PDF-Download - Katholische Kirche beim hr

Dr. Frank Meessen, hr 4 Übrigens, Freitag, 22. Juli 2016
„Barmherzigkeit“
Ende 2015 hat der Papst ein sogenanntes „Jahr der Barmherzigkeit“ ausgerufen. Der
Begriff „Barmherzigkeit“ ist ein klassischer Begriff innerhalb der Kirche und schon
2000 Jahre alt. Außerhalb der Kirche kommt er in der heutigen Alltagssprache kaum
noch vor. Ich tue mir etwas schwer damit, weil für mich da immer auch etwas
Herablassendes mitschwingt.
Vor kurzem hatte ich Gelegenheit, in unserer Heppenheimer Fußgängerzone darüber
mit Zeitgenossen ins Gespräch zu kommen. „Was können Sie mit diesem Wort heute
anfangen?“ wollte ich wissen. „Barmherzigkeit? Das gibt es heut nicht mehr!“ hat ein
älterer Herr geantwortet. Und dann hat er mir von seinem Beruf erzählt. Und wie
seine Abteilung verlegt wurde und er nur die Wahl hatte, mitzugehen oder
auszusteigen mit Ende fünfzig. Ein anderer störte sich daran, dass „Barmherzigkeit“
oft so aussieht wie von oben herab. Ja, dachte ich, das geht mir ähnlich. – Und dann
kam einer, der mich auf Anhieb überzeugte. Mit „Barmherzigkeit“ sei doch eigentlich
nichts anderes gemeint als „einen Blick haben für den Menschen“.
Das hat mir gefallen: einen Blick haben für den Menschen. Für den Menschen hinter
seiner Fassade. Der Fassade seiner Erfolge, aber auch seiner Verletzungen oder
seiner Alltagsroutine. Und was da zum Vorschein kommt, ist der unverstellte,
mitunter auch zerbrechliche Mensch mit seinen Hoffnungen, Wünschen und
Sehnsüchten. Bei näherem Betrachten sind mir dann zwei Dinge aufgefallen: Dieser
Mensch hinter seiner Fassade, der der „Barmherzigkeit“ bedürftig ist, das ist nicht
immer nur der andere. Das bin ich auch selber. Und wenn ich das verstanden habe,
dann ist mein Blick auf den anderen nicht einer von oben und auch nicht einer von
unten. Dann begegnen wir uns auf Augenhöhe. „Barmherzigkeit“ so verstanden –
damit kann ich dann auch wieder was anfangen.