Die Groß- und
Handelskauffrau und Handelsfachwirtin
wird bereits früh in den Familienbetrieb
einbezogen und ist seit 15 Jahren an dem
Unternehmen beteiligt. Gemeinsam mit
Franz Peter Zimmermann und ihrem
Vater führt sie die Geschäfte.
Große Einschnitte im Markt treten natürlich mit der Öffnung der Grenzen ab 1989
auf, bald nach der Gründung des eigenen Unternehmens. Die Handelsbeziehungen ändern sich. Verantwortliche
im Osten Deutschlands verschwinden,
Ansprechpartner wechseln. „Einige Mitarbeiter, die Funktionen in den Firmen
hatten, haben sich auch selbstständig
gemacht”, weiß Mosel. Auf der anderen
Seite greifen Mischfutterhersteller aus
den neuen Bundesländern auf seine
Erfahrung in der Branche zurück. Alfons
Mosel berät sie bei der Bewertung der
Rohstoffe, der Optimierung der Futterrationen und in Marketingfragen.
Rumänien im Visier
Foto: Almos
V
tigt das Im- und Exportunternehmen 33
Angestellte. Das Geschäft wird bald auf
Ölsaaten und einige Spezialitäten ausgeweitet. Die Grenzen ihres Handelsgebietes sehen sie in den Europäischen
Seehäfen an Nord- und Ostsee sowie am
Schwarz- und Mittelmeer. Tochter Minnegard hält eine Mehrheit von zwei Dritteln
des Unternehmens.
Agrar 4.0 und damit langfristig die Vernetzung des landwirtschaftlichen Betriebs
wird der gesamten Wertschöpfungskette
neue Märkte in den zukünftigen und etablierten Agrarländern eröffnen und dafür
sorgen, dass Agrarwirtschaft zukünftig
wesentlich intensiver, effizienter und
nachhaltiger betrieben werden kann als
bisher: Digital Farming wird also neben
stabilen Rahmenbedingungen für das
Agribusiness eine wesentliche Antwort
auf die Frage sein, wie Herausforderungen gemeistert werden können, während die Märkte international noch näher
zusammenrücken.
wichtig, den kurzen Weg vom Erzeuger
zum Endverbraucher zu finden.
Klein, aber allein – das war bislang die Devise des Handelsunternehmens Almos.
Vor der Konzentration in der Agrarwirtschaft verschließt Familie Mosel aber
dennoch nicht die Augen.
on Anfang an legt sich Alfons
Mosel auf das Streckengeschäft fest, als er sich 1989
gemeinsam mit seiner Frau
Monika Mosel-Greim als
Import-, Export- und Großhandelsunternehmer in erster Linie für Futtermittel
und Getreide selbstständig macht. Verstärkt sind sie auf Mittel- , Süd- und Osteuropa ausgerichtet. Nach einer beendeten
Tätigkeit in verantwortlicher Position bei
einem namhaften Futtermittelhersteller legt das Ehepaar den Sitz der Firma
zunächst in das Eigenheim im bayerischen Nittendorf bei Regensburg. Bald
lassen sich Privatleben und Bürotätigkeit aber in den persönlichen Räumen
nicht mehr vereinbaren. Es bietet sich
die Gelegenheit, das jetzige Bürohaus in
Nittendorf zu kaufen. Heute arbeiten dort
rund 20 Mitarbeiter. Insgesamt beschäf-
nehmen, wie die Baywa, langfristig ihre
Absatz- und Beschaffungsmärkte durch
Internationalisierungsstrategien noch
stärker absichern und gleichzeitig durch
die damit verbundene Diversifizierung
versuchen, sich von ihren Wettbewerbern zu differenzieren. Zum anderen
wird die Branche in die Digitalisierung
investieren.
Eine Familie, ein Unternehmen: Firmengründer Alfons Mosel, Frau Monika (r.) und
Tochter Minnegard
Weitere Veränderungen bringt der sukzessive Beitritt mehrerer Länder in die
EU. Ihr Status als Drittland fällt weg. Die
Voraussetzungen ändern sich wieder.
Die Mosels nutzen die Gunst der Stunde und erhöhen ihr Handelsvolumen in
diesen neuen Mitgliedsländern. Polen,
Ungarn, Tschechen gehören jetzt genauso zu ihren Handelspartnern wie Marktteilnehmer aus der Slowakei, Rumänien,
Bulgarien und Kroatien. Einen großen
Teil des produzierten Rapsschrotes in
Tschechien beispielsweise kauft die Firma Almos und führte es über einen längeren Zeitraum nach Italien ein. Für diese
Geschäfte ist Minnegard bereits federführend. Später wird die tschechische
Mühle verkauft, und das Geschäft fällt
weg. Andere Märkte werden gefunden.
„Die Ware aus den mittel- und osteuropäischen Ländern war und ist auch heute immer noch mit vielen Vorurteilen
behaftet”, weiß ihr Vater. „ Sie war aber
qualitativ immer in Ordnung”, so seine
Erfahrung. Auch heute kann er keine
Unterschiede erkennen. Der Weizen
aus Rumänien ist ebenso gut wie der aus
Deutschland. Natürlich lassen die Erträge
in den osteuropäischen Ländern teilweise noch zu wünschen übrig.
Schwierig ist es damals allerdings mit
der vorhandenen Infrastruktur und den
Logistikmöglichkeiten in den osteuropäischen Ländern. „Sie stimmten überhaupt nicht”, sind sich Vater und Tochter einig. Zudem ist es aufgrund der
Verkehrsverhältnisse und Grenzabfertigungen auf Straßen und Schienen nur
schwer möglich, größeres Volumen zu
bewältigen. „Unser Vorteil war es in
dieser Zeit, dass wir Möglichkeiten fanden, eine einigermaßen funktionierende Logistik aufzubauen. Gern berichte
ich aus dieser Zeit, dass wir dadurch in
der Lage waren , nicht unbedingt ‚just
in time‘, aber ‚fast in time‘ zu liefern”, ist
Alfons Mosel ein wenig stolz auf seine
Leistung. Mit der Öffnung der Grenzen
erhöht sich allerdings auch die Zahl der
Wettbewerber.
Noch einfacher werden die Geschäfte mit
der Einführung des Euro. Mit den vielfachen Vereinfachungen aufgrund der politischen Veränderungen strukturiert die
Gruppe Almos ihre Tochterunternehmen
um. Die selbstständigen Unternehmen in
den einzelnen Ländern werden als Handelsvertretungen in die Zentrale in Nittendorf integriert. Die Organisation wird
verschlankt. Dabei bleibt es der Familie
Mit der Suche nach großen einheitlichen
Mengen an Getreide für den Handel entsteht auch der Gedanke, sich selbst in der
Landwirtschaft zu engagieren – sich ein
zweites Standbein aufzubauen. Seit 2008
betreibt Almos neben seinem Handelsgeschäft im rumänischen Banat einen
landwirtschaftlichen Betrieb im Osten
des Landes. Aktuell werden 4 000 Hektar bewirtschaftet. 50 Prozent Winterungen mit Gerste,Weizen und Raps stehen
genauso auf dem Anbauplan wie auf den
restlichen 2 000 Hektar Mais, Zuckerrüben und Sojabohnen. 58 Mitarbeiter sorgen im Handelsbüro und auf der Farm in
Osteuropa dafür, dass die Abläufe gesichert sind. Mit Bodenpunkten zwischen
60 und 70 sind recht gute Erträge von den
Flächen zu holen, auch wenn die Ernte
2015 nicht überzeugt. Beim Weizen sind
7,0 Tonnen pro Hektar möglich, bei Raps
3,5 Tonnen pro Hektar. Gerste hat bereits
7,5 Tonnen pro Hektar erbracht und trockener Mais 8,0 Tonnen pro Hektar.
Neben ihren Handelsaktivitäten will die
Gruppe Almos Romania zukünftig den
Standort Secuieni in Ostrumänien als
Lagerei- und Umschlagbetrieb ausbauen. Er verfügt über einen direkten Gleisanschluss zur Verladung von Ganzzügen.
Die Trocknungskapazität von 400 Tonnen
pro Tag kann sich zudem sehen lassen.
Die Lagerkapazitäten liegen bei 25 000
Tonnen. Und natürlich setzen sie sich
mit der Zukunft ihres gesamten Unternehmens generell auseinander: Wenn
bisher die Devise galt „Lieber klein, aber
allein”, verschließen sie die Augen vor der
anhaltenden Konzentration in der Agrarwirtschaft keinesfalls. „Auch wir müssen
uns den veränderten Strukturen anpassen und uns alle Optionen offenhalten”,
sieht Minnegard Mosel realistisch in die
Zukunft.
dg
24 Handel & Industrie
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Saatgutlogistiker auf der Überholspur
Westfalen gelten als bodenständig und strebsam. Im Familienunternehmen der Brüder Stroetmann paaren sich diese Eigenschaften mit Mut und Innovationskraft.
L
im Lebensmitteleinzelhandel alles um
Struktur und Logistik. In diesen Disziplinen müsse ein Großhändler die Nase
vorn haben. Wenig Verständnis zeigt
Max Stroetmann für Vorwürfe aus der
Landwirtschaft, dass der Handel zu
schlechte Preise zahle. „So ist eben der
Markt mit allen Chancen und Risiken”,
sagt der Lebensmittelhändler.
utz und Max Stroetmann leiten heute in sechster Generation die Stroetmann-Gruppe.
Die Ursprünge sind im Besprechungsraum der Münsteraner
Zentrale dokumentiert. An der Wand
hängt gerahmt der Lehrbrief von Kaufmann Christopher Holtmann, der 1791 in
der Innenstadt von Münster einen Kolonialwarenhandel gründete. Seine Tochter Bernhardine übernahm das Geschäft
mit ihrem Ehemann Ludwig Stroetmann,
dessen Namen die Gruppe bis heute trägt.
S
Z
ur Gründung des Unternehmens vor 225 Jahren war
im stark landwirtschaftlich
geprägten Westfalen der
Handel von Lebensmitteln
zusammen mit Saatgut durchaus üblich,
erzählt Lutz Stroetmann, der das Agrargeschäft der Gruppe steuert. Heute folgen die beiden Arbeitsgebiete völlig
unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten.
„Eine so große Volatilität der Preise wie
Fotos: Stroetmann-Gruppe
Alle dazugehörenden Firmen beschäftigen mittlerweile etwa 1.600 Mitarbeiter und erzielen zusammen rund 500
Millionen Euro Umsatz. Zwei Drittel
stammen aus der Lebensmittelsparte.
Das Münsteraner Unternehmen beliefert
rund 100 Edeka-Standorte in der Region
und betreibt in eigener Regie fünf E-Center. Hinzu kommen die Firma L. Stroetmann Großmärkte mit zwei Standorten
in Münster und Gronau sowie die Firma L.
Stroetmann Großverbraucher in Werne.
Das Agrargeschäft, das etwa ein Drittel
zum Umsatz beisteuert, besteht aus den
Firmen L. Stroetmann Saat GmbH sowie
der vor einigen Jahren neu gegründeten
Lotus Agrar GmbH. Beide Unternehmen
sind im gesamten Bundesgebiet tätig.
Lagebesprechung mindestens einmal täglich: Lutz (l.) und Max Stroetmann
im Agrarbereich kennen wir nicht”,
sagt Max Stroetmann, der die Lebensmittelsparte lenkt. „Wir haben üblicherweise Preisausschläge von 5 bis 10
Prozent, und meist gleichen sich solche
Differenzen zwischen Produktgruppen
auch noch aus.” Nachdem Preise und
Spannen ausgereizt seien, drehe sich
eine Agraraktivitäten hat der
größte private Saatguthändler
in den letzten Jahrzehnten stetig ausgedehnt, unter anderem
mit einem für die Saatgutbranche beispiellosen Investitionsprogramm.
Seit Lutz Stroetmann Anfang der 1980er
Jahre im Familienunternehmen startete,
ist eine Vielzahl an Wettbewerbsfirmen
vom Markt verschwunden. Als Konstante zeigte sich dagegen die Firma L. Stroetmann Saat mit einer klaren Fokussierung auf das Betriebsmittel Saatgut. Seit
jeher sind der private Landhandel und
freie Primärgenossenschaften Kunden
des Saatgutanbieters. In Ostdeutschland vertreiben die Münsteraner direkt
an Landwirte. „Ideologische Grenzen
zwischen privat und genossenschaftlich
haben wir geistig nie akzeptiert”, begründet Lutz Stroetmann die Vertriebsstrategie und ergänzt: „Wir verstehen uns als
Fachgroßhändler. Unsere Stärke ist es,
die Märkte richtig einzuschätzen und die
Leistungserwartungen unserer Kunden
zu erfüllen. Mit unserer Leidenschaft für
Saatgut liefern wir Qualität in der Ware
sowie in der technischen Verarbeitung,
Alleinstellungsmerkmale, eine verlässliche Warenversorgung im Engpass sowie
Sicherheit in der Logistik.” Das geschehe
mit dem Anspruch, dass Kundenpartnerschaft auch eine Wertschöpfungspartnerschaft sei.
Unter Beweis stellt Stroetmann seinen
hohen Anspruch im 2011 erstellten Produktions- und Logistikzentrum in Amelsbüren, das sich direkt an der Autobahn
A1 und nahe dem Dortmund-Ems-Kanal
befindet. Hinter der besonders nachts
atemberaubend illuminierten Gebäudesilhouette werden landwirtschaftliche
Mischungen, Rasen und Heimtiernahrung auf zehn Abfüll- und Absackstraßen
in unterschiedlichsten Verpackungen
produziert. Vom 100 Gramm Polyethylen-Beutel über Karton, Eimer, Zippverschluss bis zu 500 Kilogramm Big-Bag –
der Kunde hat die freie Wahl.
Wie gehen die Brüder Stroetmann miteinander um? Sie begegnen sich mit
Respekt, jeder schätzt die Stärken des
anderen: Diese Devise gilt auch für
ihren Umgang mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Firma. „Wir
ermuntern zu Eigeninitiative nach dem
Prinzip ‚mach mal’ sowie zu einer persönlichen Risikobereitschaft – natürlich
mit Rückendeckung –” so die Brüder zur
gelebten Firmenkultur.
I
n der Chefetage praktizieren Lutz
und Max Stroetmann den ständigen
Dialog. Beide treffen sich mindestens einmal täglich zur Lagebesprechung. Hinzu kommt die Abstimmung
mit den beiden Mitgeschäftsführern Dr.
Michael Tönnies, der Finanzen, Controlling und Personal verantwortet, sowie
Dr. David Schüppler, der für die EDV und
Organisation zuständig ist. Dass die EDV
in der Geschäftsführung angesiedelt ist,
ist für die Brüder Stroetmann Kern der
Strategie. Sie dürfe keinesfalls ein Eigenleben in einer untergeordneten IT-Abteilung führen, sind die Unternehmer
überzeugt.
Stattdessen sind die IT-Systeme Herzstück von Produktion und Logistik. In
der Zentrale in Münster kommt keine Standard-Software zur Anwendung.
„Unser System haben wir in all den Jahren fortentwickelt, wobei uns der Bereich
Lebensmittel stets Ansporn, ja Antreiber
war und ist”, erzählt Lutz Stroetmann.
Von dieser Expertise im Lebensmittelhandel, der äußerst hohe Ansprüche an
die Qualitätssicherung und fehlerfreie
Kommissionierung stellt, profitiere die
Saatgutsparte. Vernetzt sind für Getreidesaatgut bundesweit fünf zentrale Aufbereitungsstationen sowie fast 40 UnterVO-Firmen. Über einen vollständigen
Datenaustausch stellt Stroetmann selbst
in der größten Saisonhektik sicher, dass
Saatgut der gewünschten Sorte in der
bestellten Beizausstattung und Verpackung pünktlich die Kunden erreicht.
„Gerade in der Hektik einer Frühjahrsund Herbstsaison zeigt sich die Professionalität, mit der wir unsere Kunden
überzeugen”, sagt der Logistikexperte.
2013 startete die Stroetmann-Gruppe
zunächst mit einem Joint-Venture-Partner im generischen Pflanzenschutz; seit
2015 gehört die Lotus Agrar GmbH komplett zum münsterischen Verbund. Unter
dem Slogan „Gut. Günstig. Frei.” werden
hochwertige Generika angeboten. Neu an
dem Lotus-Geschäftsmodell ist, dass sich
ein unabhängiger Akteur ausschließlich
auf Generika konzentriert und diese dem
freien Agrarhandel direkt anbietet. Die
Lotus-Gründung ist ein Beispiel dafür,
dass auch ein 225 Jahre altes Familienunternehmen Pioniergeist hat und
die Fähigkeit besitzt, erkannte Chancen
erfolgreich zu nutzen. „Von diesem Geist
wollen wir uns auch in Zukunft leiten lassen”, heißt es im Jubiläumsjahr.
db
„Erfolgszuversicht
treibt uns an“
agrarzeitung: Viele Familienverbün­
de zerstreiten sich. Was setzen Sie
dagegen?
Stroetmann: Einen zerstrittenen Familienclan, der am Unternehmen zerrt,
kann es bei uns nicht geben. Schon
mein Vater hat testamentarisch für
Klarheit gesorgt. Höchstens zwei Familienmitglieder dürfen in der Gruppe
Gesellschafter werden, aber nur, wenn
sie auch als Geschäftsführer unternehmerische Verantwortung tragen.
Damit sichern wir die Zukunft, denn
wir können nur wachsen, wenn wir
investieren. Und was den Streit unter
Brüdern anbetrifft, den haben wir als
Jugendliche intensiv ausgetragen. Heute verstehen mein Bruder Max und ich
uns blendend.
Familienunternehmen gelten als pat­
riarchalisch – und als unbeweglich.
Stroetmann: Deswegen haben wir flache Hierarchien und eine dezentrale
Führungsstruktur. Jeder Mitarbeiter
– vom Azubi bis zum Geschäftsführer
– wächst in „unsere Kultur der Eigenverantwortung” hinein. Mut zur Entscheidung, Erfolgszuversicht und ein
gesunder Sportsgeist treiben uns an
und halten uns flott.
Wir haben das
Rechnen nach
dem Komma gelernt.“
nur dort und in dem Umfang, wie es
einen Sinn ergibt. Viel wichtiger ist es,
sich tatsächlich zu differenzieren und
Mehrwert als Gesamtpaket zu bieten.
Zur Person
Was kann der Agrarhandel vom
Lebensmitteleinzelhandel lernen?
Stroetmann: Sehr viel. Es gibt rund um
den Globus keinen härteren Markt als
den deutschen Lebensmittelhandel.
Selbst der US-Retailriese Wal-Mart
ist hier gescheitert. Auch im Stroetmann-Agrargeschäft profitieren wir
von dieser knüppelharten Schule. Es
geht um Just-in-Time-Lieferung, um
das Management von Lieferketten,
um Kostenkontrolle. Man kann sagen:
Hier haben wir das Rechnen nach dem
Komma gelernt.
Lutz Stroetmann, Jahrgang 1955,
vertritt als einer von zwei geschäftsführenden Gesellschaftern die
sechste Generation des Familienunternehmens Stroetmann, das
2016 225-jähriges Bestehen feiert.
Der gelernte Bankkaufmann hat
nach dem Wehrdienst Betriebswirtschaftslehre studiert und ist 1982
in das Familienunternehmen eingetreten. Er verantwortet die Saatgutsparte.
db
Und was lässt sich vom Agrarhandel
lernen?
Stroetmann: Landwirte und Landhändler denken oft, dass der Engpass zur
Getreideernte etwas Außergewöhnliches wäre. Aber das ist nichts im Vergleich zum Engpass im Handel mit Beerenobst, wo es um die Lieferlogistik in
geschlossenen Kühlketten innerhalb
weniger Stunden geht.
Das Gespräch führte Dagmar Behme
Viel wird über den Bedarf an Inte­
gration in der Agrar­ und Lebensmit­
telkette gesprochen. Was sind Ihre
Erfahrungen?
Stroetmann: Mit dem Schlagwort können wir wenig anfangen. Wir betreiben
Integration nicht als Prinzip, sondern
Landtechnik
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
25
Globale Produktion von Landtechnik
in Mrd. Euro
Schwerpunkte der weltweiten
Produktion von Agrarmaschinen
mit gleichzeitig hohem internationalen Handelsanteil sind Nordamerika
und Westeuropa. Die Fertigung in
Südamerika, China, Indien sowie in
der Türkei ist (noch) stark auf den
Heimatmarkt fokussiert.
2010 2011 2012 2013 2014 2015
79
Quelle: VDMA
90
99
103 101
91
Landtechnikindustrie in Deutschland
Inlands- und Exportanteil – Umsatz in Mio. Euro – Landmaschinen und Traktoren
2014
2015
Inland
Inland
2168,9
2045,5
Export
Export
5511,8
5331,2
Foto: Amazone
Quelle: VDMA Landtechnik
Mithilfe von Smart-Farming-Technologien können Maschinenlaufzeiten erhöht und die Leistung je Feldarbeitsstunde gesteigert werden.
Kapazitätsverteilung auf West- und Ostdeutschland 1950
in Prozent
Das A und O ist ein
begeisterter Betriebsleiter
West
Drillmaschinen
Düngerstreuer
Gras- und Getreidemäher
Mähbinder
Kartoffelerntemaschinen
Ackerschlepper
Vernetzte Arbeitsketten steigern Effizienz auf dem Acker – Handling großer Datenmengen fordert heraus
Olaf Schultz
Ressort Landtechnik
S
mart Farming ist für die Agrarbranche das, was auf die
gesamte Wirtschaft bezogen
unter dem Begriff „Industrie
4.0” diskutiert wird. Im Kern
geht es darum, unterschiedliche Arbeitsabläufe zu vernetzen, Daten
zu sammeln, auszuwerten, über die
Arbeitskette weiterzugeben und intelligent zu nutzen. Ziel ist es, Maschinenlaufzeiten zu erhöhen, den Arbeitskräfteeinsatz zu reduzieren sowie die Leistung je
Feldarbeitsstunde, Arbeitsqualität und
-komfort des Bedieners zu steigern.
In der Getreideernte beispielsweise
ist es heute schon möglich, den Ablauf
rechnergestützt zu takten. Auch unvor-
hersehbare Ereignisse können mittels
modernster Elektronik und Datenübertragung abgefedert werden. „Intelligenz” entsteht jedoch erst dann, wenn
der vernetzte Maschinenpark in die Lage
versetzt wird, auf wechselnde Szenarien
in Echtzeit reagieren zu können. „Blitzschnelle” Datenströme sind dabei die
Grundvoraussetzung der Landwirtschaft
von morgen. Den Ausbau der Netzinfrastruktur gerade in ländlichen Gebieten
mit Nachdruck zu forcieren, muss dem
Agribusiness insofern ein ganz essenzielles strukturpolitisches Anliegen sein.
Hinzu kommt eine Vernetzung zwischen
Industrie, Wissenschaft und Forschung,
die vielfältige Synergien mit sich bringt
und letztlich den deutschen Herstellern
zugute kommt.
Deutschland mit Wettbewerbsvorteil
Spiegelbild dessen sind Fakten, die für
sich sprechen. Der deutsche Produktionsstandort für Agrarmaschinen kann
sich im europäischen und weltweiten
Wettbewerbsumfeld sehr gut behaupten. Der Umsatzanteil liegt nach Angaben des VDMA Landtechnik bezogen
auf die EU bei 27 Prozent, weltweit bei
8 Prozent. Umsatzbezogen ist die Traktorproduktion Schwerpunkt, mit einem
Anteil von etwa 40 Prozent sowie einer
Fokussierung auf das Leistungssegment
ab 120 PS. An zweiter Stelle folgt die
Erntetechnik, darunter alle selbstfahrenden Maschinen wie Mähdrescher,
Feldhäcksler und Kartoffelroder. Die
Exportquote pendelte in den vergangenen Jahren kontinuierlich zwischen 70
und 75 Prozent.
Deutschland hat hier auf internationalem Parkett einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil zu bieten. Hervorragend
ausgebildete Forscher, Ingenieure und
Mitarbeiter in der hiesigen Landtechnikbranche suchen weltweit ihresgleichen.
Die Herausforderung an Smart Farming
für die Zukunft besteht darin, die Vorteile der facettenreichen praktischen
Anwendung für eine möglichst breite
Anwendergruppe nutzbar zu machen.
Dabei geht es um pragmatische Lösun-
Bei aller Euphorie des Möglichen und
Machbaren darf jedoch die Komplexität
des landwirtschaftlichen Produktionsgeschehens nicht außer Acht gelassen
werden. Technik, die auf Feldern und
in Ställen eine Chance haben soll, muss
robust, anpassungsfähig und vor allem
sicher sein.
gen – unabhängig von den eingesetzten
Maschinen und Betriebsmitteln unterschiedlicher Hersteller als auch von der
Größe der Agrarunternehmen.
Quelle: LAV
Zulassungen von Traktoren*
in Stück
94 472
Mitarbeiter unbedingt einbeziehen
Natürlich ist dieser Weg auch mit Konsequenzen für den Betriebsleiter verbunden. Er muss bewusst in diese Technologien investieren und sie in sein
Unternehmen einführen. Mit ihnen werden bestehende Arbeits- und Entscheidungsprozesse verändert. Das verlangt
vom Betriebsleiter Offenheit und die
Bereitschaft, neue Wege zu beschreiten.
Entscheidend ist, dass die Mitarbeiter
des Betriebs in diesen Prozess mit einbezogen werden.
Die Lösungskonzepte für den Smart-Farming-Ackerbau werden von spezialisierten Anbietern entwickelt. Aber ob diese
Angebote von der Praxis angenommen
werden, entscheidet allein der Landwirt.
Nur, wenn die Entwickler die Bedürfnisse ihrer Kunden kennen, werden sich
die Produkte vermarkten lassen. Nur
wenn Betriebsleiter mit Begeisterung
die neuen Verfahren einsetzen, werden
sich diese auf eine möglichst breite Basis
stellen lassen.
Ost
95 380
75 581
64 325
58 977
58 575
41 098
32 926 31 822
27 393
24 061
28 995
35 977 34 611
1951 1956 1961 1966 1971 1976 1981 1986 1991 1996 2001 2006 2011 2015
*ab 1991 einschließlich Ostdeutschland
Quelle: LAV, VDMA
Bestand an Ackerschleppern/Traktoren in Deutschland
in Stück
1950: 146 000,
2015: 1,4 Mio.
davon „BRD“ 133 000,
„DDR“ 13 000
Quelle: Kraftfahrt-Bundesamt,
Statistisches Bundesamt
26 Landtechnik
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Die digitale Agrarwende
bietet Chancen
V
on Vernetzungsideen ist derzeit viel zu lesen, zu sehen
und zu hören. Vom digitalen
Auto bis zur kognitiv autonomen Fabrik reichen die Bilder von Prototypen und Versuchsanordnungen. In der Landwirtschaft dagegen
sehen wir bereits marktfähige Lösungen.
Und das nicht erst seit gestern. Schließlich
„kommunizieren” Landmaschinen und
Traktoren schon seit vielen Jahren miteinander – markenübergreifend, dank
weltweit gültigem Isobus-Standard.
Was Traktor und Pflug, Häcksler und
Ladewagen miteinander verbindet, ist
hochpräzise Sensorik und intelligente
Software. Und dennoch ist der Blick auf
einzelne Maschinen erst der Anfang, richtet sich die digitale Agrarwende doch auf
eine konsequente Optimierung ganzer
Prozessketten.
Milchviehbetriebe mit Vorreiterrolle
Schon heute vielerorts zu besichtigen
sind effiziente Vernetzungsmodelle in der
Innenwirtschaft. Denkt man an das Herdenmanagement in der Milchviehhaltung,
wo Schrittzähler, Sensortechnik und kluge
Software seit langem für digitalisierte Nutzungsroutinen sorgen, so darf hier sogar
von einer Vorreiterrolle die Rede sein. Einer
Rolle, die in den vor uns liegenden Jahren
auch auf den Ackerbau ausstrahlen und
uns eine umfassende inner- wie überbetriebliche Vernetzung entlang der gesamten Wertschöpfungskette bescheren wird.
Wer vorne bleiben möchte, muss jedoch
frühzeitig die richtigen Weichen stellen.
Denn kein anderer technologischer Paradigmenwechsel der vergangenen Jahrzehnte hatte eine vergleichbare Durchschlagkraft auf bestehende Strukturen,
Anwendungspraxen und Geschäftsmodelle, wie dies für die digitale Wende gilt.
War der agrartechnische Fortschritt bislang geradezu definitionsbedingt maschinengetrieben, so entsteht Innovationsdynamik heute zunehmend mithilfe von
Sensorik, Software und Netzinfrastrukturen. Hier auf lange Sicht nicht nur
anschlussfähig, sondern impulsgebend zu
bleiben, ist der ebenso ambitionierte wie
klar formulierte Anspruch der Agrartechnikindustrie in Deutschland und Europa.
Ohne verlässliche politische Signale
lässt er sich allerdings kaum einlösen.
Nimmt man etwa den von der Bundesregierung vollmundig angekündigten,
aber nach wie vor unvollendeten Ausbau der Breitbandnetze in den Blick, so
wird deutlich, dass noch einiges zu tun
ist: Einerseits müssen die noch viel zu
zahlreichen „weißen Flecken” auf der
digitalen Landkarte in kürzester Zeit
getilgt werden. Andererseits genügen
die avisierten Netzgeschwindigkeiten
nicht einmal ansatzweise, um im digitalen Wettbewerb von morgen erfolgreich
bestehen zu können. Denn das erklärte
Ziel der Bundesregierung, bis zum Jahr
2018 Übertragungsgeschwindigkeiten
von 50 Megabit pro Sekunde flächende-
ckend zum Standard zu machen, wird für
professionelle Anwendungen in Industrie und Landwirtschaft kaum ausreichen.
Stresstest für Breitbandnetze
Daher gilt es, darauf hinzuarbeiten, den
Übergang zum neuen Mobilfunkstandard
5G deutlich zügiger zu realisieren, als dies
seinerzeit beim Übergang von UMTS zu
LTE der Fall war. Der ländliche Raum darf
nicht weiter als „fünftes Rad am Wagen”
vernachlässigt werden. Ein professionell
angelegter Stresstest unter Einbeziehung
der zukünftigen industriellen Internetlast ist aus VDMA-Sicht daher unerlässlich, um Klarheit über den tatsächlichen
Handlungsbedarf zu erlangen.
Soll Vernetzung effektiv gelingen, so reichen technische Bemühungen jedoch
nicht aus. Auch politische und rechtliche Faktoren müssen Berücksichtigung
finden. Werden Daten als „das neue Öl”
begriffen, darf man allerdings nicht den
Blick auf personenbezogene Daten verengen, wie sie auf der Ebene des Verbraucherschutzes relevant sind. Ebenso wichtig, bisher aber kaum beachtet,
ist die Ebene der Unternehmensdaten,
die als operative Prozessdaten wie auch
als Maschinendaten vorliegen. Politisch
muss daher eine rechtssichere Kategorie
geschaffen werden, die Dateneigentum
von Wirtschaftsakteuren schützt und
Verstöße dagegen ahndungsfähig macht.
Nachhaltige Investitionsanreize werden
nämlich nur dann geschaffen, wenn
Unternehmer darauf vertrauen können,
dass ihr Eigentum an Geschäfts- und Prozesswissen geschützt ist – im täglichen
Geschäft mit Lieferanten und Kunden, bei
Internet-, Cloud- und Plattformanbietern
und gegen unberechtigten oder kriminellen Zugriff. Grundsätzliches Ziel muss es
deshalb sein, wirksame Kontrollmechanismen zu etablieren, die den Datenaustausch bestmöglich absichern.
Um Innovationsfähigkeit zu erhalten,
bedarf es aber auch gewisser Freiräume.
Gesetzliche Schranken, die neue Ideen
bereits im Keim ersticken, schaden letztlich dem Technologie- und Wirtschaftsstandort Deutschland und Europa mehr,
als sie ihm nutzen. Regulierung darf nicht
überhandnehmen. Denn was sich künftig
als Kundennutzen erweisen kann, muss
nicht zwangsläufig schon heute als solcher erkennbar sein. Insofern gilt es, die
digitale Agrarwende ganz bewusst durch
die Chancenbrille zu betrachten, um Lust
auf Zukunft und neue Geschäftsmodelle
zu entfachen.
Dialogplattform Landwirtschaft 4.0
Mithilfe einer schlagkräftigen, unter der
Schirmherrschaft des Bundeslandwirtschaftsministeriums stehenden „Dialogplattform Landwirtschaft 4.0” möchten
wir die Chance nutzen, mit innovativen
Partnern aus Industrie, Wissenschaft
und landwirtschaftlicher Praxis die richtigen Leitlinien für eine vernünftige Digitalisierungsstrategie auszuloten, die das
Foto: VDMA
Gastkommentar Dr. Bernd Scherer, Geschäftsführer VDMA Landtechnik, Frankfurt a. M.
Agribusiness insgesamt voranbringt. Ein
nachhaltiger Ansatz, der sich gleich in
mehrfacher Hinsicht auszahlen wird:
Erstens durch mehr Wirtschaftlichkeit
im Gesamtprozess – dank präzise aufeinander abgestimmter Arbeitsschritte,
die automatisiert, das heißt vollständig rechnergestützt, dokumentiert und
damit quantifizierbar werden. Zweitens
durch eine bessere Ökobilanz – dank
umweltgerechter Produktionsweisen.
Und drittens durch mehr Transparenz
für den Endverbraucher und wachsende
Anerkennung für den Erzeuger – dank
Rückverfolgbarkeit und Klarheit über
Herkunft, Produktionswege und Qualitätsniveau von Rohstoffen und Lebensmitteln.
Anwender handlungsfähig machen
Wollen wir die digitale Wende erfolgreich
stemmen, müssen zuallererst stimmige
Rahmenbedingungen geschaffen werden, die den Anwender vor Ort im Wortsinne „handlungsfähig” machen.
So klar uns all das in der Theorie auch
sein mag, so sehr müssen wir endlich
auch praktisch damit beginnen, tragfähige digitale Infrastrukturen zu schaffen.
Ohne Breitbandnetze, die diesen Namen
auch verdient haben, ohne klare Nutzenargumentation, ohne das Wissen darum,
alle relevanten Akteure miteinander in
einen offenen Dialog bringen zu müssen, wird das Projekt „Landwirtschaft
4.0” eine bloße Idee bleiben. Hier gilt es
anzusetzen, branchengemeinsam – mit
vereinten Kräften!
Zur Person
Bernd Scherer, Jahrgang 1956, hat in
Bonn ein Studium der Agrarwissenschaften, Fachrichtung Agrarökonomie,
absolviert. Anschließend war er bei der
AFC-Unternehmensberatung in Bonn
tätig. Seit 1992 ist Scherer Geschäftsführer des VDMA Landtechnik und seit
1999 Mitglied der Hauptgeschäftsführung des VDMA in Frankfurt am Main. Sz
Messe zeigt Innovationspotenzial
Agritechnica blickt auf 30 Jahre zurück – Von der Wanderausstellung zur Nummer 1
W
as 1985 in einem eher
bescheidenen Rahmen
begann, präsentiert sich
heute als globaler Innovationsmotor rund um
Landmaschinen. Alle zwei Jahre wird
Niedersachsens Landeshauptstadt zum
Treffpunkt der weltgrößten Leistungsschau ihrer Art.
Am Anfang war es eine, wenngleich
wohlbegründete, Hoffnung. „Ausländische Messen, die in vergleichbarer
Weise auf Agrartechnik spezialisiert
sind, brauchten mehr als zehn Jahre,
um nachhaltig 70 000 Besucher zu mobilisieren”, meldete die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG) 1985 im
Vorfeld der ersten Agritechnica.
Prognose lag daneben
Mit ihrer Prognose hatte die DLG sich verschätzt und dürfte darüber nicht sonderlich verärgert gewesen sein. Zur Premiere Ende November 1985 in Frankfurt am
Main kamen rund 125 000 Besucher. Die
Messe war vom Start weg ein Innovationsmotor, dessen Kraft bis heute beeindruckt.
Für die DLG als Veranstalter stellte der
erfolgreiche Auftakt ein „Geburtstagsgeschenk” der besonderen Art dar: Das
Debüt fand im 100. Jubiläumsjahr der
Fachorganisation statt. Die erste Agritechnica verzeichnete 551 Aussteller
aus 25 Ländern. Der Auslandsanteil
erreichte ein gutes Drittel. Damit hatte
die DLG eines ihrer wichtigsten Ziele,
„eine international gut beschickte Fachausstellung”, erreicht.
Vier Jahre zuvor hatte die DLG die vorerst
namenlose Messe als „Fachausstellung für
Agrartechnik mit Zubehör und Ersatzteilwesen” angekündigt. Das inhaltliche Profil setzte von Beginn auf einen deutlichen
Akzent in der Außenwirtschaft. Technik
für die Tierhaltung, betonte die DLG 1985
in einer Pressemeldung, „ist auf der Agritechnica nur in geringem Umfang vertreten”. Damit nahm die DLG den inzwischen
seit Dekaden gelebten jährlichen Wechsel
zwischen Agritechnica und der Eurotier
vorweg.
Der Start der Agritechnica markierte den
Schlusspunkt einer rund hundertjähri-
gen Tradition. Im Jahr 1986 fand in München die letzte DLG-Wanderausstellung
statt. Deren Ende war spätestens mit
dem erfolgreichen Auftakt der spezialisierten Landtechnik-Messe besiegelt.
Die nach internationalen Märkten strebende Landtechnik-Industrie bemängelte die hohen Streuverluste der klassischen Wanderausstellungen. Neu war
die Diskussion nicht, doch die Intensität,
mit der sie geführt wurde, nahm Anfang
der 1980er Jahre an Intensität zu. Es gab
bereits erste grobe Konzepte. Über den
Zeitplan musste man sich noch einigen.
Es ging schneller als erwartet.
VDMA mit im Boot
Da Reibung immer Energie freisetzt,
können die Diskussionen zwischen dem
damaligen Landmaschinen- und Ackerschlepperverband (LAV) und der DLG
durchaus als „energiereich” bezeichnet
werden. Der LAV, heute „VDMA Landtechnik”, entwickelte gemeinsam mit
der DLG einen klar definierten Rahmen.
So war es das Ziel des LAV, die Exportchancen der deutschen Landtechnik-Industrie zu sichern. Als Zielgruppen
kristallisierten sich der internationale
Landhandel und, mit der DLG als Partner, die führenden Landwirte heraus.
Für Letztgenannte folgte auf die „Region Europa” bald der weltweite Ansatz.
Der Veranstaltungszeitpunkt der „Erstausgabe Agritechnica” im November war klug
gewählt: vor den Landmaschinenmessen
in London und Paris sowie kurz nach der
Ausstellung in Bologna. Reisende aus
Übersee konnten sich quasi in einem
Trip den Überblick aller Veranstaltungen
verschaffen. DLG und LAV hatten frühzeitig Frankfurt am Main als Standort für die
neue Messe auserkoren.
Im Jahr 1987 ging die Agritechnica in die
zweite Runde. Wiederum zeigten sich
die Veranstalter hocherfreut und ein
wenig verblüfft über die bemerkenswerten Zuwachsraten. Insgesamt 20
Prozent mehr Aussteller und rund ein
Drittel mehr Besucher. Im gleichen Jahr
wurde erstmals ein „Exklusivtag für den
Fachbesucher” vorgeschaltet, um Vertriebspartnern und Handel eine eigene
Plattform zu bieten.
Seit 1987 ist der Max-Eyth-Abend das
Eröffnungsevent der Agritechnica. Als
Treffpunkt der Internationalen der
Fach-Community hat der Abend seine
Anziehungskraft kontinuierlich gesteigert. Inhaltlich richtungsweisend und
vom Rahmen festlich ist das Ereignis
unter Ausstellern und Besuchern weltweit ein Begriff.
Wer sich mit der Geschichte der Agritechnica beschäftigt, darf nicht außer
Acht lassen, welche gesamtpolitische
Wetterlage zu deren Anfängen herrschte. West und Ost standen sich militärisch aufgerüstet in weltanschaulich
grundverschiedenen Lagern gegenüber.
Deutschland war geteilt und das Thema
Wiedervereinigung verschwand zunehmend aus der politischen Diskussion.
Das änderte sich schlagartig zur dritten
Agritechnica vom 28. November bis 2.
Dezember 1989. Wenige Tage vorher
war die Mauer gefallen und das Jahrhundertereignis erfasste die Messe. So
erhielten alle Besucher aus der DDR
kostenlosen Eintritt, einschließlich freier Verpflegung an einem eigens dafür
eingerichteten Stand.
Wechsel nach Hannover
Die Umbrüche hierzulande und weltweit beförderten die Standortfrage der
Agritechnica, deren Antwort sich bald
abzeichnete: Hannover. Qualität und
Größe des Messegeländes entsprachen
den neuen Anforderungen mit künftig
deutlich mehr Besuchern aus Gesamtdeutschland und den Ländern hinter
dem ehemals Eisernen Vorhang. International hervorragend angebunden und
mit einer erstklassigen Infrastruktur im
Umfeld der Messe ausgestattet, trägt
der 1995 erfolgte Wechsel von Frankfurt nach Hannover bis heute Früchte.
Wenn die Agritechnica selbstbewusst
als „The World’s Number One” firmiert,
so ist dieser Erfolg eng mit dem Standort
Hannover verbunden.
Kennzeichnend ist laut Freya von
Czettritz, Projektleiterin Agritechnica,
die Kombination aus Innovationen und
hochkarätigem Fachprogramm. Das
macht die Agritechnica zum wichtigsten Zukunftsforum der Agrarbranche. az
Landtechnik 27
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Rote Roder aus
Niedersachsen erobern
Chinas Felder
W
enn in diesem Herbst
im Nordosten Chinas die
Kartoffelernte beginnt,
werden wieder ein paar
mehr der roten Roder
von Grimme über die Felder rollen als
im vergangenen Jahr. Der Weltmarktführer aus Damme hat den chinesischen
Markt fest in den Blick genommen und
hofft, dort langfristig eine feste Größe
zu werden. Für den Aufbau des neuen
Tochterunternehmens ist ein 28-jähriger
Wirtschaftsingenieur aus Niedersachsen
verantwortlich: Christoph Grimme, ältester Sohn von Franz Grimme, der seit mehr
als 35 Jahren die Geschicke des Unternehmens leitet.
Vom Reich der Mitte fasziniert
Nach einem Dualen Bachelor-Studium,
fünf Jahren bei Claas und einem MasterStudium an der TU Hamburg kehrte der
Sohn Anfang 2016 wieder in den elterlichen Betrieb zurück und musste schon
bald die Verantwortung für das China-Engagement übernehmen. Sein Vater ist seit
Jahren von China fasziniert. Bei Reisen
ins Land beeindruckten ihn die Dynamik
und die Schnelligkeit, in der sich die Wirtschaft dort entwickelt.
China ist mit einer Anbaufläche von rund
5 Millionen Hektar der größte Kartoffelproduzent der Welt und deshalb für ein
weltweit tätiges Unternehmen wie Grimme ein logischer Markt. Seit 2001 werden
Maschinen nach China exportiert. Erste
Überlegungen, mit einem chinesischen
Partner in einem Joint Venture zusammenzuarbeiten, zerschlugen sich vor
einigen Jahren. Schließlich wurde ein
eigenes Tochterunternehmen gegründet. Die Geschäfte führt ein Niederländer, der seit vielen Jahren in China lebt
und die Verhältnisse vor Ort gut kennt.
Die Gesamtverantwortung für das Projekt und vor allem für die Zusammenarbeit mit dem Stammsitz in Damme trägt
Christoph Grimme. Jeden Monat fliegt er
mindestens einmal nach China. Schnell
hat er gelernt, dass für den Erfolg des
Projekts Offenheit für die chinesische
Kultur entscheidend ist. „Man muss
die chinesische Mentalität verstehen”,
erzählt Christoph Grimme. So könnten
Vorschläge zur Optimierung der Kartoffelproduktion von den Landwirten
schnell als anmaßende Kritik missverstanden werden.
Völlig neue Konzepte muss Grimme beim
Vertrieb entwickeln. Viele chinesische
Landmaschinenhändler sehen sich vor
allem als Vermarkter von Schleppern.
Den Verkauf von Anbaugeräten verstehen
sie eher als Nebengeschäft und zusätzlichen Service. Deshalb werden bei den
Händlern oft alle Marken angeboten.
Exklusive Partnerschaften sind dagegen
selten. Will man in China Maschinen verkaufen, reiche es deshalb nicht aus, ein
Händlernetz aufzubauen, erzählt Christoph Grimme. Den meisten Händlern ist
es egal, ob sie dem Landwirt eine Grimme-Maschine oder die eines chinesischen
Herstellers verkaufen, hat er festgestellt.
Für das Marketing bedeute das: „Wir müssen uns direkt an den Landwirt wenden.”
Die potenzielle Kundschaft sieht Christoph Grimme dreigeteilt. „Eine noch
relativ kleine Anzahl von Großbetrieben
arbeitet hochprofessionell mit modernster Technik, und hier haben wir exklusive
Händler, die Grimme-Premium-Partner”,
sagt er. Diese Betriebe sieht Grimme als
Kunden für die großen Kartoffelerntemaschinen, für Legetechnik sowie für
Technik zum Ein- und Auslagern der
Kartoffeln. Viele dieser Agrarbetriebe
produzieren Verarbeitungskartoffeln für
die Chips- oder Pommes-Herstellung und
müssen deshalb hohe Qualitätsanforderungen erfüllen.
Viele heimische Mitbewerber
Unterhalb dieser Spitzenbetriebe gibt es
ein breites mittleres Segment mit einem
Flächenanteil von 1,7 bis 2 Millionen
Hektar. Diese Landwirte setzen bisher
vor allem chinesische Technik ein, die
von einer Vielzahl von Herstellern angeboten wird. Von den einheimischen
Mitbewerbern spricht Christoph Grimme mit Respekt. Zwar ärgert er sich auch
über Plagiate und Nachbauten. Aber
manchmal würden die chinesischen
Ingenieure beim Kopieren sogar kleine
Verbesserungen an den Grimme-Maschinen vornehmen, erzählt er mit einem
Schmunzeln.
Seit den ersten Exporten vor 15 Jahren
habe man auf dem chinesischen Markt
Die Grimme-Geschäftsführer auf einen Blick
(v.l.n.r.): Sebastian Talg
(Vertrieb), Christoph
Grimme (Prokurist), Henk
Gövert (kaufmännischer
Bereich), Richard Weiß
(Produktion) und Carsten
Seelke (Entwicklung).
Familienunternehmen mit langer Tradition
Das 1861 gegründete Familienunternehmen Grimme aus Damme in Niedersachsen ist in den vergangenen Jahren stark
gewachsen und mittlerweile in 120 Ländern weltweit aktiv. Zwölf Vertriebs- und
Servicegesellschaften sowie die Firmen
Spudnik (USA), ASA-LIFT (Gemüse/Dänemark), Kleine (Zuckerrüben/Salzkotten)
und Internorm Kunststofftechnik zählen
neben der Landmaschinenfabrik zur Grimme-Gruppe. Insgesamt sind über 2 000
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der
Firmengruppe beschäftigt, davon etwa
1 500 in Deutschland.
Die Grimme-Technik wird an zwei Produktionsstandorten in Niedersachsen gefertigt. Im Stammwerk Damme werden alle
Maschinen bis auf Selbstfahrer produziert.
Im 12 Kilometer entfernten Rieste ist 2012
auf einem 24 Hektar großen Areal ein
neues Werk eröffnet worden, in dem alle
Selbstfahrer sowie Sieb- und Förderbänder
hergestellt werden.
Grimme ist Weltmarktführer für Kartoffeltechnik und produziert Maschinen für den
gesamten Kartoffelanbau von der Bodenbearbeitung bis zur Lagerung der Knollen.
Jährlich stellt die Firma rund 5 000 Kartoffelmaschinen her, über 80 Prozent davon
gehen ins Ausland. In den vergangenen
Jahren verstärkte das Unternehmen sein
Engagement in den Segmenten Zuckerrübe
und Gemüse. Im Jahr 2012 übernahm die
Grimme-Gruppe den Rübentechnikhersteller Kleine aus Salzkotten (Westfalen), ein
Jahr später die Mehrheit an dem dänischen
Gemüsetechnikhersteller ASA-LIFT. Durch
die Akquisitionen und organisches Wachstum hat sich der Umsatz in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt. Im
Jahr 2015 erzielte die Gruppe einen Umsatz
von 355 Millionen Euro.
SB
einige Erfahrungen machen können,
ergänzt sein Vater. Schnell stellte sich
heraus, dass die Maschinenkäufer dort
anspruchsvolle Kunden sind. Mit technisch abgespeckten Maschinenversionen
könne in China auch der Unmut der Kunden hervorrufen werden. So wurde einmal an einer Legemaschine die hydraulische Steuerung des Furchenziehers durch
einen Seilzug ersetzt, was bei den Kunden
nicht gut angekommen sei. Neben den
bereits mechanisierten Betrieben gibt
es noch eine große Anzahl von Kleinbauern, die auf insgesamt rund 2,5 Millionen
Hektar Kartoffeln anbauen und mit Hacke
und Forke arbeiten. In den kommenden
Jahren erwartet Christoph Grimme hier
einen Strukturwandel und ein größeres
Interesse an einer Mechanisierung. Auch
für diese Landwirte soll in Zukunft in China produziert werden.
Investition in neues Werk
120 Kilometer südöstlich von Peking hat
Grimme 13 Millionen Euro in ein neues Werk investiert, in dem Maschinen
für den chinesischen Markt produziert
werden. Die Bauteile kauft Grimme im
Wesentlichen bei chinesischen Unternehmen, einige Komponenten kommen aus dem Stammwerk in Damme.
Die Pläne für die Maschinen liefern bisher noch die Konstrukteure in Damme.
„Wir stellen in China Maschinen für den
dortigen Markt her und müssen deshalb
die Wünsche unserer chinesischen Kunden berücksichtigen”, betont Christoph
Grimme. Eine seiner wichtigsten Aufgaben sieht er deshalb darin, die Kommunikation zwischen Peking und Damme zu
verbessern. Anregungen sollen schneller
umgesetzt werden und das gegenseitige
Verständnis wachsen. High-Tech-Maschinen werden weiter in Deutschland produziert und nach China exportiert.
„Beim Aufbau der Produktion in China
helfen uns die Erfahrungen mit unserer
Tochter Spudnik”, ergänzt Franz Grimme.
Spudnik ist mit einem Anteil von mehr als
50 Prozent Kartoffeltechnik-Marktführer in den USA und wurde im Jahr 2003
von Grimme übernommen. Das Maschinen-Programm von Spudnik wurde seitdem komplett überarbeitet, unterscheidet sich aber weiterhin stark von den für
den europäischen Markt entwickelten
Produkten. Riesige zwölfreihige Legemaschinen und vierreihige Erntemaschinen
gehören zum Spudnik-Programm. Weil
der Straßentransport großer Maschinen in den USA erlaubt ist, fahren dort
mehr als sechs Meter breite vierreihige Roder über die Felder und Straßen.
„Nach einigen Jahren der sehr intensiven
Zusammenarbeit wird Spudnik inzwischen eine große Selbstständigkeit eingeräumt”, berichtet Franz Grimme.
Hoch interessant bleibt für Grimme
auch der russische Markt – trotz der
aktuellen politischen Probleme. Seit
acht Jahren montiert die Firma 200
Kilometer südwestlich von Moskau in
Kaluga Maschinen. Doch niedrige Kartoffelpreise, die Wirtschaftskrise und
der Wertverfall des Rubels haben das
Geschäft zuletzt belastet. Franz Grimme
hofft, dass sich die politischen Beziehungen zu Russland bald normalisieren
und es dann auch wirtschaftlich wieder
aufwärts geht. Der Status eines „vaterländischen Herstellers” werde kurzfristig nicht angestrebt. „Aber auf Dauer
müssen wir da ran”, ist sich Franz Grimme sicher. Haupthindernis sei bisher
die oft unzureichende Qualität von in
Russland produzierten Bauteilen. Gute
und verlässliche Zulieferer zu finden, sei
deshalb eine große Herausforderung.
Neben Europa, Russland, China und den
USA blickt Grimme mit einem Auge auch
schon auf den indischen Markt. „Irgendwann müssen wir auch dort vor Ort sein”,
meint Franz Grimme. Denn dann wäre
der Weltmarktführer in allen wichtigen
Fotos: Grimme
Grimme baut seine weltweit führende Stellung mit einem neuen Werk bei Peking aus.
Für erfolgreiche Geschäfte müssen die Mitarbeiter die Mentalität der Kunden verstehen.
Der Kartoffelanbau ist im Reich der Mitte noch nicht vollständig mechanisiert und bietet deshalb für Grimme ein großes Absatzpotenzial.
Kartoffelanbaugebieten vertreten. Aktuell seien direkte Investitionen in Indien
aber kein Thema, bremst Sohn Christoph.
„Ob Russland, China, Indien oder die USA
– eines haben alle Exportmärkte gemeinsam”, stellt Franz Grimme fest. Wer erfolgreich sein will, müsse die Mentalität der
Menschen verstehen und sich darauf
einstellen. Dabei sei Geduld gefragt. Der
Traum von Franz Grimme ist, dass sich
die Töchter als weitgehend autark operierende Unternehmen in ihren Märkten
etablieren.
Seine beiden Söhne Christoph und Phillip sollen diesen Traum verwirklichen
und das Unternehmen in der 5. Generation weiterführen. Der 26-jährige Phillip
sammelt zurzeit beim Landtechnikkonzern Agco im südlichen Afrika internationale Erfahrungen. Geplant ist, dass er
in drei Jahren in den elterlichen Betrieb
zurückkehrt.
Väterliche Präsenz zahlt sich aus
An seinen ältesten Sohn Christoph hat
Franz Grimme bereits einen Teil der Verantwortung abgegeben. In der Geschäftsführung der Grimme Landmaschinenfabrik hat der Vater den Platz für seinen
Sohn frei gemacht. Als geschäftsführender Gesellschafter der Grimme-Gruppe wird ihm Vater Franz dabei über die
Schulter schauen und auch den einen
oder anderen Ratschlag geben. „Ob er
den Rat dann annimmt, ist seine Sache”,
fügt Franz Grimme hinzu und blickt schelmisch lächelnd zu seinem Sohn.
In die Lage seines Sohnes kann sich der
Vater gut hineinversetzen, denn er war
in einer ähnlichen Situation. „Mein Vater
ist 84 Jahre alt geworden und war bis zum
Schluss fast jeden Tag im Werk”, erinnert
er sich. Geschadet hat die väterliche Präsenz der Firma offenbar nicht, denn Grimme hat eine kaum für möglich gehaltene
Entwicklung genommen. Franz Grimme
ist froh, dass er mit 70 Jahren nun etwas
kürzer treten kann. Er verbringt weniger
Zeit im Büro, besucht Kunden, um zu
hören, welche Wünsche und Ansprüche
sie haben. Wenn die Sonne scheint und
der Terminkalender es zulässt, zieht er
sich die Gummistiefel über und fährt in
sein Jagdrevier. Bei den Spaziergängen im
Moor zwischen Damme und dem Dümmer See hat er einen weiten Blick über
das Norddeutsche Tiefland. Sein Blick auf
das Unternehmen sei in den vergangenen
Jahren eher enger als weiter geworden,
gibt er zu. Auch deshalb ist er froh, dass
seine Söhne den Staffelstab übernehmen.
SB
28 Landtechnik
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Die mobile Nutzung des Internets an jedem Ort, zu jeder Zeit durchbricht Grenzen der Entwicklungsmöglichkeiten
in der Landtechnikindustrie. Die Schlüsselmaschine des Mähdrusches profitiert von diesen Trends.
Assistenten übernehmen
Durch die technischen Möglichkeiten –
Sensoren werden kleiner, leistungsfähiger und preiswerter – in Kombination mit
den Möglichkeiten des Datenaustausches
im Internet werden immer mehr Assistenzsysteme im Mähdrescher einziehen.
Mähdrescher bekommen zusätzliche
„Techno-Augen, -Ohren und -Fühler”;
Assistenten übernehmen Tätigkeiten, die
sie einfach besser können als der Mensch.
Lenkautomaten halten die Maschinen
auf Kurs, Durchsatzassistenten regeln
die Fahrgeschwindigkeit und Einstellautomaten reagieren selbstständig auf
Bestand, Durchsatz, Verluste, Hangneigung und anderes mehr. Die vielen Einzellösungen werden zu einer autonomen
Maschine verschmelzen.
Derzeit wird noch spekuliert, ob unsere
Felder zukünftig von riesigen Kolossen
oder eher von vielen Zwergen beerntet
werden. Auf die äußere Hülle kommt es
gar nicht an. Wichtiger ist vielmehr die
sogenannte „Schwarmintelligenz”, die
Vernetzung der Maschinen untereinander und deren Datenaustausch. So ist es
nur folgerichtig, dass wir nicht nur uns
selbst, sondern auch unsere Geräte und
Maschinen untereinander vernetzen und
eine Maschine-zu-Maschine-Kommunikation – kurz M2M – herstellen. Im Internet der Dinge, wo alles mit allem verbunden ist, kommunizieren diese drahtlos
miteinander. So wie eine Kaffeemaschine automatisch Bohnen nachbestellen
kann, wenn der Vorrat zu Ende geht oder
der Stromzähler nicht mehr abgelesen
wird, weil der Verbrauch direkt an das
Elektrizitätswerk gesendet wird, rufen
Mähdrescher das Abfuhrfahrzeug herbei,
wenn der Bunker voll ist.
So bilden sich aus bisher separaten
Maschinen erste kleine Kooperationseinheiten und optimieren im permanenten Datenaustausch ihren Arbeitskreis,
zum Beispiel die „Kornübergabe”. Diese
Arbeitskreise werden sich ausweiten und
immer mehr Prozesse aus der beteiligten
Umgebung einbeziehen. Ein Mähdrescher wird zum Dirigenten und Mitspieler. Er wird an die Läger melden , was, wie
viel und in welcher Qualität sowie Feuchte kommen wird und so für ein besseres
Management im Lager sorgen. Andersherum wird der Mähdrescher über GPS
informiert, auf welchem Feld er gerade
ist. Aus der Schlagkartei „weiß” er, welche
Frucht geerntet wird, aus den Scannerdaten des N-Sensors kennt er bereits die
Entwicklungsunterschiede des Bestandes, er ist informiert, ob Saatgut, Brot oder
Futter als Verwendungszweck geplant
ist. Mit den einfließenden Informationen
und seinen eigenen zahlreichen Sensoren wird er die Druscharbeit optimieren. So werden die heute noch separat
laufenden Arbeitskreise mehr und mehr
zusammenfließen und vom gegenseitigen Datenaustausch profitieren.
Neue Berufsbilder entstehen
Natürlich macht das Internet noch keine
Ernte, aber es ist die Voraussetzung für die
zukünftige Entwicklungsrichtung und für
die Cloud, die sogenannte „Datenwolke”,
in die wir alle Informationen „hineinschießen” und auch wieder anfordern können.
Die Möglichkeiten der Vernetzung in der
Cloud untereinander lassen autonome
Mähdrescher in nahe Zukunft rücken.
In der Automobilbranche zum Beispiel
rechnet das Deutsche Forschungszen-
trum für Künstliche Intelligenz (DFKI)
damit, dass in 25 Jahren bis zu 75 Prozent
aller Autos autonom fahren. Das werden
Mähdrescher auf dem Feld in kürzerer
Zeit schaffen. Sie werden selbst lenken,
bremsen und beschleunigen, die Einstellung der Arbeitsorgane am Bestand
anpassen, die Kornübergabe auf Abfuhrfahrzeuge „selbst in die Hand nehmen”,
energiesparend fahren, anschneiden, um
nur einige Aspekte zu nennen.
Mit der Zulassung autonomer Fahrzeuge
rechnet das DFKI im Jahre 2025. Ein Zwischenschritt dorthin könnte das ferngesteuerte Fahrzeug sein. Die Vision, dass
der Betriebsleiter am Bildschirm sitzt
und seine Arbeitsmaschinen auf das Feld
geleitet, ist nicht mehr abwegig.
Den klassischen Lohnunternehmer gibt
es dann vielleicht nicht mehr, sondern
nur noch den Flottenbesitzer. Profilierte
Fahrer werden nicht mehr benötigt, denn
der autonome Mähdrescher beherrscht
das Druschgeschäft mittlerweile besser.
Der Betrieb setzt seinerseits einen Beifahrer als „Gouvernante” auf den Mähdrescher. Das verändert auch das Berufsbild
der Fahrer, die den Mähdrescher und die
Kornübergabe zwar überwachen, aber
eigentlich die Kabine als mobiles Büro
benutzen und mit anderen wertschöpfenden Tätigkeiten beschäftigt sind. Tritt
eine Havarie auf und der Beifahrer muss
übernehmen, stehen ihm Helfer aus dem
Die Maschinen der Zukunft sind vernetzt und autonom unterwegs.
Internet der Dinge zur Seite. Ein technischer Schaden wird automatisch an den
Servicestützpunkt gemeldet, der über
Ferndiagnose weiß, was passiert ist. Im
besten Fall kann über Fernwartung geholfen werden oder es muss der Servicetechniker vor Ort. Fällt ein Assistenzsystem
aus, zum Beispiel die automatische Lenkung, kann Hilfe aus der Cloud oder dem
Appstore angefordert werden. Wir dürfen
gespannt sein, wie dies die Arbeitswelt
und das Miteinander verändert.
Combine-sharing denkbar
Wenn in 25 Jahren autonome Mähdrescher in der Flur und auf den Straßen
unterwegs sein können, werden Veränderungen zum Besitz- und Nutzungsverhalten erwartet. Beispielsweise wird
sich dann die Frage nach der Investition
in eigene Druschkapazitäten stellen. Das
könnte das gesamte Geschäft der Erntedienstleistungen verändern. Wie in einer
regionalen Cloud zirkulieren die Mähdrescher durch die Region und werden
dort eingesetzt, wo sie gerade gebraucht
werden. Das steigert die Auslastung und
senkt die Kosten.
Eine Flotte autonomer Taxis könnte
einer Studie zufolge den Pkw-Bestand in
Deutschland um 90 Prozent reduzieren.
Eine Studie zu combine-sharing auf autonomem Niveau existiert noch nicht, aber
mögliche Konsequenzen liegen auf der
Hand. Bei der Entwicklung von einem möglichen combine-sharing muss die Industrie
neue Märkte im Bereich der Mobilität und
Dienstleistungen erschließen.
Verteilungskampf um Datenschätze
Daten und Informationen sind ein enormer Fundus. Doch wem gehören sie, wer
darf sie sammeln, analysieren, auswerten
und Dienstleistungen, Apps oder neue
Geschäftsmodelle darauf gründen? Die
ungeheure Tragweite der Möglichkeiten haben mittlerweile alle begriffen.
Noch haben die Landmaschinenhersteller die Hand auf den Daten und können in
geschlossenen Systemen ungestört ihre
hauseigenen Dienste andienen. Aber das
Einfalltor ist groß.
Fallen Assistenzsysteme aus, kann der
Nutzer immer noch „selbst übernehmen”.
Komplex vernetzte, autonome Landmaschinen haben dagegen eine kritische
Infrastruktur. Abgerissene Funkverbindungen, falsch interpretierte Signale,
Systemausfälle und selbst gewöhnliche
Naturphänomene werden zur Gefahr
mit Dominoeffekt für die gesamte beteiligte Kette. Viele neue Risiken lauern auf
dem Weg in eine vollvernetzte, autonome
Welt. Man muss sie rechtzeitig erkennen,
vorsorgen und mit dem Restrisiko leben
lernen.
Dr. Andrea und Franz Feiffer,
feiffer consult, Sondershausen
Ein langer Weg vom Super zum Lexion
Claas auf Erfolgskurs mit dem Mähdrescher
Die Geburtsstunde des europäischen Mähdreschers schlug bereits vor dem 2. Weltkrieg. Doch erst im Sommer 1946 konnte
Claas eine moderne, noch in den Kriegsjahren entwickelte Maschine auch produzieren:
Der „Super“ startete auf deutschen und auf
englischen Getreidefeldern. Die Briten hatten in ihrer Besatzungszone nach neuzeitlicher Erntetechnik für ihr Land gesucht und
waren bei Claas fündig geworden.
Der „Super“ war „die“ Erfolgsmaschine
des Unternehmens. Mit diesem gezogenen Mähdrescher wurde der entscheidende Entwicklungsschritt vom Quer- zum
Quer-Längsfluss-System vollzogen. Damit
wird die Verarbeitungsrichtung des Ernteguts in der Maschine beschrieben. Die neue
Bauweise ermöglichte längere Schüttler und
erhöhte damit die Ernteleistung deutlich.
Claas fertigte die Super-Baureihen bis 1978
– in einer Stückzahl von insgesamt 65 000
Exemplaren.
Der gezogene Claas-Super wurde von 1946 bis 1978 gefertigt.
Die Maschine aus dem Baukasten
Den ersten selbstfahrenden Mähdrescher
– mit einem eigenen Motor – brachte Claas
1953 auf den Markt. Der Selbstfahrer SF
ermöglichte es den Bauern, ihre Traktoren
anderweitig einzusetzen, da diese zum Ziehen der Mähdrescher nicht mehr benötigt
wurden.
Der „Europa“ wurde 1957/58 entwickelt.
Ein Jahr später folgte der „Columbus“, der
eine etwas geringere Motorleistung, kürzere
Schüttler und ein schmaleres Schneidwerk
hatte als sein Vorgänger. Der Erfolg dieser
beiden Typen führte zum Bau des „Mercur“,
der die Leistungslücke zwischen Europa
und Matador schloss. 1967 wurde er vom
„Consul“ abgelöst, dem ersten Claas-Mähdrescher mit selbsttragender Karosse.
Der verstärkte Anbau von Mais sorgte Ende
der 1960er Jahre für eine Neuentwicklung
im Hause Claas, die nicht nur maistauglich,
sondern auch containerfähig war: der „Dominator“. 1970 vorgestellt, verfügt er über eine
selbsttragende, geschweißte Karosserie. Die
Modulbauweise ermöglichte zum einen die
Vormontage und zum anderen den Versand
von einzelnen Komponenten nach Übersee,
die vor Ort beim Empfänger zusammengesetzt werden konnten.
Die Leistungsfähigkeit herkömmlicher Schüttlersysteme galt in den 1970er Jahren als ausgereizt. Die Frage nach neuen Verfahren, die
besonders unter den schwierigen europäischen Erntebedingungen bessere Ergebnis-
Fotos: Claas
Z
ukünftig werden sich Mähdrescher immer mehr angleichen
durch globale Technologie-,
Entwicklungs- und Produktionsstrukturen. Es gibt heute
keine „schlechten” Maschinen mehr.
Die Unterschiede zwischen den Marken
finden neben Produktsicherheit und
Service immer stärker über die Effizienz
durch Intelligenz statt: Wer unterstützt
den Fahrer am besten, damit dieser die
eingekaufte Mähdrescherleistung auf
dem Feld umsetzen kann; wer hilft ihm
Leistung, Verluste und Qualität im ökonomischen Optimum zu halten; wer
bietet dem Fahrer Bequemlichkeit und
multimediales Entertainment, damit die
Kabine zum angenehmen Arbeits- und
Lebensraum wird.
Fotos: Dominic Schindler Creations GmbH
Mähdrescher wird zum
Dirigenten auf dem Kornfeld
Die Lexion-Baureihe vereint alles, was die Familienfirma an Maschinen-Know-how zu
bieten hat.
se brachten, beantwortete Claas 1981 mit
dem „Dominator CS“, einer Maschine mit
Zylinder-System. Hinter der Dreschtrommel
waren acht Abscheidezylinder und darunter
Abscheidekörbe angebracht.
Zukunft bestimmt Farming 4.0
Mit der „Mega“-Baureihe führte der Konzern 1993 das Accelerated Pre-Separation
(APS)-System ein. Es brachte bis zu 30 Prozent
mehr Leistung als andere Lösungen. 1995
ging das heutige Flaggschiff der Mähdrescher
an den Start. Der erste „Lexion“ kam auf den
Markt. Er kombinierte das APS-System des
Mega mit zwei Axial-Rotoren und machte
den Lexion 480 zum ersten Hybrid-Mähdrescher von Claas. Das heutige Topmodell der
Lexion-Baureihen, der Lexion 780 Terra Trac,
vereint alles, was das Familienunternehmen
in seiner Firmengeschichte bisher an Mähdrescher-Know-how erarbeitet hat.
Die Zukunft der Landtechnik wurde bei
Claas längst eingeläutet. Schon vor Jahren
begann das Unternehmen, den gesamten
Ernteprozess mit unterschiedlichen Maschinen durch elektronische Steuerungs-, Überwachungs- und Informationssysteme zu
lenken. Unter dem Namen EASY (Efficient
Agricultural Systems) bündelt der Konzern
seine Elektronikkompetenz – von der Maschineneinstellung über Lenksysteme bis hin zu
Softwarelösungen für verschiedene Bereiche
und Anwendungen.
Und die Entwicklungen gehen weiter. Neben
Systemen, die immer mehr Intelligenz in die
einzelne Maschine bringen und dem Landwirt
und Lohnunternehmer die Arbeit erleichtern
sowie seine Arbeitsleistung erhöhen, ist Vernetzung ein wichtiges Zukunftsthema; Stichwort „Industrie 4.0“. Durch die Kommunikation der Maschinen untereinander und durch
die selbsttätige Steuerung ganzer Prozesse
– zum Beispiel in der Getreideernte – können die Arbeitsergebnisse künftig weiter
gesteigert werden. Die Digitalisierung wird
dabei bewusst auch in Richtung komplette
az
Betriebssteuerung weitergedacht.
Finanzierung 29
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Porträt: Dr. Gerd Wesselmann
Ein Unikat
„So sind sie eben manchmal – die
Landwirte. Aber genau deswegen mag
ich sie auch so sehr.“
In diesem Jahr geht der WGZ-Berater in Rente.
Aber aufhören will er deshalb noch lange nicht. Ein Porträt
über den bekanntesten Agrarbanker der Republik
Obwohl, erzählt der 65-Jährige heute
im Gespräch mit der agrarzeitung (az),
er den Kredit unter bestimmten Voraussetzungen durchaus auch gern genehmigt hätte. Doch brachte der Landwirt
erst einmal sein Unverständnis zum
Ausdruck.
Soviel ist klar: Der klassische Banker ist
er schon mal nicht. Und das will er auch
gar nicht sein. Mit der cognacfarbenen
Lederjacke mit den großen Trachtenknöpfen und seiner Sturheit will Wesselmann vielmehr eins: zeigen, dass
er Landwirt ist. Nur eben als Agrarkundenberater in der WGZ Bank statt auf
dem Feld.
In der WGZ Bank, seit 1884 Zentralbank
der Genossenschaftsbanken im Rheinland und in Westfalen, ist der 65-Jährige
ebenso ein Unikat wie in der gesamten
Agrarfinanzbranche. „Ah, der Wesselmann!”, heißt es, egal ob man nach dem
65-Jährigen in Frankfurt, Berlin oder
sonst irgendwo in der Bundesrepublik
fragt. Direkter ist er, als man es Bankern
allgemein zugesteht, ehrlich, manchmal
etwas aufbrausend. Aber eines hat er
dabei immer fest im Blick: das Interesse
des Landwirtes.
Als sein Vater überraschend mit nur 50
Jahren verstarb, musste Wesselmann
zurück nach Nordrhein-Westfalen, um
sich um den Hof zu kümmern – zu der
Zeit nur noch ein reiner Ackerbaubetrieb. 1978 fing er zunächst bei einem
Pflanzenschutzunternehmen in Münster an. „Das hatte aber nicht wirklich viel
mit meiner Ausbildung und meinen Interessen zu tun”, erzählt Wesselmann. So
hat er sich keine vier Jahre später, 1982,
bei der WGZ Bank beworben – und ist
dort bis heute geblieben. Und genau dort
konnte er seine betriebs- und finanzwirtschaftlichen Kenntnisse und Erfahrungen voll einbringen sowie nicht zuletzt
immer wieder mit der Praxis im eigenen
Betrieb rückkoppeln.
Zu seinem Vorstand, an den er in seiner
beruflichen Karriere meist direkt berichtete, habe er oft gesagt: „Zuerst der Landwirt – dann die Bank.” Das sollte heißen,
erzählt Wesselmann, dass die Bank mit
ihren Agrarfinanzierungen den Investitionen der Agrarunternehmer folgen
sollte – und nicht vorangehen. Demnach
hat Wesselmann, der bei der WGZ Volksbanken dabei unterstützt, Agrarkunden
zu beraten und zu finanzieren, seine Vertriebsziele in erster Linie auf der Grundlage einer möglichst optimalen Beratung
verfolgt, wie er selbst sagt. „Stets habe ich
sowohl die Investitionsziele der Landwirte unter Finanzierungsaspekten als auch
meine bankspezifischen Ziele immer
sehr deutlich mit den Kunden besprochen”, sagt der Vater von zwei Söhnen.
Dabei habe er eine weitere wichtige
Regel immer beachtet: „Letztlich entscheidet der Landwirt als Kunde und
nicht der Berater”, sagt Wesselmann, der
selbst auf einem landwirtschaftlichen
Betrieb groß geworden ist.
Westlich von Osnabrück, im Tecklenburger Land, ist Wesselmann als eines
von zwei Kindern auf dem elterlichen
Viele Banken haben
Agrarkunden im Visier
Bei der DZ Bank kümmert sich ein Landwirtschaftsteam von acht Mitarbeitern
in Frankfurt, Stuttgart, München, Dresden, Hamburg, Oldenburg und Berlin um
die Belange landwirtschaftlicher Kunden und unterstützt Volksbanken bei der
Risikosteuerung, wenn Kunden nicht genügend Sicherheiten stellen können.
Die DZ Bank übernimmt Ausfallbürgschaften ab 100 000 Euro, stellt Konsortial- und Direktkredite ab 1 Million Euro. Außerdem betreut das Institut mit Sitz in Frankfurt am Main
Landwirtschaftskunden bei Fusionen und Übernahmen und berät bei Stallbau, Technik und
Landkauf.
Die Nord/LB hat eine mehr als 175 Jahre lange Tradition im Agrargeschäft und ist in dem
Bereich mittlerweile mit einer Bilanzsumme von 2,5 Milliarden Euro aktiv. 85 Mitarbeiter
arbeiten dort für das Geschäftsfeld Agrar-Banking. Das Institut stellt Investitionsfinanzierung etwa für Baumaßnahmen, Flächenkäufe und Betriebsübernahmen ebenso wie Betriebsmittelkredite zur Verfügung. Auch die Finanzierung von regenerativen Energien und AgrarClearing für Getreide, Raps, Milchprodukte, Schweine, Ferkel und Kartoffeln am Terminmarkt
bietet die Nord/LB mit Hauptsitz in Hannover an. Landwirte können dort auch Produkte zur
Zinssicherung, Bürgschaften und strukturierte Finanzierungen erhalten.
Bei der Bremer Landesbank kümmert sich ein 15-köpfiges Spezialistenteam in Oldenburg um die Betreuung von Betrieben und Unternehmen entlang der gesamten ernährungswirtschaftlichen Wertschöpfungskette. Den Fokus hat die Bank, die vielleicht bald unter das
Dach der Nord/LB schlüpfen muss, auf größere, unternehmerisch geführte Wachstumsbetriebe im Nordwesten gelegt, die im Direktgeschäft oder als Konsortialpartner der Verbundsparkassen begleitet werden. Die Bremer Landesbank bietet Landwirtschaftskunden aktives
Risikomanagement durch Preisabsicherung zum Beispiel für Getreide oder Milch über das
eigene Handelszentrum an.
Bei der BayernLB-Tochter DKB kümmern sich mehr als 100 der insgesamt 3100 Berater
um die Kundengruppe Landwirtschaft und Ernährung. Kunden werden von Spezialteams
aus Bankberatern und Diplom-Agraringenieuren beraten und können bei der DKB Ställe,
Flächenkäufe, Maschinen, Betriebsmittel, Produktionsanlagen und erneuerbare Energien
finanzieren. Darüber hinaus begleitet die Bank Landwirte bei Käufen und Verkäufen und
bietet einen regionalen Betriebsvergleich an.
Die akf Bank , eine Tochter des Staubsaugerherstellers Vorwerk und der zum Oetker-Konzern gehörenden Privatbank Lampe, hat zwölf Mitarbeiter im Agrar-Außendienst. Sie arbeitet
mit 700 Landtechnikhändlern in Deutschland zusammen und hat Agrarstandorte in Berlin,
Mittweida und Wuppertal sowie Tochtergesellschaften für den Vertrieb in Spanien und Polen.
Die akf ist auf die Finanzierung von gebrauchten und Vorführmaschinen spezialisiert, bietet
Leasing, Mietkauf und Nutzungsverträge an.
sp
Foto: AW
E
he er sich versehen konnte,
machte es auch schon „Klatsch”.
Die Ohrfeige saß, und Dr. Gerd
Wesselmann fehlten erst mal die
Worte. Was, nebenbei bemerkt,
wirklich selten vorkommt. Ein Landwirt,
den er in seiner Funktion als Banker bei
der WGZ Bank beriet, hatte ihm kurzum
eine geklebt. Er wollte einen Kredit, Wesselmann lehnte ab.
Betrieb aufgewachsen: Zugpferde, Mastschweine, Bullen, Milchkühe und circa
130 Hektar Land. Weil ihm aber schnell
klar war, dass er zwar gern Ackerbau
betreibt, sich aber vor allem über Gebühr
für Zahlen interessiert, begann er 1969
in Gießen Landwirtschaft zu studieren.
Sein Steckenpferd: Buchführung in der
Landwirtschaft, EDV-Systeme, Rechnungswesen, Kostenrechnungen und
Betriebswirtschaft. Darüber hat er auch
seine Doktorarbeit geschrieben.
Und was kommt nach der Rente, nun, wo
der einst elterliche Betrieb längst vom
ältesten Sohn geführt wird? Vorträge
über Beratung, Unternehmensführung,
Finanzierung und Generationenwechsel
im Agrarbereich, landwirtschaftlicher
Gutachter und Unternehmensberater
sowie durchaus noch viel Engagement
im Ausland, zum Beispiel über die
Deutsche Gesellschaft für Internationale
Zusammenarbeit (GIZ). Langweilig wird
Wesselmann, der genau in dem Jahr in
Rente geht, wenn WGZ und DZ Bank fusionieren, also sicher nicht.
Und wenn er sich heute an die Ohrfeige
von damals zurückerinnert, so war sie
vielleicht auch nicht ganz unbegründet.
„Wenn ich jemanden so reize, habe ich
mich eventuell auch nicht ganz korrekt
verhalten”, gesteht Wesselmann. „So
sind sie eben manchmal – die Landwirte.
Aber genau deswegen mag ich sie auch so
sehr.” Und ein wenig später wurde dann
der Kredit doch noch gewährt, unter
beidseitig akzeptablen Voraussetzungen und in engem Zusammenspiel mit
der örtlichen Genossenschaftsbank. sp
Aus zwei wird eins
Es ist der größte Zusammenschluss von
Banken in Deutschland seit der Übernahme der Postbank durch die Deutsche Bank: Nach etlichen Versuchen
werden die genossenschaftlichen Spitzeninstitute DZ Bank und WGZ Bank
zusammengehen. Am 1. August wird
das neue Spitzeninstitut der rund 1 000
Genossenschaftsbanken in Deutschland unter dem Namen DZ Bank an den
Start gehen. Die Aktionäre der DZ Bank
werden daran 74,4 Prozent halten, die
Anteilseigner der WGZ Bank – die 182
Volks- und Raiffeisenbanken aus Nordrhein-Westfalen – 25,6 Prozent. Was
der Stellenabbau und die Umstrukturierung für die Betreuung der landwirtschaftlichen Kunden bedeutet, ist
derzeit noch nicht genau bekannt. Bei
der Vorstellung der Fusionspläne im
November 2015 hatte DZ-Bank-Chef
Wolfgang Kirsch, der auch das neue
Institut führen wird, aber gesagt: „Das
Agrargeschäft gehört zu unseren Wurzeln und wir werden diesen Bereich
eher noch ausbauen.“ Derzeit kümmert
sich bei der DZ Bank ein Team aus acht
Mitarbeitern in Frankfurt, Stuttgart,
München, Dresden, Hamburg, Oldenburg und Berlin um Landwirte. Die
WGZ hat einen Mitarbeiter für diesen
sp
Bereich abgestellt. 30 Finanzierung
Freitag, 29. Juli 2016
agrarzeitung
Die etwas andere Bank
Sie hat sich ihren traditionellen Charme bewahrt und ist gleichzeitig gefragt wie nie:
Die Landwirtschaftliche Rentenbank mit Sitz in Frankfurt am Main
I
m Haupthaus der Landwirtschaftlichen Rentenbank in der Frankfurter
Innenstadt ist die Zeit stehengeblieben. Zumindest ein bisschen.
Weiße Teppiche säumen die langen Flure und die dicken Flügeltüren
muten wie blaues Leder an. Fast wie in
einer der wenigen noch verbliebenen
kleinen und feinen familiengeführten
Privatbanken. Eines aber würde man
in einem solchen Haus sicher nicht im
Foyer finden: eine lebensgroße bunt
bemalte Kuh auf Rädern. Die steht aber
unübersehbar in der Eingangshalle der
Rentenbank.
Auch wenn das Haus auf den ersten
Blick zumindest ein wenig wie aus einer
anderen Zeit wirkt, ist es in diesen Zeiten
bei landwirtschaftlichen Betrieben als
Förderbank enorm gefragt – und noch
dazu sehr erfolgreich. „Mit Programmkrediten über 7,8 Milliarden Euro haben
wir beim Neugeschäft 2015 einen Förderrekord erreicht”, erklärt Dr. Horst
Reinhardt, der der Bank als Sprecher in
einem dreiköpfigen Führungsgremium
seit 2013 vorsteht, im Gespräch mit der
agrarzeitung (az).
Jahre mit einer Zinsbindung bis zehn Jahre bei effektiv 1,00 Prozent (Stand: 6. Juli).
Warum das so ist? „Wir können uns
als Anstalt des öffentlichen Rechts mit
Garantie der Bundesrepublik Deutschland viel günstiger refinanzieren als
normale Geschäftsbanken”, erklärt Reinhardt. „Und unsere Attraktivität liegt
nicht nur im Zinssatz”, so der Vorstandssprecher weiter. Die Rentenbank könne
das Institut durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
(BMEL) aus, das seine Entscheidungen
im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen (BMF) trifft. Der
Gewinn der Rentenbank wird erneut für
Förderzwecke eingesetzt. Und wenn die
Zinsen weiter sinken, erwägt die Rentenbank sogar, den Hausbanken Geld
dafür zu zahlen, dass sie die Förderkredite an Landwirte weiterreicht.
sp
DieFörderprogramme
Förderprogramme der Rentenbank
Die
der Rentenbank
Landwirtschaft
Landwirtschaft
Foto: Rentenbank
Foto: Rentenbank
Porträt: Dr. Horst Reinhardt
Bei der Rentenbank ist vieles anders
als bei anderen Banken. Die Bundesregierung übt die Rechtsaufsicht über
„Wir können uns als Anstalt des öffentlichen
Rechts mit Garantie der Bundesrepublik
Deutschland viel günstiger refinanzieren als
normale Geschäftsbanken.“
Und auch dieses Jahr gibt es wieder eine
immense Nachfrage. Kein Wunder, leiden doch vor allem die Milchvieh- und
Veredelungsbetriebe unter den dauerhaft niedrigen Preisen und müssen ihre
Betriebe mit zusätzlicher Liquidität am
Laufen halten. Dabei, erklärt Reinhardt,
ist die Stimmung laut einer regelmäßigen
Befragung unter 800 Landwirten auch
derzeit fast so schlecht wie 2009.
„Was aber exponentiell ansteigt, ist die
Zahl der angefragten Tilgungsaussetzungen und -streckungen”, so Reinhardt. Anfang Juli 2015 hat die Rentenbank das Liquiditätsprogramm für
in Not geratene landwirtschaftliche
Betriebe geöffnet. Im Oktober wurde es
auf den Veredelungssektor und auf von
Trockenheit geplagte Ackerbaubetriebe
ausgedehnt. Und laut Reinhardt wird die
Bank das Programm auch dieses Jahr
noch weiter offenhalten.
sich auch über lange Laufzeiten hinweg
zu deutlich günstigeren Konditionen refinanzieren als normale Hausbanken - was
sich auf die Konditionen niederschlägt.
Die Konditionen, die das Institut, dessen
Förderkredite ausschließlich über die
Hausbanken der Landwirte vermittelt
werden, anbietet, sind selbst in Zeiten
historisch niedriger Zinsen meist noch
besser als auf dem normalen Bankenmarkt. In der günstigsten Preisklasse liegt
der Top-Zins jetzt für Laufzeiten bis 30
Aquakultur
Aquakultur und
und FischFischwirtschaft
wirtschaft
Agrar-und
und
AgrarErnährungsErnährungswirtschaft
wirtschaft
Erneuerbare
Erneuerbare
Energien
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Ländliche
Ländliche
Entwicklung
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Energie
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Leben
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Wachstum
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Wettbewerb
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Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeit
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Nachhaltigkeit
Umweltund
Umweltund
VerbraucherVerbraucherschutz
schutz
ProduktionsProduktionssicherung
sicherung
Betriebsmittel
Betriebsmittel
Betriebsmittel
Betriebsmittel
LiquiditätsLiquiditätssicherung
sicherung
Innovationen
Innovationen
Scheut
das Risiko
Historie
Sicherheit steht für den Vorstandssprecher der
Landwirtschaftlichen Rentenbank an erster Stelle.
Innerhalb weniger Wochen erwarb sich die
neue Währung das Vertrauen der Bevölkerung und der Wirtschaft, obwohl aus
heutiger Perspektive die Art und Weise der
Währungssanierung in mehrfacher Hinsicht
ungewöhnlich war. Die Rentenmark war
kein gesetzliches Zahlungsmittel, sondern
lediglich ein rein privates, gesetzlich zugelassenes Geld. Ausschlaggebend für den
Erfolg der Währungssanierung war letztlich
jedoch die systematische Verknappung des
Geldumlaufs.
Zur Erklärung: Die Staatsbank IKB war
damals, im Sommer 2007, in eine existenzbedrohende Schieflage geraten,
weil sie sich mit US-Ramschhypotheken verspekuliert hatte. Nur durch milliardenschwere Rettungsaktionen der
Hauptaktionärin KfW, des Bundes und
anderer Banken konnte das Institut
gerettet werden.
„Auch wir hatten immer wieder Angebote für strukturierte Produkte auf den
Tisch bekommen”, weiß der promovierte Volkswirt noch gut. Doch für Reinhardt sei das nie infrage gekommen.
„Wir hatten zwar ein Engagement in
Derivaten der seinerzeit insolventen
US-Investmentbank Lehman Brothers”,
so Reinhardt. Das sei aber vollständig
gesichert gewesen, Verluste seien keine
entstanden.
Apropos Sicherheit: Die kommt für Reinhardt in seinem Metier immer an erster
Stelle. Heute sagt der 61-Jährige: „Es war
eine gute Erfahrung, so etwas mal durchgestanden zu haben.”
Die historischen Wurzeln der Landwirtschaftlichen Rentenbank reichen bis in die
1920er Jahre zurück. Die Deutsche Rentenbank wurde 1923 als Währungsbank zur
Bekämpfung der damaligen Hyperinflation
gegründet. Sie erhielt damals das Recht,
vorübergehend bis zur Höhe ihres Grundkapitals eine als „Rentenmark“ bezeichnete Parallelwährung in Umlauf zu bringen.
Der gelernte Bankkaufmann, der seine
Karriere bei der Commerzbank begann
und früh seinen Faible für Derivate und
das Treasury entdeckte – nichts anderes
als die Liquiditätssteuerung in Unternehmen – fühlt sich auch der Landwirtschaft
verbunden. In seiner Kindheit hatten
Verwandte in Holstein lange einen Hof
bewirtschaftet, die Ferien wurden meist
auf Höfen im Allgäu verbracht.
Die Rentenmark war von Anfang an als eine
Übergangslösung für eine neue Währung
auf Goldgrundlage geplant, für die wieder
die Reichsbank zuständig sein sollte. Nach
Abschluss der erfolgreichen Währungsstabilisierung und der Neuordnung der Reichsmark wurde deshalb bereits im August 1924
die Liquidierung des Umlaufs an Rentenbankscheinen eingeleitet.
S
päter dann studierte Reinhardt an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in
Bonn Volkswirtschaftslehre
und wurde dort auch im Jahr
1987 nach Studienstationen in den USA
promoviert. Im selben Jahr kehrte Reinhardt dann auch wieder zur Commerzbank zurück und blieb dort knapp zehn
Jahre – bis er schließlich 1996 zur Landwirtschaftlichen Rentenbank wechselte. Auch dort ist er neben den Bereichen
Recht und Personal, dem Fördergeschäft
sowie der Öffentlichkeitsarbeit immer
noch für das Treasury zuständig.
Mit seinem Faible für die Liquiditätssteuerung wird für Reinhardt – wenngleich
bei Banken in einem ganz anderen Kontext – auch gleich das Hauptproblem
vieler Agrarbetriebe in diesen Zeiten
zum beruflichen Lieblingsthema. Das
passt. Wie die Alliteration, mit der sich
Reinhardt immer vorstellt: „Reinhardt,
Rentenbank.”
sp
Betriebe in Schwierigkeiten
Foto: sp
A
ls Dr. Horst Reinhardt 2007
in den Vorstand der Landwirtschaftlichen Rentenbank berufen wurde, ging es
gleich zur Sache. Der gebürtige Frankfurter erinnert sich noch gut.
Am Finanzplatz gab es drei Buchstaben,
die in aller Munde waren: IKB.
Räumliche
Räumliche
StrukturmaßStrukturmaßnahmen
nahmen
Viele landwirtschaftliche Betriebe drohten
durch den Einzug von Rentenbankscheinen
in Schwierigkeiten zu geraten, da sie nicht
wie die gewerblichen Betriebe in der Lage
waren, ihre aus Rentenbankmitteln stammenden Betriebskredite innerhalb der im Gesetz
geregelten Dreijahresfrist zurückzuzahlen.
Um drohende finanzielle Zusammenbrüche
in der Landwirtschaft zu vermeiden, wurde
im August 1925 die Deutsche RentenbankKreditanstalt (RKA) als landwirtschaftliche
Zentralbank gegründet mit der Aufgabe, die
kurzfristigen Kredite an die Landwirtschaft
zunächst zu verlängern und darüber hinaus
dringend benötigte langfristige Kredite zur
Verfügung zu stellen. Bei der Namensgebung
der Landwirtschaftlichen Rentenbank im
Jahr 1949 wurde diesem Sachverhalt durch
Beibehaltung des Namensbestandteils „Rentenbank“ Rechnung getragen.
Bis 1972 standen staatliche Förderprogramme im Mittelpunkt des Kreditgeschäfts der
Landwirtschaftlichen Rentenbank. Von diesem Zeitpunkt an ging die Förderung der
Landwirtschaft aus der Kompetenz der Bundesregierung in die Verantwortung der Bundesländer über. Die Länder beanspruchten
nun, die Kreditförderung und Zinsverbilligung
in eigener Regie durchzuführen und beauftragten Landesbanken und landeseigene Förderinstitute mit dieser Aufgabe. Lediglich die
Bundesländer Rheinland-Pfalz, Hamburg und
Hessen bedienten sich zunächst weiter der
Rentenbank. Auch die Verwaltung der bisher
für die Förderung von Aussiedlungen, baulichen Maßnahmen in Altgehöften und Aufstockungen gewährten Darlehen von rund
2 Milliarden DM blieb bei der Rentenbank.
Geschäftspolitische Zäsur
Das Jahr 1973 stellte in mehrfacher Hinsicht eine geschäftspolitische Zäsur für die
Rentenbank dar. Sie verlor ihr damaliges
Hauptaufgabengebiet, als zentrale Bewilligungsstelle die Fördermittel des Bundes
für die Landwirtschaft zu verteilen. Da diese
Tätigkeit bis zu diesem Zeitpunkt auch im
Mittelpunkt ihrer Fördertätigkeit gestanden
hatte, musste von nun an der Förderauftrag
des Instituts auf andere Art und Weise ausgefüllt werden. Öffentliche Mittel standen
hierfür nun nicht mehr zur Verfügung.
Zudem konnte sich die Rentenbank auch bei
der Refinanzierung ihres Kreditgeschäfts
nicht mehr auf öffentliche Mittel stützen,
sondern war allein auf Kapitalmarktmittel
angewiesen. Zwar hatte sie sich auch schon
vor 1973 durch Emission von festverzinslichen Wertpapieren am Kapitalmarkt refinanziert und in allerdings bescheidenem
Umfang Kreditgeschäft mit anderen Banken
betrieben, in den 1970er und 1980er Jahren
wurde das allgemeine Fördergeschäft für die
Landwirtschaft und den ländlichen Raum
und die Refinanzierung aus Kapitalmarktmitteln jedoch erheblich ausgebaut.
sp